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       # taz.de -- Berlin fährt in den Sommerurlaub: Camping macht auch Spaß
       
       > Sommerzeit, Urlaubszeit: Was machen die, die sich das nicht leisten
       > können? Sie bleiben zu Hause. Oder fahren ins Berliner Umland zum Zelten.
       
   IMG Bild: Lutz Bachmann in Wrocław: Bei jedem Besuch in der Stadt schießt er in der Tram ein Selfie
       
       Es ist gerade nicht mehr so richtig en vogue, sich unter Palmen in der
       Südsee zu träumen. Die Kids von „Fridays for Future“ haben ihren Eltern
       zumindest so erfolgreich ins Gewissen geredet, dass die immerhin Skrupel
       haben, wenn sie am Ende doch nach Bali fliegen.
       
       Was bei dieser Verzichtdebatte häufig keine Rolle spielt: Sie ist in
       gewisser Weise auch eine Luxusdiskussion. Das ist nicht schlimm, weil das
       nicht der Punkt ist bei der Klimadebatte, aber man kann sich ruhig mal
       vergegenwärtigen: Etwa jeder Fünfte in Deutschland kann sich keine Woche
       Urlaub am Stück leisten, wie eine stichprobenartige Sozialdatenerhebung von
       Bund und Ländern ergeben hat. Und damit ist nicht zwingend die Flugreise
       nach Übersee gemeint. Auch eine Woche Campen am See, wo man mit der
       Regionalbahn hinfahren kann, ist für viele nicht drin.
       
       In Berlin ist die Armutsgefährdungsquote gestiegen – ein Hinweis darauf,
       dass die Ungleichheit der Einkommen weiter zunehme, sagen die
       Landesstatistiker. Besonders betroffen: Kinder, alte Menschen,
       Alleinerziehende. Berlin ist die viel zitierte Hauptstadt der Kinderarmut,
       etwa jedes dritte Kind in Berlin ist auf Transferleistungen angewiesen.
       Berlin ist auch die Hauptstadt der Alleinerziehenden die rund ein Drittel
       der Gesamtbevölkerung stellen. Und eine weitere Risikogruppe wächst: Die
       Zahl der Menschen im Rentenalter stieg in den letzten vier Jahren um fast 7
       Prozentpunkte auf 11,2 Prozent. Wer als Einpersonenhaushalt weniger als 967
       Euro im Monat zur Verfügung hat, gilt den Statistikern derzeit als
       armutsgefährdet.
       
       ## Klimabewusstes Reisen muss man sich leisten können
       
       Mit 967 Euro im Monat kann man, wenn man einen guten Mietvertrag hat, noch
       in der Innenstadt wohnen und ab und an die Milch im Bioladen um die Ecke
       kaufen. Aber für den Städtetrip nach Paris, sofern man ihn sich überhaupt
       leisten kann, sticht der Billigflieger das teure Ökostromzugticket.
       
       Diese Erkenntnis ist nicht neu, aber es tut sich wenig. Rot-Rot-Grün baut
       den noch zu eröffnenden BER schon jetzt für noch mehr Fluggäste aus, eine
       politische Mehrheit auf Bundes- oder gar europäischer Ebene für Steuern auf
       Kerosin oder CO2 scheint auf absehbare Zeit nicht in Sicht.
       
       Wer wenig hat, muss sich klimabewusstes Reisen erst mal leisten können. Und
       wer noch weniger hat, für den stellt sich die Frage, ob Billigflieger oder
       Bahn, eben gar nicht. Ob die Welt nun automatisch enger wird, wenn der
       Radius kleiner wird und nur bis zum Sommerferienangebot des Jugendclubs
       oder zum Badesee reicht?
       
       Nein, das wäre wohl ganz schon ignorant gedacht. Aber die Klima-Kids
       könnten es ja mal ausprobieren, wenn die Eltern wieder nach Bali fliegen.
       Sie haben ja die Wahl. Und das ist tatsächlich, man macht es sich viel zu
       selten klar, ein Luxus. Anna Klöpper
       
       Wie eine Sternschnuppe 
       
       Um reisen zu können, hat Lutz Baumann die DDR verlassen. Geld hatte der
       inzwischen 66-Jährige nie viel und hat doch die Welt gesehen. Für den
       Rentner reicht es noch für eine Woche Polen im Jahr. Ein Protokoll von
       Manuela Heim 
       
       „Wenn ich heute die jungen Leute sehe, mit Rollkoffer und ich immer noch
       mit Rucksack. Mit diesem Rucksack reise ich schon seit 1989, habe ich
       gleich nach der Ausreise gekauft. In der DDR hieß Reisen die Freiheit, zu
       erweitern, mal aus Berlin, der Enge der DDR rauszukommen, mal andere Leute
       sehen. Nach Rumänien bin ich gereist, Bulgarien, vor 40 Jahren war ich das
       erste Mal auf Tramptour durch die Sowjetunion, von Kiew über Odessa und
       Jalta.
       
       Ich war Arbeiter, da haste nicht viel Zeit gehabt, drei Wochen Urlaub im
       Jahr. Einmal habe ich im Balt-Orient-Express für ein paar Roma Gold
       geschmuggelt, die kamen von einem Musikfestival aus Schweden, hatten dort
       das Gold für ihre Tantiemen gekauft. Ich hab das dann in die Unterhose
       gesteckt und mich ins Gepäcknetz gelegt. Ich bin ja nicht so breit. Dann
       kam die Kontrolle zwischen Ungarn und Rumänien, die war hart, uns
       Ostdeutsche haben sie ja in Ruhe gelassen, aber die Rumänen haben sie total
       auseinandergenommen. Wir haben dann Schnaps getrunken zusammen. Das waren
       doch die Erlebnisse!
       
       In Budapest hat man sich dann immer getroffen, die ganzen Ostdeutschen auf
       Reisen, noch mal auftanken und dann ab in den Zug nach Ostberlin. Wenn du
       dann schon wieder die Gesichter von den Volkspolizisten gesehen hast in
       Dresden, da stand dir das gleich wieder bis hier: „Jetzt musste wieder ein
       Jahr warten, um ein bisschen Freiheitsgefühl zu haben.“ Das war auch einer
       der Hauptgründe, warum ich 1988 ausgereist bin nach Westberlin.
       
       Gleich im Dezember 1988 ging es nach Italien, zu fünft im Audi 80. In
       Griechenland war ich dann, da fuhren noch die Ikarus-Busse, die Leute
       hatten ja kein Geld. Ostern 1989 das erste Mal in Paris, das hab ich sofort
       in mein Herz geschlossen. Auf dem Friedhof Montmartre, am Grab von Heinrich
       Heine sind mir die Tränen gekommen. Immer wenn ich konnte, Ostern,
       Silvester, Pfingsten, bin ich nach Paris gefahren. Immer mit dem Bus, 180
       D-Mark hat das damals gekostet. 12-, 13-mal war ich bestimmt dort. In
       Spanien war ich, Portugal.
       
       ## Die USA: damals war es noch ungewohnt
       
       Und immer fotografiert. 30, 40 Filme, mehr konntest du nicht mitschleppen.
       Ich wäre nie gereist, ohne zu Fotografieren. Ohne meine Kamera würde ich zu
       Hause bleiben. An der halte ich mich fest, ich reise ja inzwischen immer
       allein. Die Fotos schau ich auch heute manchmal noch an, aber das ist jedes
       Mal auch ein Stich ins Herz.
       
       1992 bin ich das erste Mal in die USA, nach San Francisco. Da denke ich oft
       drüber nach, damals war es noch ungewohnt, über die Bettler
       drüberzusteigen. In Berlin gab es keine Bettler, nicht so offensichtlich.
       Heute ist das hier genauso. In New Orleans war ich dann 1993 und in Los
       Angeles. Ich bin immer am Limit gereist, auf unterstem Niveau. Rucksack,
       Let’s-Go-Reiseführer, später Lonely Planet, Jugendherberge, Bus und Bahn.
       
       Ich könnte stundenlang erzählen von den Reisen, was ich da erlebt habe.
       Achtmal USA, Costa Rica, Thailand und die letzte große Reise war dann nach
       Yucatan und Guatemala. Da war ich in der Jugendherberge schon immer der
       Älteste. 2001 bin ich arbeitslos geworden und 2002 von den letzten paar
       hundert Euro meiner Abfindung noch mal nach Portugal gereist. Musst ich
       aber unterwegs abbrechen, zurück mit dem Eurobus, das Geld war alle. Ich
       habe nicht mehr als 50 Mark am Tag gehabt, 25 Euro, damit kamst du nicht
       mehr hin.
       
       Seitdem bin ich nur noch nach Polen gefahren. Gerade war ich wieder eine
       Woche in Wrocław, schauen, wer noch lebt. Seit zehn Jahren fotografiere ich
       dort immer wieder die gleichen Leute: Der „Ballonmann“ aus dem Park, der
       lebt noch, und die Frau, die auf einem halblegalen Markt ein bisschen Obst
       und Gemüse verkauft, deren Kompagnon ist gestorben. Es wird für mich immer
       schwerer zu reisen.
       
       ## Ich komm mit wenig aus
       
       Das Geld ist nicht das Problem, ich komm mit wenig aus. Guck mal das
       Jackett hier, 1,50 Euro im Secondhand. Das geht schon. Ich bin da hart
       gegen mich selbst, wenn ich nur 5 Euro habe, habe ich eben nur 5 Euro. Das
       Problem ist die Gesundheit. Ich kann nicht mehr trinken, vertrage fast kein
       Essen, mit meinen Augen ist auch was. Aber du brauchst doch einmal am Tag
       ein schönes Erlebnis, was Schönes zu Essen, ein Lächeln, jemand
       Interessanten kennengelernt.
       
       Treffe ich da in Wrocław an einer Straßenbahnhaltestelle so einen
       Langhaarigen, der ist aber kein Pole, sondern Ukrainer, und ich sag:
       „Mensch, vor 40 Jahren war ich das erste Mal in deiner Heimat!“ Ich frag
       ihn, ob er wählen war, und er sagt, „Nee, ich bin doch Anarchist.“ Und
       schon waren wir bei Nestor Machno und bei der Politik und beim Anarchismus.
       Das ist es doch! Da war der Tag gerettet, da war ich beglückt. Das ist wie
       eine Sternschnuppe.
       
       Ich reise auch mit meinem Rentnerticket quer durch Brandenburg. Gerade war
       ich in Zehdenick, Oberhavel. Ich renne da rum wie „Der Verrückte von Labor
       4“. Ab in die Touristeninformation, und da frage ich die: Wie geht’s Ihnen
       denn jetzt hier, wann war der letzte ausländerfeindliche Überfall, wer ist
       so zugezogen, wie ist die wirtschaftliche Situation? In Senftenberg war
       ich, in Cottbus bei einer tollen Fotoausstellung, in Brandenburg, in
       Rathenow, in Seelow. Da mach ich dann auch meine Fotos.
       
       Ich brauche keine exotischen Ziele mehr. Doch: Paris! Das wär noch mal was.
       Aber dafür reicht das Geld nicht.
       
       Lutz Baumann, 66, Berliner, lebt von 880 Euro Rente. Die taz hat ihn schon
       mehrfach interviewt. 
       
       Diese beiden Texte sind Teil eines Schwerpunktes in der Wochenendausgabe
       der taz berlin am wochenende vom 6./7. Juli 2019.
       
       6 Jul 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Manuela Heim
   DIR Anna Klöpper
       
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