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       # taz.de -- Bahnhofsmissionen in Deutschland: Mehr Bedarf, weniger Spenden
       
       > Wegen der Inflation kommen immer mehr Menschen zu den Anlaufstellen an
       > den Bahnhöfen. Gleichzeitig erhalten die Missionen immer weniger
       > Sachspenden.
       
   IMG Bild: Andrang vor Weihnachten: die Bahnhofsmission in Halle
       
       Leipzig taz | Die Bahnhofsmissionen in Sachsen und Sachsen-Anhalt
       verzeichnen einen erhöhten Zulauf. Manche Einrichtungen haben Probleme, die
       Lebensmittel zu finanzieren. Dabei sind sie für viele die erste
       Anlaufstelle: Wer durchgefroren ist, Hunger, Durst, kaputte Kleidung oder
       keinen Schlafplatz für die Nacht hat, bekommt hier voraussetzungslos Hilfe.
       
       Dass [1][die Bahnhofsmissionen] in Sachsen und Sachsen-Anhalt an ihre
       Kapazitätsgrenzen kommen, liegt vor allem an der hohen Inflation. Sie
       verursacht mehr [2][armutsbetroffene Menschen] als sonst – mehr Menschen,
       die vorbeikommen, um ein belegtes Brot zu essen und etwas Heißes zu
       trinken. Zudem muss die Bahnhofsmission mehr Geld für Wurst, Käse,
       Margarine, Kaffee und Tee ausgeben. Mancherorts bekommen die Einrichtungen
       auch weniger Spenden als gewöhnlich.
       
       „An Erntedank haben wir dieses Jahr nur ein Viertel von dem erhalten, was
       wir sonst über die Kirchen an Lebensmittelspenden bekommen“, berichtete
       Anfang Dezember Benita Lanfermann von der Bahnhofsmission Dessau in
       Sachsen-Anhalt. Auch Geldspenden erhalte die Einrichtung weniger. „Viele
       ältere Menschen, die uns in der Vorweihnachtszeit immer 50 Euro gespendet
       haben, können es dieses Jahr nicht mehr“, sagt Lanfermann.
       
       Bahnhofsmissionen existieren seit über 125 Jahren in Deutschland. Die
       Einrichtungen, die von der evangelischen und der katholischen Kirche
       getragen werden, zählen zu den wichtigsten Anlaufstellen für Menschen in
       existenziellen Notlagen. Die Mitarbeiter:innen und Ehrenamtlichen in
       den blauen Westen verteilen belegte Brote und Heißgetränke, informieren
       darüber, wo man eine warme Mahlzeit bekommt und duschen kann, vermitteln an
       Unterkünfte, Ämter oder Suchtberatungsstellen – und vor allem: Sie sprechen
       mit den Menschen über ihre Sorgen und Nöte.
       
       ## Hartz-IV-Empfänger:innen und Rentner:innen
       
       Bundesweit gibt es mehr als hundert Bahnhofsmissionen, neun davon sind in
       Sachsen und Sachsen-Anhalt. Die taz hat vor Weihnachten mit acht von ihnen
       über die Auswirkungen der Inflation auf ihre Arbeit gesprochen (die
       Bahnhofsmission Stendal in Sachsen-Anhalt hat sich bis Redaktionsschluss
       nicht zurückgemeldet). Die Umfrage zeigt: Alle acht Bahnhofsmissionen
       beobachten einen erhöhten Andrang.
       
       „Wir merken es vor allem am Nachmittag“, erzählt die Leiterin der
       Bahnhofsmission Halle, Heike Müller, am Telefon. „Da kommen 10 bis 20
       Menschen mehr als sonst um diese Jahreszeit – Menschen, die morgens schon
       bei uns gefrühstückt haben und nachmittags wieder hungrig und durstig
       sind.“ Die Bahnhofsmissionen Chemnitz, Görlitz und Leipzig registrieren
       ebenfalls 10 bis 20 Personen mehr pro Tag.
       
       Fast alle Bahnhofsmissionen führen den hohen Zulauf auf [3][die gestiegenen
       Energie- und Lebensmittelpreise] zurück. „Zu uns kommen nicht mehr nur
       Menschen ohne Obdach, sondern auch viele Hartz-IV-Empfänger:innen,
       Rentner:innen und Menschen, die auf Mindestlohnbasis arbeiten“, sagt
       Sophie Wischnewski von der Bahnhofsmission Leipzig, die täglich von bis zu
       hundert Bedürftigen aufgesucht wird. „Für diese Menschen war es schon vor
       den gestiegenen Preisen schwer, über die Runden zu kommen. Jetzt reicht ihr
       Geld vorne und hinten nicht mehr.“
       
       Monika Zeuner von der Bahnhofsmission Chemnitz erzählt Ähnliches. Von den
       rund 70 Leuten, die pro Tag vorbeikämen, erhielten die meisten Hartz IV
       oder eine niedrige Rente. „Die Menschen haben große Existenzängste. Viele
       kommen zu uns, um sich aufzuwärmen“, sagt Zeuner. Auch die
       Bahnhofsmissionen Halle, Halberstadt, Görlitz, Dessau und Dresden versorgen
       überwiegend Hartz-IV-Bezieher:innen, Rentner:innen und
       Geringverdiener:innen. Menschen ohne Wohnung – das zeigt die taz-Umfrage –
       wenden sich vergleichsweise selten an die Bahnhofsmissionen.
       
       Weil mehr Leute die Bahnhofsmissionen aufsuchen, steigt der Bedarf an
       belegten Broten, Kaffee und Tee – was für manche Einrichtungen doppelt
       belastend ist. Die Bahnhofsmission Leipzig gibt wegen der gestiegenen
       Lebensmittelpreise 200 bis 300 Euro mehr pro Monat für Brot, Käse,
       Margarine und Wurst aus, wie Leiterin Sophie Wischnewski mitteilt. Auf die
       Frage, ob sie aufgrund der hohen Inflation Probleme haben, die Lebensmittel
       für die sogenannten Notbrote zu finanzieren, antworten drei der acht
       Bahnhofsmissionen – Dessau, Leipzig und Görlitz – mit Ja.
       
       Neben Lebensmittel- und Geldspenden fehlt es mancherorts auch an
       Ehrenamtlichen und an Sachspenden. „Wir benötigen vor allem Winterjacken
       für Männer, Handschuhe, Rucksäcke und Schlafsäcke“, sagt Wischnewski aus
       Leipzig. In Dessau hingegen mangelt es obendrein an Ehrenamtlichen und
       Mitarbeiter:innen. „Was nutzen uns die Spenden, wenn wir keine Zeit haben,
       sie zu verteilen?“, sagt Leiterin Benita Lanfermann am Telefon, während sie
       den Boden wischt.
       
       Die sächsische Landtagsabgeordnete Juliane Nagel (Linke) bezeichnet die
       aktuelle Lage in vielen Bahnhofsmissionen als dramatisch. „Hier zeigen sich
       die Auswirkungen der inflationsbedingten Preissteigerungen mit aller Wucht.
       Wer selbst sparen muss, kann nicht mehr geben, und wer nichts mehr hat, ist
       auf Anlaufstellen wie die Bahnhofsmissionen oder Tafeln angewiesen.“
       
       Nagel fordert einen Inflationsaufschlag bei der Förderung sozialer Träger
       sowie mehr Unterstützung von armen und armutsgefährdeten Menschen: „Eine
       Grundsicherung von mindestens 725 Euro, armutsfeste Löhne statt des
       mickrigen Bürgergeldes und ein Verbot von Wohnungskündigungen und
       Zwangsräumungen.“
       
       29 Dec 2022
       
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