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       # taz.de -- Berlinale drei Jahre nach #metoo: Im falschen Film
       
       > Auf der Berlinale laufen zwei „Dau“-Filme. Frauen werfen dem Regisseur
       > vor, seine Macht missbraucht zu haben. Er wird aber als Genie gefeiert.
       
       Im Jahr 2011 fährt ein Reporter für das Magazin GQ in die ukrainische Stadt
       Charkiw. Dort besucht er ein Filmset oder das, was aus einem Filmset
       geworden ist: eine Parallelwelt, in der Menschen seit Jahren leben und
       Berufen nachgehen. Bevor er diese Welt betreten darf, bekommt er ein
       Kostüm, einen neuen Haarschnitt und Make-up. Worte wie „Kostüm“ und
       „Make-up“ sind von da an aber verboten, genau wie „Dreharbeiten“ oder
       „Szene“ – die Welt, in die der Reporter eintaucht, soll so echt erscheinen
       wie möglich. Der Reporter hält sich an die Sprachregelung. In seinem Text
       beschreibt er, wie er sich auch an die anderen Regeln des Ortes halten
       wird. Ohne es zu bemerken, wird er Teil des Spiels, Teil der Welt eines
       „Wahnsinnigen, der das Filmteam zwingt, Kleidung aus der Stalinzeit zu
       tragen, Essen aus der Stalinzeit zu essen und mit Geld aus der Stalinzeit
       bezahlt zu werden“.
       
       Dieser „Wahnsinnige“ ist der Regisseur des Films: Ilja Chrschanowski. 2005
       begann er an seinem gigantischen Projekt namens „Dau“ zu arbeiten. Damals
       war er, der in eine russische Künstlerfamilie geboren wurde, 29 Jahre alt
       und hatte erst einen Film gemacht. Trotzdem bekam er die Förderung, unter
       anderem vom Medienboard Berlin-Brandenburg und von Arte.
       
       Am 26. Februar feiern zwei Dau-Filme Premiere auf der Berlinale, „DAU.
       Natasha“ läuft im Wettbewerb, „DAU. Degeneratsia“ in der Kategorie
       Berlinale Special. Roter Teppich, Blitzlicht, ganz große Kunst. Dass vor
       allem Frauen dem Regisseur Ilja Chrschanowski Machtmissbrauch und
       übergriffiges Verhalten vorwerfen, wurde hierzulande bislang kaum
       diskutiert. Wie kann das sein, drei Jahre nach #Metoo? Die Schauspielerin
       Hanna Schygulla wollte nicht mehr Teil des Projekts sein, nachdem sie eine
       Szene gesehen hatte, in der eine Frau brutal verhört wird. Eine Casterin,
       die in Berlin für Dau arbeitete, wurde vom Regisseur über ihr
       Sexualverhalten befragt. Ist die Zeit männlicher Regisseure, die alles
       dürfen, doch nicht vorbei?
       
       Die Ursprungsidee von Chrschanowski war es, die Biografie des sowjetischen
       Physiknobelpreisträgers Lew Landau zu verfilmen. Aber Chrschanowski kam
       bald davon ab. Er wollte keinen konventionellen Film machen, er wollte
       keine Schauspieler, sondern echtes Leben zeigen: echten Schmerz, echte
       Liebe, echten Sex. Und echte Gewalt – darf Kunst das? Und wo sind die
       Grenzen?
       
       Chrschanowski ließ auf 12.000 Quadratmetern eine sowjetische Stadt
       errichten, in der drei Jahre lang Menschen lebten. Alles war minutiös
       nachgebaut: Die Leute lebten in Gemeinschaftswohnungen, die Möbel
       entsprachen der Zeit ebenso wie kleinste Details. Steckdosen, Unterhosen,
       Damenbinden, sogar der Klang der Klospülung wurde angepasst. Aus einem Film
       über den Physiker Landau wurde Dau – ein Projekt, von dem niemand wusste,
       wohin es führen würde. Nicht einmal der Regisseur.
       
       Die Bewohner der Stadt gingen einer Arbeit nach, es gab eine eigene
       Zeitung, die über politische Ereignisse der Zeit, in der gerade gespielt
       wurde, berichtete und über Ereignisse aus der Dau-Stadt. Tausende
       Laiendarsteller lebten in Chrschanowskis Welt, wochen-, monate- oder
       jahrelang. Köche spielten Köche, Wissenschaftler waren Wissenschaftler,
       Prostituierte waren Prostituierte, und Nazis waren Nazis. Ziel war es, so
       nahe am Menschen und seinen Abgründen zu sein wie möglich. 400
       Wissenschaftler und Künstler aus aller Welt waren an dem Projekt beteiligt:
       unter anderem der Physiknobelpreisträger David Gross, die
       Performance-Künstlerin Marina Abramović, der Regisseur Romeo Castellucci,
       Robert Del Naja von der Band Massive Attack und der Musiker Brian Eno.
       
       Die deutsche Kameralegende Jürgen Jürges drehte drei Jahre lang. Das
       Ergebnis: 700 Stunden Material, aufgenommen an 180 Tagen – das heißt: Oft
       wurde gar nicht gefilmt, Chrschanowski ließ das Leben in seiner Stadt teils
       ein halbes Jahr lang einfach laufen. Die Bewohner sollten sich kennenlernen
       und Beziehungen aufbauen. Die Idee war: Wenn du zwei Jahre lang dieselbe
       Toilette putzt, wird es gefilmt anders aussehen, als wenn du es zum ersten
       Mal machst. Wenn du mit jemandem schläfst, den du wirklich begehrst, wird
       es anders aussehen als gespielt.
       
       Chrschanowski sagt im Interview mit der taz: „Die Sache mit der Realität
       und der Fiktion ist sehr kompliziert. Auf der einen Seite ist alles bei dem
       Projekt Realität, es sind echte Menschen und echte Gefühle. Auf der anderen
       Seite ist alles Fiktion, weil es ein Filmset ist, es gibt Kameras, Make-up,
       Technik. In dieser Welt bist du du, aber irgendwie auch nicht, du
       experimentierst, und alles kann passieren.“ Weltweit ließen sich viele für
       dieses Projekt begeistern. Gegen echtes Putzen und echten Sex gibt es wenig
       einzuwenden. Nur: Wie ist es mit echtem Machtmissbrauch?
       
       Chrschanowskis Projekt Dau sollte schon 2018 nach Berlin kommen. Der
       Regisseur wollte einen Teil der Mauer wieder aufbauen und eine kleine,
       zeitversetzte Welt errichten, in der Besucher ein Gefühl für ein
       totalitaristisches Regime bekommen. Berlins Bürgermeister Michael Müller
       fand die Idee „spannend“, Kulturstaatsministerin Monika Grütters sagte, Dau
       könne ein „Weltereignis“ werden. Lars Eidinger, Iris Berben, Tom Schilling
       und viel weitere Prominenz unterschrieben einen offenen Brief, der Dau
       unterstützte. Tom Tykwer sagte in einem Interview: „Ich bin wirklich selten
       in meinem Leben von etwas so begeistert gewesen.“ Tykwer hatte in Paris
       eine Installation von Dau besucht. Denn dorthin war das Projekt gezogen,
       nachdem es in Berlin wenige Tage vor dem geplanten Start abgesagt wurde –
       aus Sicherheitsgründen. Von Paris zog es weiter nach London.
       
       Carlo Chatrian, der neue künstlerische Direktor der Berlinale, holt Dau nun
       doch nach Berlin. In einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur sagte er,
       dass er von den Dau-Filmen „unglaublich begeistert“ war, dann „große
       Bedenken“ hatte und auch „ein wenig Angst vor diesen wuchtigen
       Bilderwelten“. Man sehe den Filmen an, dass Chrschanowski „an die Grenzen
       gegangen ist. Er hatte unfassbar viel Geld zur Verfügung. Keiner weiß,
       woher das eigentlich kommt, und vielleicht wollen wir das gar nicht
       wissen.“ Dass keiner weiß, woher das Geld kommt, stimmt so nicht. Der
       Tagesspiegel berichtete schon im August 2018 darüber, kurz darauf die
       Süddeutsche Zeitung: Auch der Regisseur spricht offen darüber, dass das
       Geld für Dau von einem Oligarchen namens Sergei Adonjew stammt. Der ist auf
       undurchsichtige Art und Weise reich geworden. Nachdem die öffentlichen
       Förderungen für Dau aufgebraucht waren, flossen private Gelder, und sie
       waren scheinbar endlos.
       
       Was genau in Chrschanowskis Welt passiert ist, in seinem stalinistischen
       Städtchen und auch bei den Vorbereitungen zum Mauerbau in Berlin, wurde in
       russischsprachigen Medien viel diskutiert. Auch in Frankreich gab es eine
       Debatte über die Hintergründe des Films. Mehrere Menschen, vor allem
       Frauen, werfen Chrschanowski vor, eine Art Kult getrieben zu haben, er soll
       die Rolle des Regisseurs für die eines Diktators aufgegeben haben.
       
       Was Carlo Chatrian von der Berlinale sagt, stimmt: Chrschanowski ist „an
       die Grenzen gegangen“. Und er hat sie überschritten. Wieder feiert die Welt
       ein männliches Genie, einen Exzentriker, die absolute Freiheit der Kunst.
       Jürgen Jürges sagte in einem Interview mit der Berliner Zeitung: „Was mich
       mit am meisten fasziniert hat, war die von Ilja ausgehende Obsession durch
       das Projekt und seine Rigorosität. Und sein Charisma. Es wurden keine
       Kompromisse gemacht.“
       
       „Ilja ist besessen von Sex und Gewalt“, sagt S., eine junge Frau, die in
       Berlin für Dau gearbeitet hat. Wie alle an dem Projekt Beteiligten hat sie
       eine Schweigeerklärung unterschrieben und kann ihren Namen nicht
       preisgeben. Der Redaktion ist er bekannt. Bei einem Treffen in einem
       Berliner Café erzählt sie von ihren Erlebnissen. S. war Streetcasterin, sie
       sollte Menschen finden, die die parallele Welt in Berlin bewohnen würden.
       
       Als sie anfing, für Dau zu arbeiten, musste sie sich zusammen mit den
       anderen Streetcastern Dau-Material aus der Ukraine ansehen, „9 Filme an
       zwei Abenden“. Nach dieser Einführung in die Dau-Welt zogen die
       Streetcaster los. S. berichtet: „Das Ganze basiert darauf, dass anfangs
       niemandem klar ist, was man tun soll. Alles ist offen, aber es gibt große
       Erwartungen: Du sollst besonders sein, dich öffnen, verletzlich sein. Das
       Motto war: Wie weit kannst du gehen?“
       
       S. ging in Bars und später in soziale Zentren, um Menschen zu finden, die
       Erfahrungen mit dem Tod, mit Suizid oder psychischen Krankheiten hatten
       „oder irgendeine Nähe zu etwas Traumatischem“. Das war die Energie, die
       Chrschanowski wollte. Nach etwa einem Monat hatte S. das Gefühl, etwas
       Falsches zu tun. „Wir waren so was wie Therapeuten von Fremden, wir
       gewannen ihr Vertrauen, ihre Geschichten und wussten aber nicht, wohin
       wir diese Leute treiben.“ Manche machten den Job für Geld, S. fand ihn
       anfangs interessant. Außerdem war da dieses Versprechen, Teil von etwas
       Besonderem zu sein, auch wenn man gar nicht wusste, was genau das war.
       
       S. sagt, dass sie nach etwa einem Monat bei Dau ein Einzelgespräch mit
       Chrschanowski hatte. Sie trafen sich in der Dau-Kantine in der Nähe der
       Volksbühne, dort war alles schon nachgebaut im sowjetischen Stil. „Das
       Gespräch war sehr unangenehm. Er sitzt da und raucht und schaut dich von
       oben bis unten an. Dann stellt er plötzlich sehr persönliche Fragen, zum
       Beispiel: Ich sehe, dass du vielleicht schon mal Sex mit Frauen hattest.
       Stimmt das?“
       
       S. sagt, für Männer war Chrschanowski einfach ein toller, erfolgreicher
       Typ. Ihnen seien diese Fragen zum Thema Sex nicht gestellt worden. „Sie
       haben diese Energie natürlich auch nicht gespürt, wenn du da reinkommst und
       der Typ sitzt so Harvey-Weinstein-mäßig da.“ Alle Frauen, die dort
       gearbeitet hätten, seien „konventionell schön“ gewesen. S. glaubt, sie
       wurden nach Sexyness ausgewählt. „Ilja spielt sehr mit den Rollen des
       starken Manns und der sensiblen Frau. Und du bist extra sensibilisiert,
       weil du ständig nach innen gehen musst und dich hinterfragen: Mache ich das
       richtig? Er nutzt das aus. Er ist immer etwas flirty. Ich bin Feministin,
       aber es war schwer, sein Spiel nicht mitzuspielen.“
       
       Chrschanowski bestreitet nicht, seinen Mitarbeiterinnen sehr persönliche
       Fragen auch zum Thema Sex gestellt zu haben – „weil es bei Dau um
       Existenzielles geht. Du musst bereit sein, dich in diese Zone zu begeben –
       oder eben nicht. Das ist kein normaler Film, unser Material ist das Leben.
       Und das musst du verstehen, wenn du mitmachen willst“, sagt er.
       
       „Bei so gottähnlichen Figuren ist es so, dass man ihnen nahe sein will, was
       beweisen will und sie gleichzeitig hasst“, beschreibt S. ihr Verhältnis zu
       Chrschanowski zum damaligen Zeitpunkt. Sie war hineingerutscht in das, was
       sie „Kult“ nennt. „Jeder wollte, dass Ilja ihn mag. Jeder wollte zeigen,
       dass er besonders ist. Ich weiß, das ist schwer nachvollziehbar. Es fühlt
       sich an wie eine andere Welt, alles ist so surreal, und irgendwann bist du
       da drin. Du bist klein, aber Teil von etwas Großem – wie in der
       Sowjetunion. Ilja ist psychologisch klug, er kann Knöpfe drücken.“ S. steht
       Wasser in den Augen, während sie erzählt.
       
       Drei Monate nachdem S. angefangen hat, für Dau zu arbeiten, findet eine
       Party statt. Mit russischem Essen und viel Wodka. „Alle waren total
       betrunken“, sagt S. „Am Morgen danach wurden fast alle gekündigt, die mit
       mir angefangen haben, auch ich. Einfach so.“ S. beschreibt diese Taktik von
       Chrschanowski, wie sie mehrfach auch in russischen Medien beschrieben
       wird: Menschen werden in Wellen angestellt und ohne Begründung wieder
       rausgeschmissen. „Wer nach der Kündigung zu ihm kam und sagte: ‚Dieses
       Projekt ist mir wirklich wichtig, es ist Teil meines Lebens‘, der durfte
       vielleicht bleiben“, sagt S.
       
       S. erlebte all das als verwirrenden Sog, in dem sie die Kontrolle verlor.
       Bis sie das Projekt verließ. „Es hat mich destabilisiert. Ich hatte danach
       krasse Angstzustände und konnte ein paar Wochen lang nicht so viel machen,
       ich habe viel geweint.“ Jetzt sei sie froh, darüber zu erzählen. Es sei
       gut, wenn Menschen davon erführen, „obwohl mir bewusst ist, wie schwer es
       ist, das zu erklären, weil es wirklich Gehirnwäsche ist“. Zu den Dau-Filmen
       auf der Berlinale wird S. nicht gehen.
       
       S. sagt, dass in dem Filmmaterial, das sie zu Beginn ihrer Arbeit für Dau
       gesehen hat, eine Vergewaltigung vorkam. Eine andere Mitarbeiterin habe
       deswegen gekündigt. „Es ist bei dem Projekt immer die Frage, ob es
       dokumentarisch ist oder nicht. In der Szene, die ich gesehen habe, war
       wirklich nicht klar, ob die Frau das wollte oder nicht. Das war auch meine
       Erfahrung bei dem Projekt: Es ist sehr schwer, Nein zu sagen und zu
       verstehen, wo für dich die Grenze liegt.“ S. glaubt, Chrschanowski gehe zu
       weit. „Ich habe ihn gefragt: Warum ist das ganze Ding so riesig geworden?
       Und er sagte: Es ist einfach so passiert. Dann konnte ich nicht aufhören.“
       
       Das unabhängige russische Kulturmagazin Colta veröffentlichte 2010 eine
       Reihe von Interviews mit Menschen, die am Set in Charkiw gearbeitet haben.
       Sie erzählen von einem Mann, der irgendwann seinen Film aus dem Blick
       verloren hat und vor allem eines wollte: weitermachen. Geld war ja da, und
       in der Ukraine war ohnehin alles günstig.
       
       Auf colta.ru liest man von 16-Stunden-Tagen, Jobs, die angeboten und sofort
       wieder entzogen wurden, willkürlichen Beförderungen, von schlechter
       Bezahlung, die es mal gab, mal nicht, von einem generellen Chaos und einem
       Chef, der absolute Ergebenheit forderte. In anderen russischsprachigen
       Medien ist die Rede von etwas, was Sklaverei ähnelt, auch von „Kult“ und
       „Sekte“.
       
       Eine Produktionsassistentin, deren Name mit V. abgekürzt ist, erzählt auf
       colta.ru: „Es scheint mir, dass es völlig romantische Ideen von diesen
       Dreharbeiten gibt. Dieses Projekt ist das Spiel einer Person – Ilja. [...]
       Das ist ein Projekt, bei dem man nicht schläft, nicht isst und nicht
       bezahlt wird. Nur wer sich sehr schuldig fühlt, kann das lange ertragen.“
       
       Die Produktionsassistentin berichtet außerdem, dass Chrschanowski es
       ausgenutzt habe, dass in der Gegend um Charkiw große Armut herrscht. Die
       Stadt musste sich nach Chrschanowski erholen – „wie nach einem Krieg“,
       erzählt V. Sie beschreibt die Welt, die dort entstanden war, als „sehr
       negativ“.
       
       In der zu Beginn dieses Texts erwähnten Reportage in der amerikanischen GQ
       sagt ein ehemaliger Mitarbeiter von Dau dem Reporter: „Hier zu arbeiten
       ist, wie der Typ zu sein, der getötet und gegessen werden will und dann den
       Irren findet, der ihn tötet und isst.“ Der GQ-Reporter berichtet von Yulia,
       einem „typischen Fall“. Einer schlanken, schönen Frau, die für ein
       Vorstellungsgespräch in Charkiw war, sie hatte sich für einen der
       „scheinbar endlosen“ Posten der Regieassistentinnen beworben. Was genau der
       Job war, war unklar.
       
       ## Nackt auf einem Stuhl
       
       Yulia wartete laut GQ sechs Stunden, dann kam Chrschanowski. Yulia sagte:
       „Ich habe den ganzen Tag auf Sie gewartet“ – und Chrschanowski: „Ich habe
       mein ganzes Leben auf dich gewartet.“ Ein Gespräch über Kunst folgte, dann
       sollte Yulia dem Jahr 1952 entsprechend angezogen werden. Die Frisur allein
       dauerte zwei Stunden. Danach sprachen Chrschanowski und Yulia weitere zwei
       Stunden, bis drei Uhr nachts, privat. Es ging schnell um Sex. Chrschanowski
       fragte, wann Yulias erstes Mal war, ob sie einen Fremden in einer Bar
       ansprechen und mit ihm Sex haben könne, obwohl sie nur seinen Namen kennt.
       Hat sie Freundinnen, die Prostituierte sind?
       
       Yulia sagte dem GQ-Reporter: „An dem Punkt hatte ich zwei Nächte nicht
       geschlafen, ich wollte nur, dass es vorbei ist.“ Als Yulia Chrschanowski am
       nächsten Morgen sah, habe sie unkontrolliert zu zittern begonnen. Kurz
       darauf ließ ein Assistent sie wissen: „Du und Ilja, ihr habt sehr
       unterschiedliche Perspektiven auf das Leben.“ Yulia musste nach Hause
       fahren. Der GQ-Reporter ist sich sicher, dass es viele Dutzende Yulias
       gegeben hat. „Manche waren einen Tag da, andere einen Monat. Manche hatten
       Spaß, andere posttraumatische Belastungsstörungen.“
       
       In den Dau-Filmen geht es um menschliche Abgründe, tiefe Gefühle und
       Exzesse. Die Berlinale kündigt „DAU. Natasha“ an als „eine
       provokativ-grenzüberschreitende Erzählung über den Kampf um Macht und
       Liebe, als Analyse des Totalitarismus“, als „radikales Kino zwischen
       Fiktion und Realität“.
       
       Die Hauptfigur Natasha wird in einer Szene von einem KGB-Mann verhört, sie
       sitzt nackt auf einem Stuhl und wird gezwungen, eine Flasche in ihre Vagina
       einzuführen – „eine „unsanfte“ Erfahrung“, heißt es dazu im
       Berlinale-Ankündigertext, „für Natasha (und für uns)“.
       
       Der Mann, der Natasha verhört, war wirklich ein hohes Tier beim KGB, er hat
       in Lagern in Sibirien gearbeitet und ein Gefängnis in Charkiw geleitet. Die
       Frage ist, wo zwischen Realität und Fiktion sich diese Szene abgespielt
       hat. Beantworten kann das nur Natasha Berezhnaya, die die Hauptrolle
       „spielt“.
       
       Die taz konnte bislang nicht mit ihr sprechen. In einem Interview, das in
       der Pressemappe zum Film abgedruckt ist, antwortet sie auf die Frage, ob
       sie während ihrer Zeit bei „Dau“ eine Rolle gespielt habe: „95 Prozent der
       Zeit war das ich. Nach dem Filmen musste ich nicht in mein echtes Ich
       wechseln. Manchmal war es beängstigend, manchmal schmerzhaft, manchmal hat
       es Spaß gemacht und manchmal war es böse.“
       
       Chrschanowski weist jegliche Gewaltvorwürfe zurück, sagt aber auch:
       „Emotional ist Natasha in dieser Szene ehrlich, die Emotionen sind
       Realität, aber physisch ist das keine Realität. Sie weiß, dass ihr nicht
       wirklich etwas passieren kann.“ Kameramann Jürgen Jürges beschreibt die
       Szene in einem Interview der Pressemappe so: „Natürlich ist das keine
       angenehme Szene, aber wir konnten sehen, dass Azhippo [der Folterer;
       Anmerkung der Redaktion] sein Handwerk komplett verstand, wie er das Verhör
       führte war böse, fand ich. Eine sehr schwierige Szene, fand ich. Und
       Natasha, die so unter seinem Einfluss stand, sozusagen... sie hat nie ihre
       Würde verloren.“
       
       Auch wenn man davon ausgehen will, dass Natasha Berezhnaya, eine Frau die
       am Markt von Charkiw gecastet wurde, die Szene „spielte“, stellt sich die
       Frage: Ist es in Ordnung, eine Frau, die in ihrem Leben nichts mit Film zu
       tun hatte und schon einige Zeit in einer Parallelwelt verbracht hat, einem
       professionellen KGB-Folterer entgegenzusetzen? War Natasha Berezhnaya in
       diesem Moment psychisch und emotional in der Lage, eine freie Entscheidung
       zu treffen?
       
       Chrschanowski zeigt Gewalt im Namen der Kunst. Vielleicht hätte er die
       Beteiligten schützen müssen, auch vor dem eigenen Kontrollverlust.
       
       Als Hanna Schygulla den Film in Paris sah, verließ sie bei der Szene mit
       der Flasche den Raum. Laut Le Monde hatte Schygulla das Dau-Projekt vorher
       interessant gefunden. Nach der Szene wollte sie Natasha aber, anders als
       bereits vereinbart, nicht mehr synchronisieren. „Ich wollte nicht sehen,
       wie diese Frau, Natasha, vom KGB gequält wird“, sagte Schygulla zu Le
       Monde. Auch eine andere französische Schauspielerin habe den Anblick von
       Natasha bei dem Verhör nicht ertragen können und die Zusammenarbeit
       verweigert. „Das kann ich nicht zulassen. Diese Frau leidet wirklich!!“,
       soll sie geschrien haben. Chrschanowski habe geantwortet: „Scheiß drauf,
       sie ist nur eine Prostituierte, die ich in einem BDSM-Bordell gefunden
       habe.“
       
       Chrschanowski wird auch vorgeworfen, Projektteilnehmer manipuliert zu
       haben, Sex miteinander zu haben. In den Interviews mit der
       Produktionsassistentin und anderen auf colta.ru wird das erwähnt.
       
       Im Film beginnt Natasha eine Affäre mit einem Ausländer – deshalb wird sie
       später vom KGB verhört. Der Ausländer ist der französische Astrologe Luc
       Bigé. Bigé sagte gegenüber Le Monde: „Als ich Natasha kennenlernte, fühlte
       ich mich zu ihr hingezogen, wir hatten viel Freizeit, und eines Tages
       betranken wir uns, und ich hatte Sex mit ihr. Am nächsten Tag wachte ich
       völlig krank auf und erinnerte mich an nichts. Da wurde mir klar, dass ich
       absichtlich betrunken gemacht worden war.“ So sei Ilja vorgegangen. „Es gab
       kein Drehbuch, aber einen Plan. Alles war gesteuert. Aber ich bereue es
       nicht. Der Film ist anstößig, aber mich persönlich hat er von Komplexen
       befreit.“
       
       Ein anderer Vorfall macht deutlich, dass es Chrschanowski irgendwann
       weniger um Realität als um Provokation ging. Die letzten Szenen, die in
       Charkiw 2011 gedreht wurden, waren: eine große Party am Institut des
       Physikers Landau. Junge Männer kommen, töten die Wissenschaftler,
       schlachten ein Schwein und zerstören das Institut.
       
       Das Schlachten des Schweins ist echt. Die jungen Männer werden gespielt von
       echten Neonazis, unter ihnen der Russe Maxim Martsinkewitsch; er war
       Anführer der rechtsextremen Kampfgruppe „Format 18“ und der homophoben
       Gruppe „Occupy Pedophilia“. Martsinkewitsch sitzt gerade wieder wegen
       Extremismus im Gefängnis. Laut Le Monde sollen er und seine Freunde den
       homosexuellen Assistenten von Marina Abramović geschlagen und gedemütigt
       haben. Der Regisseur bestreitet das.
       
       In einem Interview, das auf YouTube zu sehen ist, erzählt Chrschanowski,
       warum diese jungen Männer Neonazis sein mussten. Anfangs hatte er dafür
       junge Wissenschaftler vorgesehen, es sollte eine Art Generationswechsel
       sein, die Jungen werfen die Alten gewaltsam aus dem Institut. Chrschanowski
       hat also echte junge Wissenschaftler gecastet. „Aber sie hatten keine
       Energie“, sagt er. Er ersetzte sie durch brutale Nazis.
       
       Carlo Chatrian, der Direktor der Berlinale, findet am Freitag Zeit für ein
       Statement. Bezüglich der Gewaltvorwürfe schreibt er: „Diese Vorwürfe kenne
       ich nicht. Wir haben die Produktion darauf angesprochen, aus deren Sicht
       ist dies nicht passiert.“
       
       22 Feb 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Viktoria Morasch
       
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       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Getötete Frauen in Lateinamerika: 4.000 Mordfälle
       
       „Ni una más – keine weitere mehr“ heißt die Parole der lateinamerikanischen
       Feministinnen. Sie richtet sich gegen die alltägliche Gewalt an Frauen.
       
   DIR #MeToo-Film „The Assistant“ – Berlinale: Die Praktiken ihres Chefs
       
       Die Regisseurin Kitty Green erzählt in ihrem Spielfilmdebüt „The Assistant“
       präzise von #MeToo. Übergriffige Männer zeigt sie keine.
       
   DIR Der „Dau“-Bluff im Berlinale-Wettbewerb: Da ist gar kein Elefant
       
       Filmmaterial, das nur aus Längen besteht. Schauspieler, die sich fast
       reales Leid zufügen. Ein manipulativer Regisseur. Wer braucht „DAU.
       Natasha“?
       
   DIR Prozess gegen Harvey Weinstein: Ein Urteil für die vielen
       
       Der Prozess gegen den Filmproduzenten kommt zu einem Schluss, der Hoffnung
       macht. Diese eine Verurteilung darf aber nicht das Ende von MeToo sein.
       
   DIR Urteil wegen sexueller Übergriffe: Weinstein schuldig gesprochen
       
       Im Prozess gegen Harvey Weinstein wegen mutmaßlicher sexueller Übergriffe
       hat die Geschworenenjury den Ex-Filmproduzenten schuldig gesprochen.
       
   DIR Spielfilm „Undine“ auf der Berlinale: Das romantische Gefühl
       
       Christian Petzolds „Undine“ ist ein existenzialistischer Liebesfilm. Er
       spielt vor der Kulisse einer restaurativen Berliner Gegenwart – aber mit
       Nixe.
       
   DIR Berlinale-Regisseur über Autobiografie: „Es war wichtig, Grenzen zu setzen“
       
       Auf der Berlinale präsentiert Faraz Shariat seinen Film „Futur Drei“. Ein
       Gespräch über autofiktionales Erzählen, Musikvideo-Ästhetik und den Iran.
       
   DIR Prozess gegen Harvey Weinstein: Kurz vor der Wahrheit
       
       Nach den Schlussplädoyers ist der inhaltliche Teil des Prozesses vorbei,
       nun muss die Jury entscheiden. Welcher Erzählung wird sie glauben?
       
   DIR Kritik an der Deutschen Welle: Macht und Missbrauch
       
       Mitarbeiter*innen der Deutschen Welle haben sich an die taz gewandt.
       Sie sagen, das Arbeitsklima sei von Drohungen und Machtmissbrauch geprägt.
       
   DIR Berlinale-Jurypräsident Jeremy Irons: Der Gentleman als Hofnarr
       
       Der Schauspieler Jeremy Irons wird Jurypräsident des Berliner
       Filmfestivals. Seine öffentlichen Bemerkungen sorgen oft für Befremden.