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       # taz.de -- Berichterstattung über „Flüchtlingskrise“: Zu nah an der Politik
       
       > Eine Studie attestiert einseitige Berichterstattung über die
       > „Flüchtlingskrise“. Es seien fast nur AkteurInnen aus der Politik zu Wort
       > gekommen.
       
   IMG Bild: Das „Hickhack“ zwischen CSU und CDU war vielen Medien wichtiger als Stimmen von Betroffenen
       
       Was die Berichterstattung über die sogenannte Flüchtlingskrise von 2015
       angeht, stehen die Nachrichtenmedien unter Verdacht. Die einen raunen, die
       Politik habe Anweisungen gegeben, wie zu berichten sei. Die anderen finden,
       viele Medien hätten zu viel Haltung, zu viel Agenda in ihre Berichte
       gepackt. JournalistInnen hätten ihre Aufgabe, neutral zu berichten, nicht
       erfüllt, sondern sich zu VolkspädagogInnen aufgeschwungen – was [1][die
       Angesprochenen in der Regel zurückweisen].
       
       Nun ist eine [2][Studie bei der Otto-Brenner-Stiftung] erschienen, die
       unter anderem genau zu diesem Ergebnis kommt. Es handelt sich um eine
       Inhaltsanalyse von Leitmedien in Print und Online vom Frühjahr 2015 bis zum
       Frühjahr 2016, die der Medienwissenschaftler Michael Haller durchgeführt
       hat – und die schon am Tag ihres Erscheinens für Unmut gesorgt hat [3][(taz
       berichtete)].
       
       Haller und sein Team werteten 1.700 Texte zur „Flüchtlingskrise“ aus, die
       im untersuchten Zeitraum in den „Printleitmedien“ FAZ, SZ, Welt und Bild
       sowie auf den reichweitenstarken Onlineportalen focus.de, tagesschau.de und
       spiegel.de erschienen waren. In einer Nebenstudie analysierten die
       ForscherInnen den Umgang mit dem Begriff „Willkommenskultur“ in der Lokal-
       und Regionalpresse.
       
       Den Texten wurden zunächst Zahlen- und Buchstabencodes zugewiesen, um sie
       zu quantifizieren: Welche Personengruppen traten sprechend oder handelnd
       auf, und wie oft? Welche Tonalität hatten die Texte, welche Stimmung
       vermittelten Bilder? Hatte die Autorenstimme eine distanzierte oder eine
       wertende, gar belehrende Haltung? Studentische Hilfskräfte kämpften sich
       durch das Textmaterial und trugen die entsprechenden Codes in Datenbanken
       ein.
       
       ## „Bedeutungsarmes Hickhack“
       
       Die Ergebnisse der Studie legen schwere Versäumnisse in der
       Berichterstattung nahe. Die Auswertung ergibt, dass die untersuchten Medien
       die „Flüchtlingskrise“ vor allem entlang von AkteurInnen aus der
       etablierten Politik besprachen, nicht aber auf der Ebene der Betroffenen.
       Zwei Drittel derjenigen, die in den untersuchten Texten zu Wort kamen oder
       als AkteurInnen erwähnt wurden, waren PolitikerInnen. Betroffene wie
       Geflüchtete, HelferInnen und andere BürgerInnen kamen dagegen kaum vor. Ihr
       Auftreten lag im einstelligen Prozentbereich.
       
       „Das unablässige, in der Sache bedeutungsarme Hickhack zwischen CDU und CSU
       zu bearbeiten hat Journalisten besonders großen Spaß gemacht“, so Haller.
       Auch viele Kommentare hätten sich eher um diese politischen Ränkespiele
       gedreht als um die eigentlichen Probleme. „Bei dieser Art der Kommentierung
       werden die Leser zu Zuschauern degradiert.“
       
       Die untersuchten Medien hätten den Themenkomplex also auf der falschen
       gesellschaftlichen Ebene ausgetragen, heißt es in der Studie. Dazu kommt
       der Vorwurf, man habe die politische Erzählung von der „Willkommenskultur“
       – zumindest vor dem diskursiven [4][Wendepunkt „Kölner Silvesternacht“] –
       unkritisch übernommen und sich dadurch in eine allzu große Nähe zur
       regierungspolitischen Linie begeben. Teile der Bevölkerung seien dadurch
       vom Diskurs ausgeschlossen worden.
       
       ## In Diskursnischen verdrängt
       
       In den untersuchten Lokalzeitungen sei in 83 Prozent der Berichte der
       Begriff „Willkommenskultur“ in einen positiven Kontext gestellt worden.
       Zweifelnde Stimmen seien dagegen kaum vorgekommen. So hätten sich die
       KritikerInnen in Diskursnischen zurückgezogen – man könnte ergänzen: „und
       in den Rechtspopulismus“.
       
       Der Medienwissenschaftler Haller setzt bei seinen Untersuchungen einen
       bestimmten normativen Anspruch an Nachrichtenmedien voraus: dass
       „Journalismus ohne Vorurteile agiert und für gelingende gesellschaftliche
       Verständigung sorgt“. Gemessen an diesem Anspruch befindet Haller die
       untersuchte Berichterstattung für „dysfunktional“.
       
       Nun sehen sich nicht alle JournalistInnen als vorurteilsfreie, neutrale
       BeobachterInnen oder stellen diesen Anspruch an ihre Arbeit. Gerade im
       Herbst 2015 distanzierten sich ReporterInnen auf Podien immer wieder von
       der Idee der „neutralen Berichterstattung“ und bekannten sich zu einem
       „Journalismus mit Haltung“.
       
       Angesichts einer befürchteten Welle von fremdenfeindlichen und
       rassistischen Ressentiments und neuen Populismen wollten viele
       JournalistInnen mithilfe der Medien ein liberales, kosmopolitisches
       Gegengewicht schaffen. Folgt man den Ergebnissen der vorliegenden Studie,
       dann ist dieses Vorhaben nach hinten losgegangen.
       
       23 Jul 2017
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.deutschlandfunkkultur.de/tagesschau-chef-kai-gniffke-wir-haben-uns-nicht-auf-eine.1008.de.html?dram%3Aarticle_id=353160
   DIR [2] https://www.otto-brenner-stiftung.de/otto-brenner-stiftung/aktuelles/die-fluchtlingskrise-in-den-medien.html
   DIR [3] /Berichterstattung-ueber-Fluechtlingskrise/!5434399/
   DIR [4] /!5369967/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Peter Weissenburger
       
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