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       # taz.de -- Ausstellung zu Geschichten von Frauen: Die erste englische Autobiografie kam von ihr
       
       > Es gibt sie, Geschichten von exzentrischen, freiheitlichen oder trans
       > Frauen im Mittelalter, wenn man sucht. Das tat die British Library in
       > London.
       
   IMG Bild: Sie bauen sich eine neue Stadt: Christine de Pizan, „Le Livre de la Cité des Dames“, 14. Jahrhundert (Ausschnitt)
       
       Manchmal braucht es nur einen Pingpong-Ball, um ein ganzes Leben zu
       entdecken: Als 1934 während einer Tischtennispartie in einem englischen
       Herrenhaus bei Chesterfield die Bälle ausgingen, suchte der Gastgeber in
       einem Schrank nach Ersatz. Zu seinem Ärger fand er jedoch nur einige dünne,
       in Leder gebundene Bücher.
       
       Eines davon ist jetzt in der Ausstellung „Medieval Women: In Their Own
       Words“ in der British Library in London zu sehen. Denn das vermeintliche
       Ärgernis erwies sich als Sensationsfund: Unter den Büchern befand sich
       das einzig erhaltene Exemplar von „The Book of Margery Kempe“ der
       gleichnamigen christlichen Mystikerin aus dem 15. Jahrhundert.
       
       Bis dahin war die in England geborene Margery Kempe nur durch einen
       siebenseitigen Auszug aus diesem Buch bekannt. Darin wird sie als
       „Anchoress“ dargestellt, eine Frau, die sich in eine Zelle einmauern lässt,
       um ihr Leben ganz Gott zu widmen.
       
       Das wiederentdeckte Buch zeichnet ein vollkommen anderes Bild von ihrem
       Leben. Es zeigt Kempe als selbstbewusste und mobile Frau. Auf eigene Faust
       unternahm sie religiöse Pilgerreisen bis nach Rom, Jerusalem und
       [1][Santiago de Compostela], um dort von ihren Visionen zu berichten. Die
       Analphabetin war von der Bedeutung ihres Lebens so überzeugt, dass sie
       einen Priester überreden konnte, ihre Geschichte aufzuschreiben. So
       entstand die vermutlich erste englische Autobiografie. Ein zufälliger Fund,
       der überraschende Einblicke in das Leben einer Frau im Mittelalter gibt.
       
       Dass es noch viel mehr über Frauen in dieser Zeit zu entdecken gibt – das
       macht die Ausstellung in der British Library jetzt eindringlich deutlich.
       [2][Über 140 Dokumente und Artefakte aus der Zeit zwischen 1100 und 1500]
       hat das Team um Chefkuratorin Eleanor Jackson zusammengetragen. Sie geben
       Einblicke in das private, öffentliche und spirituelle Leben von Frauen im
       Mittelalter. Und zeigen, wie vielseitig, relevant und selbstbestimmt diese
       waren.
       
       ## Feministin der ersten Stunde
       
       Die [3][Geschichten von Frauen im Mittelalter] seien „seltener
       aufgezeichnet“ worden, sagt Jackson gegenüber dem US-amerikanischen
       Wissenschaftsblatt Smithsonian Magazine. Da Frauen oft nicht den gleichen
       Bildungsstand wie Männer hatten, hätten viele nicht selbst schreiben
       können. „Frauengeschichten sind viel schwieriger zu finden, aber sie sind
       da, wenn man sie sucht“, so Jackson.
       
       Da war zum Beispiel die im 14. Jahrhundert in Italien geborene und in
       Frankreich aufgewachsene Christine de Pizan. Sie war die erste Autorin in
       Europa, die von ihrer schriftstellerischen Tätigkeit leben konnte – und
       eine Feministin der ersten Stunde. In ihrem bekanntesten Werk, „Le Livre de
       la Cité des Dames“ („Das Buch von der Stadt der Frauen“), entwirft Pizan
       eine allegorische Stadt, die von Frauen aus der Geschichte und Mythologie
       bewohnt wird. Es ist eine Feier weiblicher Errungenschaft.
       
       Am seltensten zu hören sind die Stimmen der Frauen, die im Mittelalter
       ausgegrenzt und machtlos waren. Doch auch sie kommen in der Ausstellung zu
       Wort. Zum Beispiel in der Petition von Maria Moriana an den Bürgermeister
       von London. Sie, eine Immigrantin und vermutlich farbige Frau, prangerte
       darin das unrechtmäßige Verhalten ihres Herrn an, der sie gegen ihren
       Willen eingesperrt hatte.
       
       Oder das erstaunliche Dokument eines Gerichtsverfahrens, das 1395 gegen die
       Prostituierte Eleanor Rykener geführt wurde. Während des Verhörs stellte
       sich heraus, dass Eleanor als John Rykener geboren worden wurde. Aus
       heutiger Sicht könnte man sie als eine Transgender-Frau bezeichnen.
       
       ## Originalbrief von Jeanne d'Arc
       
       Neben mittelalterlichen Manuskripten und Büchern sind auch erstaunliche
       Objekte zu sehen. Ein sogenannter Birth-Girdle zum Beispiel, der gebärenden
       Frauen umgelegt wurde und Glück bringen sollte. Vollgeschrieben mit Gebeten
       und Zaubersprüchen, lässt er erahnen, unter welcher Lebensgefahr damals
       Kinder zur Welt gebracht wurden. Ein Tierschädel wiederum, der
       möglicherweise dem Hauslöwen der englischen Königin Margarete von Anjou
       gehörte, erzählt von der Exzentrik, die Frauen im Zentrum der
       mittelalterlichen Macht ausleben konnten.
       
       Und natürlich darf Jeanne d’Arc in der Ausstellung nicht fehlen. Zu sehen
       ist der Originalbrief, mit dem sie 1429 die Bürger der französischen Stadt
       Riom um militärische Hilfe bat. Jeanne d’Arc, die auch Analphabetin war,
       hat den Brief diktiert. Nur ihre Unterschrift setzte sie selbst in
       krakeliger Schrift darunter.
       
       Ein berührend realer Fakt von der Mittelalter-Frau, über die es fast schon
       wieder [4][zu viele von anderen erzählte Geschichten gibt.] Aber wer weiß,
       vielleicht wird ja eines Tages, während der Suche nach einem Pingpong-Ball,
       noch eine von ihr diktierte Autobiografie entdeckt.
       
       29 Jan 2025
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Verena Harzer
       
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