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       # taz.de -- Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt: Wo der Hund begraben liegt
       
       > Coming-of-Age-Geschichten bildeten neben vielen Tieren den roten Faden in
       > Klagenfurt. Das öffentliche Sprechen über Literatur geriet oft an seine
       > Grenzen. Olga Martynova gewann.
       
   IMG Bild: Applaus und Blumen für Olga Martynova.
       
       Mit einiger Berechtigung kann man das, was die sieben Jurorinnen und
       Juroren im Vorfeld des Wettlesens in Klagenfurt tun, als Crowd-Kuratieren
       bezeichnen. Jeder von ihnen wählt zwei Kandidaten aus, heraus kommen 14
       Texte, die dann den jeweiligen Jahrgang repräsentieren. Von einer
       geschlossenen Gesamtidee kann man bei diesem Verfahren natürlich nicht
       sprechen; Willkür und Zufälligkeit spielen immer ein Stück weit eine Rolle.
       
       Dennoch kommt es immer wieder zu überraschend einheitlichen
       Konstellationen. So kamen dieses Jahr bei diesem Wettbewerb, der am
       vergangenen Mittwoch eröffnet wurde und am Sonntag mit der Preisverleihung
       zu Ende ging, recht viele Tiere vor, nicht immer zu ihrem Vorteil. Kätzchen
       wurden gegen Mauern geworfen, Hühner geköpft, und in zwei Geschichten haben
       es Hunde sogar bis in den Titel der jeweiligen Texte gebracht.
       
       In „Der Hund von Saloniki“ von Stefan Moster verbeißt sich ein Hund in das
       Bein eines jugendlichen Trampurlaubers, was die Katastrophe dieses
       Aufbruchsversuchs nach dem Abitur rundet; vor dem Biss wurde er noch von
       seiner Freundin verlassen. Und in dem Romanauszug „Junge Hunde“ von
       Cornelia Travnicek (die den Publikumspreis erhielt) verabschiedet sich eine
       Ich-Erzählerin endgültig von ihrer Kindheit, indem sie ihre Hündin namens
       Baghira begräbt. Sie hatte sie von ihren Eltern bekommen, als sie meinten,
       sie sei jetzt alt genug, um Verantwortung für ein anderes Lebewesen zu
       übernehmen.
       
       Nun fährt man ja auch immer wieder in der Hoffnung nach Klagenfurt, etwas
       Prinzipielles über die deutschsprachige Literatur zu erfahren, etwas über
       ihren Zustand und auch Details, die man zu neuen Trends zusammensetzen
       könnte. Soll man nun also einen Trend zu Hunden ausrufen? Wohl kaum. Das
       läuft unter Zufälligkeiten.
       
       ## Sprachlich bis zur Schmerzgrenze
       
       Etwas anderes ist es mit dem zweiten „dicken roten Faden“ (so der Juror
       Hubert Winkels), der sich durch die Texte dieses Jahrganges zog: das war
       die Neigung zur Coming-of-Age-Geschichte. In vielfachen Variationen wurde
       über Kinder und Jugendliche oder aus kindlicher oder jugendlicher
       Perspektive erzählt. In fast allen der dieses Jahr preisgekrönten Texte
       spielt das eine Rolle, und dieses Zusammentreffen kann man auch schon eher
       mit innerer Notwendigkeit aufladen.
       
       Es sind vor allem zwei Dinge, die kindliche oder jugendliche Perspektiven
       ermöglichen: Man kann auf dem engen Raum einer Kurzgeschichte die
       Gesellschaft aus einer schrägen oder fremden Sicht zeichnen, und man kann
       von Identitäten im Moment ihrer Entstehung schreiben. Letzteres tut Lisa
       Kränzler in ihrem Text „Willste abhauen“, der den 3sat-Preis und damit den
       im internen Klagenfurt-Ranking dritten Platz erhielt. Sprachlich bis zur
       Schmerzgrenze hochgepitcht beschreibt die 1983 geborene Autorin, wie viel
       Gewalt und Druck schon in dem Bewusstsein von Kindern existieren können.
       Die Konkurrenzsituation beim Aufführen von Theaterstücken, die Spiele von
       Aneignung und Unterwerfung der Freundinnen schon in jungem Alter – Lisa
       Kränzler inszeniert gekonnt einen bösen Blick auf Heranwachsen und
       beginnende Sexualität.
       
       Eine sehr traurige außerliterarische Nachricht gibt es im Zusammenhang mit
       dieser Schriftstellerin auch noch zu vermelden: Lisa Kränzlers Lektor Jan
       Jenrich, der seine Autorin nach Klagenfurt begleitet hatte, ist während
       dieser Klagenfurt-Tage an einem Herzinfarkt im Hotelzimmer verstorben.
       
       ## Das Schicksal schönreden
       
       Die Jugendlichenperspektive als eine interessante Spielmöglichkeit zur
       Gesellschaftsbeschreibung nutzte Matthias Nawrat in seiner Geschichte
       „Unternehmer“, die den Kelag-Preis erhielt und damit auf den zweiten Platz
       kam. Der 1979 in Polen geborene und im Alter von zehn Jahren nach
       Deutschland ausgereiste Autor lässt ein Mädchen den Alltag ihrer Familie
       beschreiben. Freilich ist es alles andere als ein behüteter Alltag. Die
       Familie lebt davon, wertvolle Metallreste aus Computerschrott und
       stillgelegten Industrieanlagen herauszuklauben; ein Motiv, das man aus den
       Slums von Mumbai und Afrika kennt und das Matthias Nawrat in die, unserer
       Imagination nach, eigentlich romantische Landschaft des Schwarzwalds
       verlegt. Der Vater hat seine Kinder von der Schule genommen, um mit ihnen
       kostenlose Arbeitskräfte zu haben.
       
       Die junge Erzählerin redet sich dieses schreckliche Schicksal schön – und
       das ist der interessante Kniff an dieser Geschichte, zumal Matthias Nawrat
       die Sprache der Ich-Erzählerin virtuos leicht neben der Spur inszeniert:
       Welche Jugendliche weiß sonst schon, dass Handys aus schwarzem
       Tantal-Molybdän bestehen? Bei Nawrat schaut die Erzählerin mit einem
       müllsortierenden Blick auf die Welt.
       
       Der Versuch, ein prekäres Lebensgefühl eher literarisch zu evozieren als
       einfach zu beschreiben, zeichnete auch Inger-Maria Mahlkes
       Wettbewerbsbeitrag aus, der einzige der Siegertexte – Mahlke bekam den
       Ernst-Willner-Preis, also Platz vier -, bei denen Kinder und Jugendliche
       nicht als Subjekte der Erzählung vorkommen. Bei Inger-Maria Mahlke verdingt
       sich eine alleinerziehende Mutter in der „strengen Kammer“ eines
       Sadomaso-Clubs.
       
       ## Ein Schelmenspiel gewinnt
       
       Matthias Nawrat und Inger-Maria Mahlke versuchten beide, hohes
       handwerkliches Geschick und genauen Sprachverstand jenseits aller Ironien
       für Sozialbeschreibungen nutzbar zu machen. Das ist bei Olga Martynova, der
       Bachmannpreisträgerin 2012, ganz anders. Sie inszeniert ein literarisches
       Schelmenspiel, wieder mit einem jugendlichen Protagonisten, einem Jungen
       namens Moritz, der im Grunde nur mit einem Fahrrad in die Stadt fährt, um
       sich ein Eis zu kaufen und dabei die Eisverkäuferin, in die er verknallt
       ist, anzusprechen – der aber in Einschüben dabei eine literarische
       Initiation erfährt: Seine Tante liest ihm einen Flyer vor und fragt ihn,
       wie man die Sätze verbessern könnte; sein Vater schenkt ihm ein iPad, aber
       er schreibt lieber Ideen für Kurzdramen in ein Moleskine-Notizbuch; beim
       Einschlafen fällt ihm eine Kurzgeschichte ein.
       
       Wie für Matthias Nawrat auch war Deutsch für Olga Martynova nicht die
       Muttersprache, aufgewachsen ist sie in Leningrad, 1991 zog sie nach
       Deutschland. Ihre Klagenfurter Geschichte kann man als ganz hübsche Collage
       bezeichnen oder aufgrund gewisser Anspielungsmarker – altägyptische
       Sarkophage kommen ebenso vor wie Adam und Eva aus der Bibel – zum komplexen
       Prosastück hochinterpretieren.
       
       Für Letzteres entschied sich die Jury, der Juror Paul Jandl, der Martynova
       als „große Dichterin“ bezeichnete, vorneweg. Das ist zwar zwei Etagen zu
       hoch gehängt, eher ist Martynovas Collage ein Text, der niemandem wehtut.
       Zumindest passt er aber in den diesjährigen Coming-of-Age-Trend. Einen
       Text, der wehtat, hatte man als Beobachter dieses Jahr auch gar nicht recht
       geboten bekommen. Immerhin gab es aber eine ganze Reihe von Texten, die das
       verstörende Wehtun, in Ansätzen auch gelingend, versucht haben.
       
       ## Schaffensnot ohne Zensur
       
       So verabschiedete Matthias Senkel in „Aufzeichnungen aus der Kuranstalt“ –
       wobei es sich um eine „Kuranstalt für Schriftsteller in Schaffensnöten“
       handelt – ganz nebenbei so gemein wie spielerisch die osteuropäische
       Dissidentenliteratur: „Nach dem Zerfall des Ostblocks habe die Kuranstalt
       kaum dem Andrang jener Autoren gerecht werden können, die ohne
       Zensurbehörde nicht mehr zu schreiben vermochten.“
       
       Bei Sabine Hassingers so dichtem wie pathetischen Text „Die Taten und Laute
       des Tages“, der in Klagenfurt geradezu Widerstände hervorrief (was einem
       auch erst einmal gelingen muss), wich die Jury vor einer eingehenden
       Textarbeit in eine Grundsatzdiskussion aus. Die allerdings war wiederum
       klasse, machte sie doch klar, dass man mit pauschalen Anerkennungen von
       experimentellen Texten ebenso wenig weiterkommt wie mit ihren pauschalen
       Ablehnungen. Es kommt eben immer auf die einzelnen Texte an.
       
       Vollends an die Grenzen eines öffentlichen Sprechens über Literatur geriet
       die Jury bei Leopold Federmairs Geschichte „Aki“. Das ist eine genau
       gearbeitete, stellenweise hübsch sentimentale Geschichte darüber, dass sich
       jugendliches Aus-der-Realität-Träumen und Aufbegehren mit einer Gitarre,
       die man nachts im Bett spielt, nicht in die Welt der Erwachsenen übertragen
       lässt. Während es ziemlich leicht ist, die brüchigen Stellen dieser
       Geschichte herauszupräparieren, hätte es wohl eines empathischeren
       Sprechens, als es hier in Klagenfurt möglich ist, bedurft, um ihre
       Schönheiten herauszuarbeiten.
       
       8 Jul 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dirk Knipphals
       
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