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       # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Mit uns wird's nur langsam schlimmer
       
       > Braucht es die SPD noch? Die fetten Jahre sind vorbei, doch die Partei
       > bietet statt Lösungen nur ein widersprüchliches Gemischtwarenangebot.
       
   IMG Bild: Zum inbrünstigen Singen von Arbeiterliedern reichte es noch (Archivbild 2008)
       
       „Wollen wir das Grundsatzprogramm an den objektiven Tatbeständen, an den
       wirklichen sachlichen Erfordernissen ausrichten … oder wollen wir uns damit
       begnügen, nur das zu fordern und zu verlangen, was nun einmal, wie die
       Dinge liegen, in den nächsten ein, zwei, drei Jahren Aussicht hat, bei der
       Wahl einen guten Effekt zu erzielen?“ Peter von Oertzen auf dem Godesberger
       Parteitag 1959
       
       Drei Monate sozialdemokratischer Selbstfindung im Zeitraffer: Sigmar
       Gabriel warnt vor einem linken Gerechtigkeitsdiskurs, Martin Schulz fordert
       mehr Antikapitalismus, Olaf Scholz mehr Realismus, Schulz will in die
       Opposition, Scholz will Neuwahlen. Der Vorsitzende fordert die Urwahl der
       Parteispitzen, der Generalsekretär warnt vor zu viel Basis. Andrea Nahles
       kritisiert die Sehnsucht nach der Nische, Michael Naumann empfiehlt der
       Partei „das Plumeau der großen Koalition“, Matthias Miersch erfindet die
       Kooperationskoalition, Gabriel dekonstruiert postmoderne Verirrungen und
       plädiert für Heimatgefühl, Scholz gibt zu Protokoll, dass man mit einem
       Mindestlohnversprechen von 12 Euro die Wahl hätte gewinnen können, und ist
       immer noch für Neuwahlen.
       
       Seit ein paar Wochen hört man aus den Vorstandsetagen „Erst das Land, dann
       die Partei“, und die Strategen versuchen herauszufinden, ob
       Bürgerversicherung, weniger Bildungsföderalismus, Familiennachzug und ein
       wenig Reichensteuer die SPD wieder in Richtung 30 Prozent oder weiter in
       den Abgrund führen, aber noch will die Basis in die Opposition. Die
       Ex-Juso-Vorsitzende Uekermann stöhnt: „Wir müssen die Frage beantworten:
       Wofür braucht es die SPD heute noch?“
       
       Die Frage steht seit 1983 im Raum, als der liberale Soziologe Ralf
       Dahrendorf der SPD schon einen schönen Grabstein setzte: „Wir sind (fast)
       alle Sozialdemokraten geworden, haben Vorstellungen zur
       Selbstverständlichkeit werden lassen, die das Thema des
       sozialdemokratischen Jahrhunderts definieren: Wachstum, Gleichheit, Arbeit,
       Vernunft, Staat, Internationalismus.“ Aber angesichts der Globalisierung
       sei der sozialdemokratische Fortschritt nun leider „ein Thema von gestern“.
       
       ## Ein gutes Jahrzehnt
       
       Das sozialdemokratische Jahrhundert? Eigentlich war es nur ein gutes
       Jahrzehnt gewesen. Nach drei krachenden Niederlagen hatte die SPD 1959 ihre
       Nachkriegsradikalität abgeworfen, die Vergesellschaftung der
       Montan-Monopole und Großbanken gegen die sichere Teilhabe am stetig
       wachsenden Wohlstand eingetauscht. Die Garantie für das Privateigentum an
       den Produktionsmitteln fiel im Godesberger Programm großzügiger aus als im
       Grundgesetz, die Begrifflichkeiten wurden auf Wählbarkeit durch die
       gesellschaftliche Mitte getrimmt. Nur 16 Unbeugsame stimmten gegen die
       Vorstandsvorlagen, und der linke Delegierte Peter von Oertzen warnte davor,
       die Allianz von Kapitalismus und Demokratie für das letzte Kapitel der
       Geschichte zu halten: Die Verfasser des Programms „glaubten im Grunde nicht
       an die Möglichkeit ernsthafter konjunktureller Rückschläge“ und hätten den
       Kampf gegen die Entfremdung im Kapitalismus aufgegeben. Derlei
       „philosophische Spekulationen“, so die Antwort vom Vorstandstisch, seien
       „kalter Kaffee“, denn „wir kennen unseren Weg“.
       
       Die Rechnung schien aufzugehen, die Stimmung der 1960er Jahre trug die SPD
       in die Regierung, in den 1970ern modernisierten Sozialdemokraten den
       Kapitalismus: Sie reformierten das Familienrecht, humanisierten die
       Psychiatrie, demokratisierten das Bildungswesen, setzten etwas mehr
       Mitbestimmung durch, bauten die sozialen Dienste aus. In der SPD trafen
       sich die Interessen der progressiven Mittelschicht und der Lohnabhängigen,
       das trug ihr 400.000 neue Mitglieder ein. Das Wort vom Rheinischen
       Kapitalismus ging um die Welt.
       
       Doch mitten im Sozialdemokratischen Jahrzehnt begann die Konjunktur zu
       kippen, der Ölpreis stieg, weltweit wurden die Banker von der Leine
       gelassen, und die Grenzen des Wachstums tauchten am Horizont auf. Die Zeit
       des sozialdemokratischen Schönwetterkonsenses war vorbei. In Deutschland
       stürzte die FDP den Kanzler Schmidt, nachdem der wirtschaftsliberale Graf
       Lambsdorff einen Leitfaden zur nationalkapitalistischen Aufrüstung der
       sozialen Marktwirtschaft für die anstehenden Schlachten auf den Weltmärkten
       geschrieben hatte: Zähmung der Gewerkschaften, Lohnzurückhaltung,
       Steuersenkungen und „Selbstverantwortung“ – ein Katalog, den die
       Kohl-Kabinette in den folgenden Jahrzehnten diskret abarbeiteten.
       
       In den Oppositionsjahren kämpften sich ein paar demokratische Sozialisten
       in der Partei nach oben. Das Berliner Programm von 1989 befand:
       „Reparaturen am Kapitalismus genügen nicht“, „eine neue Ordnung von
       Wirtschaft und Gesellschaft“ sei nötig. Einen Monat nach dem Fall der Mauer
       war das ein Anachronismus, es folgte ein weiteres Jahrzehnt Deregulierung
       und Verschlankung des Sozialstaats.
       
       1998 ging eine gespaltene Partei in den Wahlkampf, und das nicht nur wegen
       der Grünen. Die Parteilinke um Oskar Lafontaine forderte eine
       Wiederherstellung des Sozialstaats, eine ökologische Modernisierung und
       eine neue, gerechte Weltwirtschaftsordnung. Alles intellektuell
       konsensfähig, aber selbst die Theoretiker hatten kein Konzept, wie das in
       einer globalisierten Weltwirtschaft umgesetzt werden könnte, und mit einer
       stärkeren Belastung der wohlhabenden Mittelschichten ließen sich keine
       Wahlen gewinnen. „Sie werden bluten müssen“, hatte der Grünen-Chef Joschka
       Fischer noch 1997 gesagt – der Satz wurde schnell vergessen.
       
       ## Hartz IV und die Koalition der Alternativlosigkeit
       
       So gab es zwei Wahlkampfarenen: Der Autokanzler Schröder versprach, „nicht
       alles anders, aber vieles besser zu machen“, und richtete seinen Wahlkampf
       auf die neue Mitte aus. Lafontaine band die ewigen Sozialisten und die
       Modernisierungsverlierer. Die Wahl wurde gewonnen, aber das Bündnis hielt
       keine vier Monate. Lafontaine wollte die internationalen Finanzmärkte
       zügeln, ohne deren Umbau soziale Gerechtigkeit nicht herzustellen ist –
       aber verpatzte es durch Ungeduld. Nachdem Gerhard Schröder ihn öffentlich
       desavouiert hatte, trat er zurück.
       
       Von da an war die Parteilinke ohne Kopf, und die Parlamentsfraktion übte
       sich angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse in Loyalität zum Kanzler.
       Die „gewaltige Umverteilung von oben nach unten“, verkündete Schröders
       Generalsekretär Olaf Scholz, sei nun abgeschlossen, „demokratischer
       Sozialismus“ ein Anachronismus. Wirtschaftsminister Wolfgang Clement
       befand, wachsende Ungleichheit sei ein „Katalysator für individuelle und
       gesellschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten“. Mit Hartz IV und dem „größten
       Steuersenkungsprogramm der Nachkriegsgeschichte“ stagnierten die Löhne und
       stiegen die Gewinne; in zehn Jahren verlor die SPD die Hälfte ihrer Wähler
       und 250.000 Mitglieder, stieg ab zum Juniorpartner in der großen Koalition
       der Alternativlosigkeit, und links von der SPD entstand die dritte
       sozialdemokratische Partei.
       
       Im Bundestag sitzen nun vier miteinander koalitionsfähige Parteien, die für
       soziale Sicherheit, ökologische Nachhaltigkeit, Lebensqualität und
       europäische Integration eintreten – aber im Kleingedruckten ihrer
       Programmschriften steht: alles in den Grenzen der Wachstumserfordernisse,
       der Förderung der Exportindustrie, der Schonung der Mittelschicht – eine
       „90-prozentige gesellschaftliche Großmitte“ (Wolfgang Streeck). Heute sind
       wir alle Sozialdemokraten? War’s das endgültig?
       
       Haben wir wirklich gewählt – oder gewürfelt? So fragte Niklas Luhmann schon
       1994, nach der letzten Kohl-Wahl, und entwarf im Gedankenspiel eine
       Parteienordnung für die Zeit nach dem Ende des Traums von der
       immerwährenden Prosperität. Eigentlich müsste sich einerseits „eine
       Partei für Industrie und Arbeit bilden“, deren Aufgabe es sei, die
       Wettbewerbsfähigkeit auf dem globalen Markt zu sichern. Eine solche Partei
       sei nur „als große Koalition denkbar – ob nun in der Form einer gemeinsamen
       Regierung oder in der Form von aufgezwungenen Verständigungen“. Also das,
       was wir seit der Jahrhundertwende haben.
       
       Daraus folge, so Luhmann, die Frage nach den „Möglichkeiten einer
       politischen Opposition gegen ein solches Regime“. Die nämlich sei nötig,
       denn es gebe Sorgen genug, „solche, die in den neuen sozialen Bewegungen
       zum Ausdruck kommen, Sorgen um Technikfolgen oder ökologische Probleme oder
       Sorgen, die mit Migrationsproblemen, mit zunehmender Gewaltbereitschaft,
       mit Ghettobildung in den Städten zu tun haben“. Es gehöre nicht viel
       Fantasie dazu, sich vorzustellen, „dass diese Probleme in absehbarer
       Zukunft an Dringlichkeit zunehmen werden“, und zwar in einer Größenordnung,
       gegen die alle Interessenkonflikte der bürgerlichen Epoche trivial seien,
       und mit der uns „fundamentalistische Strömungen verschiedenster Herkunft
       ins Haus stehen“.
       
       Luhmann sah die Notwendigkeit einer „organisatorisch gefestigten
       Mitgliederpartei“, die ihre Politik an der Blaupause einer, wenn schon
       nicht postkapitalistischen, so doch zukunftsfähigen Gesellschaft
       ausrichtet. Er war pessimistisch, was ihre Entstehung angeht: „Wenn es uns
       weiterhin so gut gehen wird wie bisher“, werde aus diesem Ansatz wohl kaum
       eine Oppositionspartei entstehen, „die in der Lage wäre, ein
       Alternativprogramm zu entwickeln, das das gesamte Spektrum der jeweils
       notwendigen politischen Entscheidungen abdecken könnte“. Die Polarisierung
       zwischen einer großen Koalition der Weitermacher und Wachstumsfetischisten
       und einer Partei der die Zukunft gestaltenden Vernunft ist sicher eines von
       Luhmanns einleuchtenden, dabei abstrakten Gedankenspiele, aber es verweist
       auch auf das Integrationsproblem der SPD, in der sich Peter Glotz lange
       Jahre beim Versuch aufrieb, die Partei für die neuen sozialen Bewegungen zu
       öffnen und die sozialen Aktivisten von der Notwendigkeit parlamentarischer
       Politik zu überzeugen.
       
       ## Widersprüchliches Gemischtwarenangebot
       
       Die demoskopische SPD-Euphorie zum Jahresbeginn 2017 war ein Symptom für
       den Wunsch nach einer solchen Partei. Die großkoalitionären Aktivitäten von
       Schulz in Straßburg, seine Unterstützung des Schäuble’schen
       Austeritätsdiktats gegen Griechenland dürften nicht der Grund gewesen sein.
       Eher schon sein dröhnendes Gerechtigkeitspathos und die Ansage, es gehe nun
       um „eine grundsätzliche Entscheidung darüber, in welcher Gesellschaft wir
       leben wollen“.
       
       Was dann im „Regierungsprogramm 2017“ folgte, war allerdings keine große
       Antwort auf die großen Herausforderungen Erderwärmung, Automatisierung,
       Internetmonopole, Digitalisierung, Migration, Pflegenotstand,
       Europazerfall, Verteilungsunrecht, sondern ein Gemischtwarenangebot, von
       allen nur denkbaren Interessengruppen und Arbeitsgemeinschaften
       zusammengeklebt: noch bessere Schulen, noch bessere Pflege, bezahlbare
       Mieten, Zahnersatz für alle. Und weiter und widersprüchlich: Ausbau der
       Fernbusnetze, aber auch der Bahn und der Radwege, konventionelle und
       biologische Landwirtschaft, tierfreundliche Massentierhaltung. Bizarr auch
       das vollmundige Bekenntnis zum Asylrecht auf europäischem Boden – bei
       gleichzeitiger Einrichtung von Beratungsstellen entlang der Fluchtrouten,
       um den Flüchtenden „Alternativen aufzuzeigen“. Alles kam vor, aber kein
       zündendes Bild des Ganzen stellte sich ein. Dafür 20 Prozent – fast schon
       erstaunlich.
       
       Selten in ihrer 150-jährigen Geschichte war die SPD so weit entfernt vom
       Zeitgeist wie in den letzten 15 Jahren. Während in Davos der Kapitalismus
       infrage gestellt wurde und die CDU nach links rückte, während mehr als die
       Hälfte der unter 30-Jährigen glaubt, dass der Kapitalismus die Welt
       zugrunde richtet, während Sahra Wagenknecht und Heiner Geißler die
       Gemeinsamkeiten von christlicher Soziallehre und Sozialismus beschworen und
       die Krisenbotschaften sich überschlugen, lautete die implizite Botschaft
       der Partei: Mit uns wird es nur langsam schlimmer.
       
       Sicher, 3 Prozent mehr Spitzensteuersatz, zwei Jahre weniger arbeiten, 2
       Euro mehr Mindestlohn: weiter unten spürt man das. Aber das Schicksal der
       holländischen und französischen Genossen zeigt, wohin das führt. Denn wenn
       nicht alles trügt, haben die meisten Bürger zumindest eine Ahnung davon,
       dass wir am Beginn einer neuen Epoche leben, dass die alten Strukturen
       nicht mehr tragen, die fetten Jahre vorbei sind. Dieser Ahnung Wort zu
       geben, wäre der erste Schritt aus der angstbesetzten Erstarrung und der
       gedankendürren Alternativlosigkeit.
       
       ## Es fehlt die politische Speerspitze
       
       „In der Wahrheit leben“, so nannte der Dissident Václav Havel im
       verrottenden Sowjetsystem die Verpflichtung von Politikern. In der Wahrheit
       leben, das heißt heute: die Erkenntnis aussprechen, dass alle
       Dopingspritzen (weltweit inzwischen 12 Billionen Dollar) keine neue
       Wachstumswelle zurückbringen, dass es ebenso teuer wird, die
       „Fluchtursachen an ihrem Ursprung“ zu bekämpfen wie das Mittelmeer
       militärisch dicht zu machen, dass „grüner Kapitalismus“ ein Widerspruch in
       sich ist, die Klimakatastrophe nicht mit Verschmutzungszertifikaten
       verhindert wird und dass einschneidende Veränderungen unserer Lebensweise
       und unserer Wohlstandserwartungen anstehen – und das nicht nur bei dem
       einen Prozent.
       
       In der Wahrheit leben: eine Partei, die sich solchermaßen intellektuell
       ehrlich machte, hätte wohl nicht erst auf mittlere Sicht Erfolg. Denn
       unsere Gesellschaft ist an humanitären, ökologischen, sozialen Initiativen,
       an genossenschaftlichen Experimenten und postkapitalistischen Enklaven
       ebenso reich wie an innovativen Energieingenieuren, erfolgreichen
       Ökobauern, Bildungsreformern und konzeptioneller Intelligenz. Aber all
       diesen Aufbrüchen fehlt eine politische Speerspitze. Genau das wäre die
       Aufgabe einer wirklich modernen Sozialdemokratie: diese Aufbruchsenergien
       zu bündeln und politisch zuzuspitzen. Ziele zu definieren, die allen
       einleuchten, die auch nur einen Funken Interesse an Zukunft haben. Die
       „unten“ erkämpften Freiräume durch Gesetze und Institutionen abzusichern
       und so die Grundlagen für eine postkapitalistische Gesellschaft zu legen.
       
       Es müsste eine konservative Sozialdemokratie sein – konservativ im Sinne
       des sizilianischen Grafen Tommaso di Lampedusa: Man muss sehr viele Regeln
       und Institutionen ändern, wenn das europäische Zivilisationsmodell – nach
       Bourdieu so unwahrscheinlich und kostbar wie Kant, Mozart oder Beethoven –
       noch eine Zukunft haben soll. Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert: Das
       hieße, langfristige gesellschaftliche Projekte zu propagieren, die auf
       absehbare Notlagen nicht mit kleinen Korrekturen reagieren und damit die
       alten Strukturen am Leben erhalten, sondern neue Institutionen zu
       entwerfen, die das gesellschaftliche Gewebe verändern – im Interesse der
       vielen, wenn nicht der meisten Bürger.
       
       Studien schätzen, dass in den nächsten Jahrzehnten zwischen 30 und 50
       Prozent der Arbeitsplätze wegautomatisierbar werden. Der kapitalistischen
       Logik überlassen, wird das die Gesellschaften immer weiter in Höchstleister
       und Überflüssige polarisieren. Aber eine radikale Verkürzung der
       Normalarbeitszeit und eine Bildungsrevolution, die für die notwendigen
       Qualifikationen sorgt, könnte eine der ältesten Forderungen der
       Arbeiterbewegung und des aufgeklärten Liberalismus möglich machen: eine
       Dreizeitgesellschaft, mit guter Arbeit für alle und mehr Zeit für Familie
       und soziales Engagement. Fortschritt besteht schließlich nicht nur darin,
       falsche Ideen vom Sockel zu stoßen, sondern auch, zu Unrecht gestürzte
       wieder draufzustellen.
       
       ## Öffentliche Aufgaben für alle
       
       Die Versorgung einer steigenden Zahl von Pflegebedürftigen, Dementen und
       Psychotikern kollidiert mit der Menschenwürde, wenn Krankenhäuser und
       Pflegeheime rentabel sein müssen. Die Pflege muss der Gewinnorientierung
       entzogen und zur öffentlichen Aufgabe werden. Dezentrale kommunale
       Einrichtungen in den Wohnvierteln wären nicht nur menschlicher, sondern
       wahrscheinlich sogar billiger als die Pflegesilos am Stadtrand. Und warum
       sollte eine Gesellschaft, deren Zusammenhalt schwindet, nicht über ein
       anständig bezahltes allgemeines Sozialjahr für Jugendliche nachdenken –
       nicht nur für die Pflege, sondern für alle sozialen, kulturellen und
       pädagogischen Gemeinschaftsaufgaben, als letztes Schuljahr gleichsam,
       Praktikum zur Berufsfindung und Einübung in Gesellschaftlichkeit – auch
       wenn das gegen alle liberalen Impfungen verstößt.
       
       Das Privateigentum am (nach Kant) öffentlichen Gut Boden hat zu
       Spekulation, unbezahlbaren Mieten und sozialen Wüsten in den Städten und
       zur Zerstörung bäuerlicher Existenzen auf dem Land geführt. Die
       Privatisierung von Sozialwohnungen wie die von Elektrizität und Wasser
       muss schnell verboten, Bodenpreise, Pachtzins und Mieten gedeckelt werden.
       Eine angstfreie Renaissance des Wörtchens Volkseigentum könnte solche,
       vermeintlich radikalen Forderungen begleiten.
       
       Die neofeudale Zuteilung von Chancen wird zunehmend über die Privatisierung
       des Bildungswesens angebahnt. Die Spaltung in verwahrlosende öffentliche
       Schulen für die vielen und staatlich subventionierte, aber privat
       betriebene Bildungsoasen für die wenigen muss gestoppt werden. Der
       diskriminierende, mobilitätsfeindliche Bildungsföderalismus muss aufhören.
       Kleiner Hinweis auf die Größenordnungen: Mit einer 0,5-prozentigen Steuer
       auf Vermögen könnte die Zahl der Lehrer auf das Niveau von Finnland oder
       Luxemburg gebracht werden.
       
       Mietbremse, Konzentrationskontrolle, kommunaler Wohnungsbau,
       Bodenrechtsreform, Agrarwende, Bildungsexpansion – es wären
       systemüberwindende Reformen, die den Raum der öffentlichen Güter und der
       Daseinsfürsorge erweitern und alles, was ein gutes Leben sichert, dem Markt
       entziehen würden. Ein investierender, aktiver Staat wäre die epochale
       Antwort auf eine Wirtschaft, deren Dynamik das Leben der Einzelnen
       zunehmend unsicher macht und die Grundlagen des Wohlstands zerstört.
       
       ## Der Zukunftsstaat
       
       Den Zukunftsstaat schaffen, so hieß die Parole der alten Sozialdemokratie
       zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und nicht irgendwelche Spinner, sondern
       Parlamentarier wie August Bebel haben diese Vision sehr konkret
       ausgepinselt, als motivierenden Horizont ihres täglichen Handelns und
       Hinweis auf ein Ziel, das nicht in soundso vielen Legislaturperioden
       erreicht werden kann, aber den Polarstern der sozialistischen Politik
       abgibt. Zukunftsstaat – das ist ein Wort, das auch heute wieder
       verheißungsvoll klingen könnte, denn wenn nicht alles täuscht, hat die
       „Verunglimpfung des öffentlichen Sektors“ (Paul Krugman) an Popularität
       verloren, und die Idee, dass „Staat eine Kraft des Guten“ sei (Thomas
       Friedman), gewinnt an Boden.
       
       Aber ein Bebel des 21. Jahrhunderts wird noch gesucht.
       
       Zukunftsstaat – das heißt heute natürlich: mehr Europa. Ohne europäische
       Steuergesetze werden Google, Amazon, Facebook und Apple weiterhin von
       Steuerdumping profitieren. Ohne europäische Beschäftigungsinitiativen wird
       die Jugendarbeitslosigkeit auf Dauer gestellt. Ohne eine Europäisierung von
       Arbeitsrecht und Sozialpolitik werden alle nationalen Reformen an Grenzen
       stoßen.
       
       Für die SPD hieße das: alles unterstützen, was die demokratischen
       Mechanismen der Union und der Eurozone vertieft, und gleichzeitig mit allen
       noch vitalen Sozialdemokratien kooperieren, als da sind: Podemos, Syriza,
       die portugiesischen Sozialisten – und die erneuerte Labour Party. Den
       wirtschaftsliberalen Impuls Emmanuel Macrons aufnehmend, müsste eine
       europäische Sozialdemokratie große, transnationale Investitionsprogramme
       fordern – für erneuerbare Energien oder transnationale Verkehrsnetze. Die
       Chancen für diese Vision eines „Grand European Left Designs“ sind derzeit
       hoch unwahrscheinlich. Im nächsten Schritt geht es darum (vor allem in
       Deutschland, Italien, Frankreich), regierungstaugliche linke Koalitionen zu
       schmieden, die diese Perspektive nicht ausschließen.
       
       Bleibt die Frage nach dem Personal. Die SPD hat nur noch 400.000
       eingetragene Mitglieder. Ihr Kern sind nur rund 80.000 ämterorientierte
       Aktive: Funktionäre von Partei, Gewerkschaften, Verbänden; Kommunalbeamte,
       Sparkassendirektoren, Landräte, Schulräte, Bauamtsabteilungsleiter – kurz
       und nicht ganz gerecht gesagt: akademisch gebildete Mittelschichtler, die
       auf allen Ebenen das Rückgrat des Staates bilden, ohne die nichts läuft,
       die von ihm leben, eine Schicht, aus der sich fast die Hälfte der
       Bundestagsabgeordneten rekrutiert.
       
       ## Mehr als ein paar Klicks bei Campact
       
       Grundsätzliche Richtungsänderungen sind von ihnen nicht zu erwarten,
       solange die Generation Schröder nicht in Rente geht. Das heißt aber auch:
       80.000 Bürger, denen es nicht mehr reicht, ab und zu ein mit ein paar
       Klicks bei Campact wirksam zu sein, könnten sehr schnell für eine
       Erneuerung des Personals sorgen – wie in den 1970er Jahren schon einmal.
       Irreal? In England hat die Bewegung Momentum es geschafft, innerhalb eines
       Jahres die Mitgliedschaft von Labour auf 600.000 zu verdreifachen. For the
       many, not the few – so lautet das neue Mantra der Labour Partei. Das klingt
       auf Deutsch nicht ganz so knackig; aber die SPD könnte es ja vorerst mal
       mit T-Shirts versuchen, auf denen vorne 14,2 GG steht und hinten „Eigentum
       verpflichtet“.
       
       Bleibt noch die Frage am Ende aller Küchengespräche: Warum sind wir so
       resigniert und politikmüde? Warum erobern nicht die 18- bis 35-Jährigen
       diesen immer noch intakten Apparat? Dafür gibt es viele Gründe und alle
       paar Monate eine neue soziologische Deutung: Der Wohlstand hat uns mit
       Konsumindividualismus imprägniert; die Singularitätsgesellschaft verhindert
       Solidarität; die Abstiegsgesellschaft zerreibt die Motivation;
       Institutionen mit Mitgliedschaft und Verbindlichkeit sind den Kindern der
       Erlebnisgesellschaft nicht cool genug; die Gier der Mittelschicht ist
       märchenhaft; die Medien der Aufmerksamkeitsgesellschaft zerstreuen die Wut.
       Außerdem geht es den meisten immer noch besser als anderswo, und wenn es
       bei den Jungen finanziell klemmt, helfen die Eltern mit dem Erbe der fetten
       Jahre.
       
       So viel zum subjektiven Faktor. All das spielt eine Rolle. Aber darunter
       liegt ein harter Grund für das anhaltende Einverständnis mit unhaltbaren
       und unmoralischen Zuständen. Insgeheim wissen doch alle: Die Herstellung
       von mehr Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft wäre eine Herkulesaufgabe,
       aber eine lächerlich kleine Anstrengung verglichen mit einer Bearbeitung
       der globalen Probleme. Die anbrechende Warmzeit, die
       Armutsvölkerwanderungen, die Verwüstung der Restnatur, die Gewalt, die aus
       Armut und Unterdrückung kommt – all das wäre nur zu verhindern oder auch
       nur zu lindern, wenn wir im Westen unsere „imperiale Lebensweise“ radikal
       ändern, und das heißt, trotz aller Beschönigungen über „grünes Wachstum“:
       Verzicht.
       
       Offenbar aber hält die parlamentarische Klasse ein Leben ohne easyjet,
       Nackensteaks für 2,99, Verbrauchstextilien, frisches Obst im Winter und
       alle Jahre neue Smartphones nicht für mehrheitsfähig. Das ist nichts
       anderes als Elitenversagen: eine zynische Unterschätzung der
       intellektuellen und der moralischen Ressourcen derjenigen, die hart
       arbeiten und wissen, dass wir neue Regeln brauchen.
       
       Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert: Das wäre der Versuch, die Erfahrung zu
       widerlegen, dass Institutionen und Mentalitäten sich nur nach Katastrophen
       oder Kriegen umbauen lassen. Dagegen allerdings steht Bertolt Brechts
       fatalistische Einsicht, dass Umwälzungen nur in Sackgassen stattfinden.
       
       11 Jan 2018
       
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   DIR Mathias Greffrath
       
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