URI: 
       # taz.de -- Auf den Spuren der Epigenetik: Vererbte Traumata
       
       > Was ist das eigentlich genau, Epigenetik? Eine Begriffserklärung – und
       > ein Blick auf zwei wichtige Fallbeispiele.
       
   IMG Bild: Wie hängen die Gene eines Menschen mit seinen Eigenschaften zusammen?
       
       Schon Aristoteles sprach im 4. Jahrhundert v. Chr. von einer „Epigenese“.
       In seinem Werk „Die Entstehung der Tiere“ beobachtete der griechische
       Philosoph Hühnerembryos und stellte fest, dass diese nicht einfach nur
       Minilebewesen sind, deren Miniorgane immer größer und größer werden,
       sondern dass Embryos Organismen sind, die sich weiterentwickeln und mit der
       Zeit immer komplexer werden. Diesen Prozess nannte er Epigenese.
       
       Aufgegriffen wurde das erst wieder im 17. und 18. Jahrhundert von
       Jean-Baptiste de Lamarck. Er war einer der Ersten, die davon sprachen, dass
       sich Lebewesen an ihre Umwelt anpassen und diese Eigenschaften an
       nachfolgende Generationen weitergeben. Damit widersprach er dem berühmten
       Naturforscher Charles Darwin. Der betrachtete nur die Gene als darüber
       entscheidend, was an nachfolgende Generationen weitergegeben wird.
       
       In der Wissenschaft gewann die Epigenetik aber erst in den 1940er Jahren so
       richtig an Bedeutung. Der Genetiker Conrad Waddington war der Erste, der
       die Genetik und die Entwicklungstheorie zusammenbringen wollte. So
       verwendete er erstmals den Begriff der „Epigenetik“, zusammengesetzt aus
       „Epigenese“ und „Genetik“.
       
       Waddington wollte herausfinden, wie die Gene eines Menschen mit seinen
       Eigenschaften zusammenhängen. Auch er war seiner Zeit weit voraus: So
       stellte Waddington die Hypothese auf, dass sich bei der Entwicklung der
       Embryos verschiedene Gene einschalten. Das war für die damalige Zeit
       revolutionär, da die DNA noch gar nicht entdeckt war.
       
       In den 1960er Jahren entdeckte der französische Biologe Jacques Monod, dass
       die DNA Auslöser bestimmter biochemischer Prozesse ist und somit die
       Entwicklung einzelner Zellen steuert. Danach wurde es um die Erforschung
       der Epigenetik wieder etwas ruhig, auch weil der Fokus nun hauptsächlich
       auf der Genetik lag. Erst in den 80er Jahren gewann sie durch den
       Molekularbiologen Robin Holliday wieder an Bedeutung. Er konnte beweisen,
       dass die DNA nicht nur durch Änderungen ihres Codes mutiert, sondern auch
       durch die Übertragung von Eigenschaften.
       
       Die Begriffe „Genetik“ und „Epigenetik“ werden oft separat verwendet. Doch
       die beiden Wissenschaften sind nicht zu trennen: Das Genom braucht das
       Epigenom, und das Epigenom braucht das Genom.
       
       Ein bekanntes Beispiel für die Vererbung von epigenetischen Markierungen
       ist der Hungerwinter 1944/45 in den Niederlanden. Etwa 4,5 Millionen
       Menschen hatten damals zu wenig zu essen, auch viele schwangere Frauen. Die
       Mangelernährung führte bei ihnen dazu, dass sich ihre Gene, die für das
       Wachstum ihrer Kinder zuständig waren, änderten. Als die Kinder geboren
       waren, wuchsen sie deshalb kleiner heran und benötigten weniger Nahrung.
       Der Körper der Frauen hatte die Kinder also auf eine Welt vorbereitet, in
       der es wenig Essen gibt.
       
       Doch nach dem Krieg, als es an Nahrungsmitteln nicht mehr mangelte, aßen
       die Kinder reichlich. Da ihre Körper auf eine andere Ernährung eingestellt
       waren, litten sie deshalb vermehrt an Diabetes und Übergewicht. Und nicht
       nur sie selbst, sondern auch ihre Kinder, also die Enkelkinder der
       hungernden Frauen, hatten noch mit diesen Krankheiten zu kämpfen.
       
       Die Ernährung von schwangeren Frauen ist immer wieder Thema in der
       Epigenetik. Feministische Wissenschaftler:innen kritisieren, dass das
       Frauen unter Druck setze und ihr Körper mehr und mehr fremdbestimmt werde.
       Auch sehen Sozialwissenschaftler:innen die Gefahr der
       Stigmatisierung benachteiligter Gruppen, die nicht dem allgemeinen Bild der
       perfekten, gesunden Familie entsprechen.
       
       ## Die Spuren des Holocaust
       
       Dass Traumata vererbt werden können, belegen nicht nur viele Studien an
       Mäusen, sondern auch an Menschen. So analysierte etwa das Forschungsteam
       von Rachel Yehuda, Professorin am Mount Sinai Hospital in New York, die
       Gene von 32 jüdischen Personen und deren Kindern. Die Teilnehmer:innen
       hatten während des Zweiten Weltkriegs schwere Traumata erlebt. Sie waren
       entweder in einem Konzentrationslager gefangen, wurden gefoltert oder
       mussten sich verstecken.
       
       Bei der Analyse der Gene fokussierte sich das Forscherteam auf die
       epigenetischen Veränderungen eines bestimmten Gens – des Gens FKBP5. Dieses
       ist für das Stresshormonsystem im Körper verantwortlich und wird oft als
       „Schlüsselgen“ für Depressionen gesehen. Das Forschungsteam konnte bei den
       jüdischen Personen epigenetische Veränderungen des Gens FKBP5 feststellen.
       
       Um sicherzugehen, dass es der Holocaust war, der das „Stressgen“ verändert
       hatte, wurden die Daten der Teilnehmer:innen mit jüdischen Familien
       abgeglichen, die sich während des Holocaust außerhalb von Europa befanden.
       Bei den Kindern der traumatisierten jüdischen Teilnehmer:innen sah man
       ähnliche epigenetische Veränderungen des Stressgens. Die Studie gilt als
       Beweis dafür, dass Traumata vererbt werden können.
       
       Doch die Ergebnisse sind umstritten: So kritisierten Wissenschaftler:innen,
       dass die Zahl der Studienteilnehmer:innen zu klein sei, um Schlüsse
       aus den Ergebnissen zu ziehen. Andere Wissenschaftler:innen sind
       skeptisch, dass die epigenetischen Veränderungen wirklich auf die Vererbung
       durch die Eltern zurückzuführen sind.
       
       22 Jan 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sabina Zollner
       
       ## TAGS
       
   DIR Epigenetik
   DIR Genetik
   DIR Holocaust
   DIR Übergewicht
   DIR Krieg
   DIR IG
   DIR Kolumne Subtext
   DIR Genetik
   DIR Magersucht
   DIR Raumfahrt
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Psychische Traumata und PTBS: Dem Trauma auf der Spur
       
       In Afrika sind durch Kriege und Konflikte ganze Gesellschaften
       traumatisiert. Doch es haben sich Wege zur Heilung gefunden.
       
   DIR Film-Highlight des Jahres: Alles, überall, auf einmal
       
       „Everything Everywhere All At Once“ thematisiert intergenerationales
       Trauma. Es geht um Blockaden des gemeinsamen Sprechens.
       
   DIR Forscherin über Epigenetik: „Unser Umfeld ist entscheidend“
       
       Ernährung, Stress, soziales Engagement: All das beeinflusst nicht nur uns,
       sondern im Zweifel auch unsere Kinder und Enkel, sagt Isabelle Mansuy.
       
   DIR Mediziner über Auslöser der Anorexie: „Eine sehr komplexe Erkrankung“
       
       Studien zeigen, dass Magersucht zum Teil genetisch bedingt ist. Dieses
       Wissen könne helfen, die Krankheit zu entstigmatisieren, sagt Stephan
       Zipfel.
       
   DIR Molekularbiologie über Epigenetik im All: Die Gene des Kosmonauten
       
       Nach einem Jahr im All haben sich die Gene des US-Astronauten Scott Kelly
       verändert, meldet die NASA. Dirk Schübeler erklärt warum.