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       # taz.de -- Aromantik im Alltag: Niemals auf Wolke sieben
       
       > Herzklopfen und dummes Grinsen: Viele kennen es, verliebt zu sein. Für
       > Aromantische ist das Gefühl aber fremd, im Alltag haben sie mit Unwissen
       > zu kämpfen.
       
   IMG Bild: Aromantische Menschen können mit Liebeskummer durchaus etwas anfangen
       
       Ob Titanic, Stolz und Vorurteil oder I will Always love you – romantische
       Liebe fasziniert viele Menschen. Vielleicht deshalb, weil die meisten Leute
       die aufregenden Symptome kennen: das plötzliche Herzklopfen, das einsetzt,
       sobald der Schwarm den Raum betritt. Das Stottern, wenn man der Person
       nahekommt. Oder das Lächeln auf den Lippen, wenn eine neue Nachricht auf
       dem Handy aufploppt.
       
       Es gibt allerdings auch Menschen, [1][die nie oder nur selten
       Verliebtheitsgefühle entwickeln] und mit dem Verhalten frisch Verliebter
       nicht viel anfangen können – so wie Finn Pieber. Pieber ist 26 Jahre alt,
       studiert Kulturwissenschaften und Philosophie im Master, benutzt keine
       Pronomen und bezeichnet sich als aromantisch. „Küssen, vor allem Mund zu
       Mund, finde ich persönlich wirklich befremdlich“, gibt Pieber als Beispiel
       für frisch verliebtes Verhalten an. „Händchenhalten mag ich auch nicht so
       gern.“ Kuscheln oder Streicheln sei hingegen in Ordnung.
       
       Den Begriff der Liebe findet Pieber schwer zu greifen. „Es gibt halt keine
       klare Definition, die sagt, das ist jetzt ein romantisches, und das ein
       freundschaftliches Gefühl“, erklärt Pieber. „Und die kann es auch nicht
       geben, weil jede Person anders empfindet.“ Für Pieber sei Liebe eine
       Sammlung aus starken positiven Gefühlen Personen oder Lebewesen gegenüber,
       die sich auf ganz verschiedene Art und Weise ausdrücken kann. „Menschen
       sind nicht dafür geschaffen, in Kategorien zu passen, und das ist auch gut
       so“, betont Pieber. „Aber wir müssen trotzdem darüber reden und im Kopf
       behalten, dass es Graubereiche gibt. Mehr reden hilft, damit mehr Narrative
       zum Auswählen sichtbar werden.“
       
       Auch Cyril Leonard zählt sich zu den Menschen, die kein
       Verliebtsheitsgefühl entwickeln. Er ist 40 Jahre alt und arbeitet als
       Bibliothekar. „Ich habe etwas gespürt, das ich für Verliebtsein gehalten
       habe. Wenn ich im Nachhinein darüber nachdenke, denke ich aber, dass es
       eher etwas anderes war“, erklärt Leonard. Rückblickend sei dieses Gefühl
       eine platonische Anziehung gewesen, also der starke Wunsch nach einer
       Freundschaft.
       
       ## Plötzlich ergab alles Sinn
       
       Monoamoröse Beziehungen seien für Leonard stets befremdlich gewesen, und
       den hohen Stellenwert, den Liebesbeziehungen bei vielen Menschen hat, habe
       er nie nachempfinden können. „Das war bei mir nie so. Mit Anfang Mitte 20
       habe ich mich dann gefragt, ob ich asexuell sei, und mich auch lange so
       identifiziert.“ Der Begriff Asexualität, der Menschen beschreibt, die
       keinen oder wenig sexuelle Anziehung verspüren, habe nie zu hundert Prozent
       gepasst – einen anderen Ausdruck habe Leonard aber nicht gekannt. „Als ich
       dann irgendwann den Begriff Aromantik entdeckt habe, hat alles auf einmal
       Sinn ergeben. Dann dachte ich, ja, das ist es, wonach ich gesucht habe.“
       
       Und wie ist es gewesen, als in der Schule [2][der Gossip mit Schwärmereien
       anfing]? „Ich dachte, dass ich einfach ein bisschen spät in der Entwicklung
       sei“, erklärt Leonard und lacht. „Für jemanden schwärmen … Ich dachte
       immer, dass man das halt so sagt, aber dass es nichts ist, was irgendwie
       echt war.“ Um dazuzugehören, habe Leonard trotzdem angegeben, für diese und
       jene Person zu schwärmen – obwohl er die Person nie wirklich interessant
       fand.
       
       Die Aussagen sollten lediglich dazu dienen, als Teenager nicht
       ausgeschlossen zu werden. Dass der Begriff Aromantik nicht weit verbreitet
       ist, führt zu vielen Problemen. Bei Betroffenen kann er Selbstzweifel
       auslösen oder zu Konflikten bei Beziehungen mit anderen Menschen führen.
       Partner:innen fühlen sich missverstanden, wenn sie Zärtlichkeiten
       austauschen wollen und dann nicht die Zuneigung erhalten, die sie selbst
       geben. Leonard sieht das Problem vor allem darin, dass Aromantik die
       Abwesenheit eines bestimmten Zustands definiert. Wie beschreibt man einen
       Zustand, den man nicht empfindet? Daher sei es für Leonard sehr befreiend
       gewesen, die Erkenntnis zu haben, dass es andere Menschen gibt, die genauso
       waren wie er. Bis dahin habe er geglaubt, mit ihm sei etwas falsch und er
       selbst müsse sich ändern.
       
       Der Neurowissenschaftler Simon Eickhoff erklärt, dass bei verliebten
       Menschen ein „Überangebot an Hormonen“ vorhanden ist. Unter anderem werden
       im Gehirn von verliebten Menschen das Belohnungshormon Dopamin sowie
       Bindungshormon Oxytocin ausgeschüttet. Diese sorgen dafür, dass sich das
       Gehirn „in einem Ausnahmezustand“ befindet. Eickhoff erklärt, dass dieser
       Zustand auch einer Sucht nahekommt und ihn viele als berauschend empfinden.
       
       ## Es gibt viele Erwartungen
       
       Dass es Menschen gibt, die keine romantische Anziehung spüren, überrascht
       den Neurowissenschaftler nicht: „Wie empfänglich wir für Reize sind, nicht
       nur Liebe, sondern auch Trauer oder Furcht, ist eine Kombination aus
       Erfahrung und Genetik.“ Dafür seien Kindheit und die Jugend sehr prägend,
       doch der Mensch verändere sich auch stetig. „Die Prägbarkeit besteht weiter
       bis ins hohe Alter“, betont er. So sei es auch möglich, dass Menschen im
       späten Alter romantische Gefühle entwickeln – oder im Laufe des Lebens eine
       aromantische Neigung bekommen.
       
       Es gibt zudem auch Menschen innerhalb des aromantischen Spektrums, die sich
       als loveless bezeichnen – also jene, die mit [3][dem Konzept Liebe]
       überhaupt nichts anfangen können. Dazu zählen sich allerdings weder Pieber
       noch Leonard – sie verlieben sich nur nicht. Dass keine
       Verliebtheitsgefühle aufkommen, bedeutet übrigens nicht, dass Aromantische
       keine Beziehungen führen – im Gegenteil. Leonard führt zwei
       queerplatonische Beziehungen, die er „runtergebrochen als Freundschaft
       plus“ bezeichnet. Mit queerplatonischen Beziehungen sind Verhältnisse
       gemeint, die über eine Freund:innenschaft hinausgehen, aber nicht in die
       Norm einer sexuellen oder romantischen Beziehung eingeordnet werden.
       
       Die Beziehung wird von den Menschen, die das Verhältnis miteinander haben,
       selbst definiert – dazu zählt auch die Absprache über Häufigkeit und Stärke
       von Intimität, Sex und Exklusivität. Beide Personen, mit denen Leonard in
       einer Beziehung ist, sind aromantisch, er habe aber auch in der
       Vergangenheit eine queerplatonische Beziehung zu einer Person gehabt, die
       nicht aromantisch war.
       
       Leonard erklärt, dass nach seiner Wahrnehmung das Dating und [4][Romantik
       für viele Menschen] sehr viel Raum einnähmen und automatisch höhergestellt
       würden als andere Beziehungen. Die Gefühle werden auch dann, wenn die
       Beziehung noch gar nicht existiert, mit sehr viel Erwartungen verknüpft.
       Das verstehe er nicht, sagt er: „Wieso stecken Menschen so viel Energie
       rein und strukturieren ihr Leben um diese Beziehung, wenn gleichzeitig
       andere Beziehungen wie Freund:innenschaften diesen Stellenwert nicht
       haben?“ Nach seiner Wahrnehmung seien Freund:innenschaften sehr viel
       langlebiger und stabiler, doch sowohl bei einzelnen Menschen als auch in
       der Gesamtgesellschaft sehe er nicht dieselbe Anerkennung, die romantische
       Verhältnisse erhalten.
       
       ## Aromantische und Liebeskummer
       
       Seine beiden eigenen Beziehungen laufen gut, sagt Leonard. Den Schritt des
       Verliebtseins hat er in beiden Beziehungen übersprungen. „Die Liebe, die
       ich für Freunde oder Geschwister empfinde, kommt ja auch ohne Verliebtsein
       aus. Und es ist auch das, was ich unter Liebe fasse. Liebe hat immer einen
       Aspekt der Selbstlosigkeit. Wenn man besitzergreifend ist und den Menschen
       für sich haben möchte, ist das nicht Liebe.“
       
       Leonhard und Pieber plädieren für mehr Kommunikation – nicht nur in
       Beziehungen, sondern auch innerhalb der queeren Community. Das A [5][unter
       LGBTQIA] werde viel zu oft nur als Asexuell erfasst, bemängeln beide. Dabei
       kann das A auch für Agender stehen, also Menschen, die sich als
       geschlechtslos bezeichnen. Oder eben Aromantik. Daher wünscht sich Leonard
       auch in der queeren Community mehr Sensibilität. „Pride kann sehr
       amatonormativ sein“, kritisiert er. „Es ist stark auf romantische und
       gleichgeschlechtliche Liebe fokussiert. Beispiele sind Sprüche wie,Love is
       love'. Da denkst du, na ja, davon fühlen sich viele Aros nicht
       angesprochen.“
       
       Im Übrigen bedeutet fehlende Romantik nicht, dass Aromantische keinen
       Liebeskummer haben. „Wenn eine Freundschaft auseinandergeht, vermisst man
       den Menschen ja auch“, gibt Leonard als Vergleich an. „Natürlich ist es
       dann schade. Wenn man Zeit investiert hat in eine Person, wenn man wollte,
       dass es schön wird, sowohl für einen selbst, als auch für die andere
       Person. Und auf einmal hat man Sachen, die man jetzt wieder alleine machen
       muss.“
       
       Ansonsten gleicht der Alltag von Aromantischen denen der Verliebten: Sie
       essen, gehen ins Kino, fahren zur Arbeit, studieren oder gehen einer
       anderen Tätigkeit nach. Lediglich ihre Beziehungen, falls sie welche haben,
       basieren stärker auf Kommunikation und Absprache.
       
       14 Jul 2022
       
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