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       # taz.de -- Barrierefreier ÖPNV: „Sollte Chefsache sein“
       
       > Seit 1. Januar sollte der öffentliche Verkehr barrierefrei sein. Doch das
       > werde nicht ernst genommen, klagt Claudia Tietz vom Sozialverband.
       
   IMG Bild: Vieles an Barrierefreiheit im ÖPNV ist wie hier in Stuttgart auf dem Weg. Doch das reicht nicht
       
       taz: Frau Tietz, wenn Sie dem öffentlichen Verkehr hierzulande in Sachen
       [1][Barrierefreiheit] eine Schulnote geben würden, welche wäre das?
       
       Claudia Tietz: Nach unseren Erfahrungen als großer Sozialverband: „Drei
       minus“ bis „Vier“. Wir sind auf dem Weg, aber noch lange nicht am Ziel.
       
       Die UN-Behindertenrechtskonvention sieht vor, dass der öffentliche Verkehr
       barrierefrei werden muss. [2][Die Bundesrepublik hat die Konvention im
       Personenbeförderungsrecht umgesetzt], wonach in Deutschland zum 1. Januar
       2022 der ÖPNV barrierefrei sein muss. Der Termin ist folgenlos verstrichen.
       Wie kann das sein? 
       
       Viele Kommunen haben den Stichtag 1. Januar 2022 nicht ernst genug
       genommen. Das Gesetz sieht Ausnahmen vor. Sie sind zulässig, wenn sie in
       Nahverkehrsplänen konkret benannt werden. Von den Ausnahmen haben viele
       Kommunen Gebrauch gemacht. Deshalb gab es nicht das zielgerichtete Handeln,
       das wir uns als SoVD gewünscht hätten.
       
       Gibt es deshalb keine öffentliche Empörung? 
       
       Ja. Was den öffentlichen Aufschrei außerdem abgemildert hat: Kurz bevor die
       Frist verstrichen ist, wurde der Koalitionsvertrag der neuen Regierung
       vereinbart. Er greift dieses Problem in einer sehr guten Weise auf. Dort
       steht, dass bis 2026 die Pflicht zur Barrierefreiheit im ÖPNV ohne Ausnahme
       umgesetzt werden soll. Die Regierung verlängert zwar die Frist, aber eben
       ohne Ausnahmen. Das stimmt uns hoffnungsfroh.
       
       Was muss jetzt geschehen? 
       
       Die Kommunen müssen jetzt ganz genau sagen, in welchem Jahr welcher Umbau
       erfolgen soll. Dabei dürfen sie nicht nur bauliche Veränderungen in Bezug
       auf Rollstuhlnutzer im Blick haben. Sie müssen die Belange aller
       unterschiedlichen Gruppen von Menschen mit Beeinträchtigungen im Blick
       haben, auch die Interessen von Menschen mit Seh- oder Hörbehinderungen oder
       kognitiven Beeinträchtigungen.
       
       Was heißt das? 
       
       Wir fordern etwa, dass konsequent das Zweisinneprinzip umgesetzt wird. Das
       bedeutet, dass Informationen immer auf zwei Kanälen kommuniziert werden,
       sie also sowohl lesbar als auch hörbar sind. Damit haben Menschen mit
       Sinnesbeeinträchtigungen auch Zugang zu Informationen.
       
       Was bedeutet Barrierefreiheit für Menschen mit kognitiven
       Beeinträchtigungen? 
       
       Die Sprache muss einfacher werden, etwa wenn es um die Lesbarkeit eines
       Fahrplans geht. Die Bedienung eines Fahrkartenautomaten muss leichter
       werden. Das ist heute extrem komplex. Auch ältere Menschen kommen immer
       wieder zu uns und sagen: Das schaffe ich nicht mehr, das ist zu
       kompliziert. Auch das Tarifdickicht ist ein Problem und kaum
       durchschaubar. Wichtig sind Leitsysteme zur Orientierung, etwa mit
       Piktogrammen oder Farben. Das kommt übrigens allen zugute, nicht nur
       Menschen mit kognitiven Einschränkungen.
       
       Gerade in ländlichen Gebieten gibt es einen Mangel an öffentlichem
       Nahverkehr. Wie trifft das Menschen mit Handicap besonders? 
       
       Menschen mit Beeinträchtigungen sind oft höheren Lebensalters. Wenn sie auf
       dem Land leben, ist ihre Teilhabe in doppelter Weise erschwert. Sie sind
       auf bestimmte Fahrten angewiesen, zum Beispiel zum Arzt, zur
       Physiotherapeutin, zum Einkaufen. Für sie ist der ÖPNV die Lebensader zur
       Infrastruktur. Wenn die nicht funktioniert, ist der Ausschluss von
       Teilhabe am sozialen Leben die Folge.
       
       Welche Möglichkeiten gäbe es für mehr Mobilität auf dem Land? 
       
       Im vergangenen Jahr wurde gesetzlich neu geregelt, dass sogenannte
       gebündelte Bedarfsverkehre eingesetzt werden können. Das ist nicht mehr der
       klassische Bus, der zweimal am Tag fast leer übers Land fährt. Es geht um
       Angebote, die stärker am Bedarf orientiert abgerufen werden können. Das
       kann zum Beispiel mit einem Kleinbus geschehen, der bei Bedarf gerufen und
       von mehreren Leuten genutzt wird. Hier kommen wir an einen zentralen Punkt:
       Man kann moderne Mobilität von Digitalisierung nicht trennen.
       
       Wieso nicht? 
       
       Wer keinen digitalen Zugang hat, wird so einen Kleinbus nicht rufen können.
       Wenn wir über barrierefreie Mobilität sprechen, müssen wir auch über
       barrierefreie Digitalisierung sprechen. Leider ist es uns nicht gelungen,
       dass das ins schon angesprochene Personenbeförderungsgesetz aufgenommen
       wurde.
       
       Was meinen Sie mit barrierefreier Digitalisierung? 
       
       Zum einen, dass Angebote im Internet auch für Menschen mit einer
       Sinnesbehinderung abrufbar sind. Zum anderen muss das Angebot einfach zu
       bedienen sein, damit ältere Menschen sich auch trauen, sich da
       durchzuklicken. Damit verbunden ist die Frage, wie wir digitale Kompetenzen
       entwickeln können. Wir müssen die Menschen mitnehmen, damit sie es packen,
       digital unterwegs zu sein.
       
       Wie kann das gehen? 
       
       In den Kommunen muss das Thema aufgegriffen werden. Gibt es zum Beispiel
       eine lokale Bibliothek oder eine andere Anlaufstelle, wo man den Bus
       reservieren kann, wo einem dabei geholfen wird? Man braucht nicht nur das
       digitale Gerät, man braucht auch jemanden, den man um Hilfe fragen kann:
       digital helfende Enkel für alle, sozusagen. Es gibt zum Teil solche
       Angebote für Senioren, aber in der Fläche ist das noch nicht gut ausgebaut.
       Und dabei geht es ja nicht nur um Mobilität. Das zeigt sich gerade in der
       Pandemie, wenn der Arzttermin plötzlich im Netz gemacht werden muss oder
       die Karte fürs Kino oder Schwimmbad nur noch so zu bekommen ist. Jetzt
       steht faktisch vor jeder Teilhabe ein digitaler Schritt.
       
       Was ist mit Taxis? 
       
       Im ÖPNV ist das Taxi oft ein Bindeglied für die letzten Kilometer vom
       Bahnhof nach Hause. Aber nur wenige Taxis können einen Fahrgast mit
       Rollstuhl mitnehmen. Wir haben darum gekämpft, dass das
       Personenbeförderungsgesetz auch Barrierefreiheit für Taxis vorschreibt. Die
       Umsetzung liegt jetzt bei den Kommunen. Sie müssen festlegen, wie groß der
       Bedarf vor Ort ist, und das Angebot von den Unternehmen einfordern.
       
       Wie sieht es bei Fernreisen mit der Deutschen Bahn aus? 
       
       Vieles läuft reibungslos, aber es gibt auch Probleme, etwa beim Zugang zum
       Bahnsteig, beim Einstieg in den Zug, mit defekten Behindertentoiletten oder
       wenn die Fahrkarte nicht ohne Barriere gekauft werden kann. Wir wünschen
       uns, dass die Deutsche Bahn mit den Verbänden auf Augenhöhe in den
       Austausch tritt, was verbessert werden kann. Es gibt zwar Arbeitsgruppen,
       an denen auch Verbände beteiligt sind. Aber die werden mitunter sehr spät
       einbezogen, wenn zum Beispiel schon neues rollendes Material gekauft wurde.
       Dann stellt man fest, dass wieder Chancen, Barrieren abzubauen, nicht
       genutzt wurden.
       
       Weil die Verbände nicht frühzeitig einbezogen werden? 
       
       Beteiligungsformate sind nicht immer auf Augenhöhe. Barrierefreiheit sollte
       generell ein Führungsthema sein. Das würde ich mir auch bei der Deutschen
       Bahn wünschen. Wenn das von der Spitze gewollt ist, wird es in den
       Gliederungen ernsthaft aufgegriffen.
       
       3 Feb 2022
       
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