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       # taz.de -- Auftakt zur Leipziger Buchmesse: Wortmacht, Geplänkel und Geschrei
       
       > Am Mittwoch begann die Leipziger Buchmesse mit der Preisverleihung an den
       > Philosophen Omri Boehm. Auch mit dabei: unsägliche Störer.
       
   IMG Bild: Omri Boehm freut sich am Mittwoch über die Blumen
       
       Man hätte ja gerne etwas gehört von den einleitenden Worten, die
       Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Mittwochabend im Leipziger Gewandhaus
       spricht. Scholz redet – ausgerechnet – über das „Lesen als Zulassen“
       anderer Sichtweisen, über Literatur als Schlüssel zum
       Weltgeschehen-Verstehen. Eine eher gute Scholz-Rede.
       
       Doch seine Worte gehen unter in Geschrei von Einzelnen aus dem Publikum,
       die überwiegend Unverständliches brüllen, es sind Sätze zu vernehmen wie:
       „Es ist keine humanitäre Katastrophe, es ist ein Genozid.“ Es geht,
       natürlich, um die Israelpolitik der Bundesregierung. Und die
       propalästinensischen Aktivist*innen demonstrieren (sic), [1][was sie
       von Dialog halten: nichts. Minutenlang brüllen sie, dann werden sie des
       Saals verwiesen.] „Uns alle führt hier in Leipzig die Macht des Wortes
       zusammen – nicht die des Geschreis“, sagt Scholz und erhält viel Applaus.
       
       Es ist der Eröffnungsabend der Leipziger Buchmesse, geehrt werden soll –
       wieder: ausgerechnet – [2][der durch und durch versöhnliche
       israelisch-deutsche Philosoph Omri Boehm]. Boehm schwebt die Vision eines
       binationalen israelischen Staates vor, deren realpolitischen Gehalt man
       nach dem 7. Oktober mit guten Gründen bezweifeln kann. Ausgezeichnet wird
       er aber für sein Werk „Radikaler Universalismus“.
       
       ## Was ist Aufklärung?
       
       Darin bringt er universalistische Werte der kantianischen Aufklärung gegen
       die zwangsläufig partikulare Identitätspolitik in Stellung. Durch die
       Neudeutung dreier historischer Texte – der amerikanischen
       Unabhängigkeitserklärung, [3][Immanuel Kants „Was ist Aufklärung?“] und der
       biblischen Geschichte Abrahams und Isaaks – begründet er allgemeingültige
       menschliche Gesetze und Pflichten, die über (staatlichen, juristischen)
       Gesetzen stünden.
       
       Die Laudatio für Boehm hält die französisch-israelische Soziologin Eva
       Illouz, die einen entscheidenden Satz aus dem Werk zitiert: „Universelle
       Normen beziehen sich auf Menschen, gehen aber über jede menschliche
       Autorität hinaus.“
       
       Die Laudatio und Boehms Dankesrede zählen zu den besseren Momenten des
       Abends. Boehm sagt in Richtung der Demonstrant*innen, sie hätten „einen
       schrecklichen Fehler“ begangen, indem sie einen Redner niederbrüllten, in
       seinem Buch stelle er ein gegenteiliges Diskursmodell vor. Zuhören aber
       solle man ihnen dennoch.
       
       ## Moralischer Bankrott
       
       Auch über das Leid des Kriegs auf beiden Seiten spricht er abwägend: „Wir
       schauen auf die Kibbuzim an der Grenze zu Gaza am 7. Oktober […] und
       erleben dann den moralischen Bankrott jener angeblichen Radikalen, die dies
       ‚bewaffneten Widerstand‘ nennen. Wir schauen auf die Zerstörung des
       Gazastreifens – […] und erleben dann, wie angebliche liberale Theoretiker
       eine humanitäre Waffenruhe im Namen der ‚Selbstverteidigung‘ monatelang
       delegitimieren.“
       
       Boehm redet auch über israelisch-palästinensische Freundschaften. „Von
       Freundschaft zwischen Israelis und Palästinensern zu sprechen erscheint für
       einen Augenblick mehr als naiv oder ‚utopisch‘ – es erscheint fast
       grotesk“, erklärt er an einer Stelle. Um dann zu sagen, dass es genau diese
       nun brauche, um sich von Fanatikern auf beiden Seiten loszusagen.
       
       Man kann zwar vielen dieser aussöhnenden Sätze zustimmen – dass sich die
       Worte aber in Realität umsetzen lassen angesichts dessen, was die Hamas am
       7. Oktober ausgelöst hat, erscheint illusionär.
       
       ## Flache Fragen
       
       Der Eröffnungsabend in Leipzig gerät zum Teil aber auch zu peinlichem
       Geplänkel. Als Vertreter der Gastländer Flandern und Niederlande sind der
       niederländische Ministerpräsident Mark Rutte und der flämische
       Ministerpräsident Jan Jambon geladen, auch Sachsens Ministerpräsident
       Michael Kretschmer (CDU) ist da.
       
       Von Moderatorin Marwa Eldessouky bekommen sie jedoch nur flache Fragen
       gestellt (entgegen dem Gastlandmotto „Alles außer flach“). Als Rutte von
       Thomas Manns „Zauberberg“ schwärmt, weiß Eldessouky anscheinend nicht,
       wovon er spricht („Insomniac“ oder „Zombieberg“, fragt sie nach). Sie wirkt
       ohnehin überfordert an diesem Abend.
       
       Nachdem das Geschrei aufhört, darf der Bundeskanzler noch sprechen vom
       Lesen „als täglich praktizierte Bereitschaft, seine eigene Blase zu
       verlassen, sich an die Stelle des anderen zu bewegen“. Auf eine solche
       Bereitschaft freut man sich in den Tagen der Buchmesse.
       
       21 Mar 2024
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Uthoff
       
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