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       # taz.de -- Autor*in zur Stadtbild-Debatte: Der böse Traum vom gereinigten Deutschland
       
       > Woran will Bundeskanzler Merz eigentlich das irregulär Migrantische
       > erkennen? Seine Äußerungen zum deutschen Stadtbild sind
       > menschenverachtend.
       
   IMG Bild: Für ein sauberes Deutschland: Friedrich Merz auf dem Bundesparteitag der CDU 2024
       
       In einer der Nächte nach Friedrich Merz' Auftritt in Brandenburg, bei dem
       er seine Sorge um das deutsche „Stadtbild“ mit der Öffentlichkeit teilte,
       hatte ich einen Traum. Uniformierte Frauen standen vor meiner Tür und
       erklärten, ich dürfe mir aussuchen, in welches Land ich abgeschoben werde.
       Dass es passieren würde, war nicht mehr Verhandlungssache, allerdings wurde
       mir die Gnade zuteil, selbst zu bestimmen, wohin. So weit, so unsubtil, da
       braucht es keine Traumdeutung.
       
       [1][Merz' Ansage] verfolgt mich immer noch, auch tagsüber: „Aber wir haben
       natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem und deswegen ist der
       Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang auch
       Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen.“
       
       Nun weiß ich natürlich, dass der Bundeskanzler nicht Leute wie mich meint.
       Ich bin aschkenasisch-jüdisch, schreibe Romane und Theaterstücke, führe ein
       bürgerliches Leben, manchmal trage ich sogar Anzüge. Ich werde weiß gelesen
       und als Frau. Wäre ich nicht non-binär und lesbisch, passte ich vermutlich
       optimal in Friedrichs Merz´ Vorstellung von jenen, die bleiben dürfen,
       während andere aus dem „Stadtbild“ und überhaupt aus Deutschland entfernt
       gehören.
       
       Die Öffentlichkeit durfte unlängst verfolgen, wie Friedrich Merz anlässlich
       der Wiedereröffnung der Münchener Synagoge mit einer Kippa auf dem Kopf
       [2][Tränen vergoss.] Er führte beispielhaft vor, wie ein deutscher
       Nazinachfahre das Leid millionenfach ermordeter Jüdinnen und Juden beweint.
       Ich habe keinen Anlass, ihm seine Erschütterung nicht zu glauben.
       
       ## Xenophobe Gewalt steigt
       
       Wenn Merz nun also andeutet, dass er Straßen und Plätze [3][säubern lassen
       wird,] dann meint er nicht jüdisches Leben, natürlich nicht. Er meint die
       „anderen“, die aus dem Osten, aus dem Nahen Osten, die Muslime, er meint
       alle Nicht-Regulierten. Woran erkennt man eigentlich das irregulär
       Migrantische, das Migrantische überhaupt? An den schwarzen Haaren, der
       schwarzen Haut, den Augen, dem Schnitt des Gesichtes, dem Kopftuch, der
       Sprache, die nicht westeuropäisch klingt? Sitzen die Irregulären in
       Shisha-Bars?
       
       Gibt man in diesen Tagen der Versuchung nach, zynisch zu werden, muss man
       feststellen: Die Verwirklichung des Kanzler-Traums von einem gereinigten
       Deutschland macht große Fortschritte. Nicht nur die rechtswidrige
       Asylpolitik hilft, längst kümmern sich schon gewaltbereite Rechtsradikale
       darum.
       
       In alten wie neuen Bundesländern steigt die xenophobe Gewalt. In Städten
       wie Magdeburg gehen migrantische Menschen oder diejenigen, die annehmen
       müssen, von anderen dafür gehalten zu werden (Hautfarbe, Haarfarbe,
       Augenfarbe), mittlerweile mit einem Alarmknopf in der Tasche auf die
       Straße. Sprachkurse müssen abgesagt werden, weil sich die Teilnehmenden
       nicht vor die Tür trauen. Begleitdienste für Frauen werden organisiert.
       
       In Sachsen-Anhalt liegt die AfD aktuell bei 40 Prozent, und wenn im
       September nächsten Jahres gewählt wird, ist sie auf den von der CDU
       bestrittenen Willen zur Zusammenarbeit – der auf kommunaler Ebene bereits
       praktiziert wird – womöglich schon nicht mehr angewiesen.
       
       ## Das Erbe ernst nehmen
       
       Um die Menschenrechtsanwältin Christina Clemm zu zitieren: „Wenn ein
       Bundeskanzler eine solche Aussage tätigt, dann muss es doch niemanden
       verwundern, dass selbstbewusste Neonazis es von sich aus vollstrecken und
       alle jagen und verprügeln, die nicht ins völkische Menschenbild passen.“
       
       Ja, ich weiß, Friedrich Merz meint nicht mich, aber ich hatte diesen Traum,
       weil ich dennoch mitgemeint bin. Ich bin migrantisch. Deutsch ist nicht
       meine Muttersprache. Ich sitze gerne in Shisha-Bars. Meine Urgroßeltern
       waren Ärzt*innen bei der Roten Armee, sie haben die Scharfschützen von
       Stalingrad zusammengeflickt. Sie waren erklärte Antifaschist*innen. Und
       dieses Erbe nehme ich sehr ernst.
       
       So wie ich mir wünschen würde, dass ein Bundeskanzler, dessen Großvater
       sich früh um die Mitgliedschaft in der NSDAP bemühte, sein Erbe ernstnimmt
       und nicht vom Reinigungsbedarf deutscher Straßen und Plätze infolge
       unregulierter Migration fantasiert – ausgerechnet bei einem Auftritt in
       Brandenburg, wo bei der letzten Bundestagswahl 32,5 Prozent der
       Teilnehmenden die AfD wählten.
       
       Aber vielleicht ist die Stadtbild-Ansage ja gerade Merz' Art, mit seinem
       Erbe umzugehen. Einem Erbe, dem sich in Deutschland immer schon viele
       verpflichtet fühlten. 1995 kam ich hierher und wurde von Neonazis durch die
       Straßen einer westdeutschen Kleinstadt gejagt. Meine Familie und ich
       wohnten damals im Asylheim.
       
       Drei Jahre zuvor, 1992, wurde die Zentrale Aufnahmestelle für
       Asylbewerber*innen in Rostock-Lichtenhagen angegriffen, das
       dazugehörige Wohnheim in Brand gesteckt. Im selben Jahr ging in Mölln das
       Haus der Familie Arslan in Flammen auf. 1993 folgte der Brandanschlag in
       Solingen usw. Die Liste der Versuche, Deutschland rein aussehen zu lassen,
       ist unerträglich lang.
       
       ## Ausdruck eines völkischen Verständnisses
       
       Im aktuellen politischen Klima ist Merz' Aussage keine unglückliche
       Wortwahl, sondern eine Ansage. Es ist die Bekräftigung des AfD-Versprechens
       der sogenannten Remigration. Es ist der Ausdruck eines völkischen
       Verständnisses von Deutschland. Es ist menschenverachtend. Ein „Nie
       wieder!“ wird zur leeren Phrase, wenn nicht zugleich die Ursache der
       mörderischen Gewalt und ihre aktuellen Ausformungen in Politik, bei den
       Behörden und in Reden wie der von Friedrich Merz untersucht werden.
       
       Ich empfinde es als beschämend, dass der vermeintliche Schutz jüdischen
       Lebens als perfides Argument für die kontinuierliche Aushöhlung des
       Asylrechts missbraucht wird. Welche Art der Lehre aus der Vergangenheit
       soll das sein?
       
       Für Jüdinnen und Juden kann es aus der Geschichte nur eine Lehre geben: Die
       Einteilung in jene, die aus dem Stadtbild entfernt gehören, und in jene,
       die in das Stadtbild passen und deshalb verschont bleiben, ist nicht
       hinnehmbar. Verschont zu welchem Preis? Was wird von einem jüdischen
       Menschen gefordert, um Teil der deutschen Gesellschaft zu sein? Ganz
       offensichtlich die Komplizenschaft für eine Politik, die unser Überleben
       damals unmöglich gemacht hätte.
       
       Würde die deutsche Gesellschaft ihr Erbe wirklich ernst nehmen, gäbe es die
       AfD nicht und wir müssten nicht über das Verbot einer als gesichert
       rechtsextremistischen Partei debattieren. Wovon auch immer Friedrich Merz
       so tief ergriffen war, als er in der Münchner Synagoge Tränen über das Leid
       jüdischer Menschen in Deutschland vergoss, eines muss klar sein: Wenn er
       die Straßen und Plätze dieses Landes von migrantischem Leben reinigen will,
       dann reinigt er meines mit.
       
       19 Oct 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Sasha Marianna Salzmann
       
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