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       # taz.de -- Berlin und der Krieg in der Ukraine: Das Gedächtnis der Frontstadt
       
       > Der ukrainische Botschafter erinnert an die Luftbrücke. Hat die
       > Hilfsbereitschaft in Berlin auch mit seiner Geschichte zu tun? Ein
       > Wochenkommentar.
       
   IMG Bild: Veteran der Luftbrücke: Gail Halvorsen vor dem Rosinenbomber
       
       Eine Woche vor Russlands Überfall auf die Ukraine ist Gail Halvorsen
       gestorben. Berühmt geworden war der 101-Jährige als Pilot des
       Rosinenbombers. „Die Luftbrücke zur Versorgung des Westteils Berlins hat
       aus Siegern und Besatzern auch Freunde gemacht“, [1][erinnerte Berlins
       Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey] (SPD) an den Piloten. „Gail
       Halvorsen wurde zu einem Gesicht dafür. Die West-Alliierten wurden zu
       Garanten der Freiheit.“
       
       Fast 74 Jahre ist es nun her, dass die Sowjetunion Westberlin am 24. Juni
       1948 von der Versorgung auf dem Land-, Schienen- und Wasserweg
       abgeschnitten hat. Halvorsen war einer der Piloten der Alliierten, die mit
       ihren Hilfsflügen die bis zum 12. Mai 1949 dauernde [2][Berlin-Blockade]
       ins Leere laufen ließen. Dass er dabei Rosinen für Kinder abwarf, ist die
       Geschichte in der Geschichte. Denn eigentlich ging es um das Überleben
       einer Stadt mit 2,1 Millionen Einwohnern.
       
       Es ist der ukrainische Botschafter [3][Andrij Melnyk], der in diesen Tagen
       an die Luftbrücke erinnert. „Wir haben alle in unseren Geschichtsbüchern
       gelernt, wie tapfer diese Stadt war, damals, als die Sowjets eine Blockade
       eingeführt hatten“, sagte er [4][am Donnerstag im Berliner
       Abgeordnetenhaus]. „Heute fühlen sich viele Ukrainer genauso wie die
       Deutschen damals. Und wir bitten Sie, alles Mögliche zu unternehmen, um die
       Verteidigungsfähigkeit der Ukraine zu stärken.“
       
       Was ist das kollektive Gedächtnis einer Stadt, und wie lange reicht seine
       Erinnerung? Das sind Fragen, die sich angesichts der überwältigenden
       Bereitschaft, den Flüchtlingen aus der Ukraine zu helfen, in diesen Tagen
       stellen. Denn wieder einmal ist die ehemalige „Frontstadt des Westens“
       aufgrund ihrer geografisch exponierten Lage besonders betroffen. Nirgendwo
       kommen derzeit in Deutschland so viele Menschen aus der Ukraine an wie in
       der Hauptstadt.
       
       ## Wieder in einer Ausnahmesituation
       
       Wie so oft in seiner Nachkriegsgeschichte befindet sich Berlin in einer
       Ausnahmesituation. Die erste, mit der es konfrontiert war, waren Flucht und
       Vertreibung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Nach der Luftbrücke
       verlief die Teilung Europas mit dem Bau der Mauer mitten durch die Stadt.
       Im Oktober 1961 standen sich [5][am Checkpoint Charlie US-amerikanische und
       Sowjetpanzer] kampfbereit gegenüber.
       
       Als die Volksrepublik Polen 1981 das Kriegsrecht verhängte, war Berlin ein
       Aufnahmeort von Zehntausenden Flüchtlingen. Noch vor dem Fall der Mauer
       strömten polnische Händler nach West-Berlin und machten aus dem Potsdamer
       Platz einen Polenmarkt. Im Herbst 1989 schließlich überwanden die Menschen
       in Ostberlin ihre Angst und schüttelten die Diktatur ab.
       
       In gewisser Weise ist Berlin bis heute Frontstadt geblieben, eine
       Frontstadt freilich ohne Krieg. Manche mögen sich daran erinnern, wenn sie
       Medikamente spenden oder eine Unterkunft zur Verfügung stellen. Für Jüngere
       spielt es keine Rolle: Sie sehen, wie gerade ihr Erasmus-Europa in Trümmer
       gebombt wird. Aber ist Berlin auch selbst, um Giffeys Worte zu benutzen,
       ein „Garant der Freiheit“? Kann es etwas zurückgeben von dem, was es einst
       an Hilfe bekommen hat?
       
       Es ist wohl diese Frage, worauf die Erklärung des ukrainischen Botschafters
       zielt, wenn er darum bittet, Berlin möge alles unternehmen, um die
       Verteidigungsbereitschaft der Ukraine zu stärken. Die Frage ist berechtigt.
       Denn auch die West-Alliierten standen damals vor einer schwierigen
       Entscheidung. Wie würde Moskau auf die Luftbrücke reagieren?
       
       Eines zumindest wusste man: Ein Kriegsgrund wären die Versorgungsflüge, die
       neun Monate lang im Dreiminutentakt in Tempelhof landeten, für die
       Sowjetunion nicht gewesen. Die Luftkorridore waren, anders als die
       Landverbindungen, vertraglich geregelt. Die Luftbrücke war eine logistische
       Herausforderung, aber keine militärische.
       
       ## Humanitäre Herausforderung
       
       Russlands Krieg in der Ukraine könnte nun zu einer humanitären
       Herausforderung werden. Was, wenn sich die Bombardierungen noch Wochen und
       Monate hinziehen und tatsächlich ein Viertel der Bevölkerung flieht wie in
       Syrien? Wie viele der zehn Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer würden in
       Berlin bleiben? Und was, wenn die Preise für Energie und Nahrungsmittel
       weiter steigen?
       
       Wieder einmal steht Berlin vor einer Zerreißprobe. Die Erinnerung an die
       Geschichte der Stadt mag keinen Trost spenden, aber vielleicht sorgt sie
       für den gebotenen Trotz.
       
       12 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.berlin.de/rbmskzl/aktuelles/pressemitteilungen/2022/pressemitteilung.1177975.php
   DIR [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Berlin-Blockade
   DIR [3] /Ukraine-Debatte-im-Abgeordnetenhaus/!5836736
   DIR [4] /Ukraine-Debatte-im-Abgeordnetenhaus/!5836736
   DIR [5] /60-Jahre-Panzerkonfrontation-in-Berlin/!5806540
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uwe Rada
       
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