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       # taz.de -- Berliner Grüne im Wahlkampf: Mitte(n) in der Arena
       
       > Özcan Mutlu will wieder in den Bundestag, doch wollen das auch die
       > Mitte-Grünen? Auch Bürgermeister Stephan von Dassel hat einen
       > Gegenkandidaten.
       
   IMG Bild: Mittes Bezirksbürgermeister Stefan von Dassel, hier mit der Verkehrssenatorin, bekommt Gegenwind
       
       Samstagnachmittag im Humboldthain. Die Sonne erreicht endlich mal
       wieder Werte deutlich über 20 Grad, auf den Wiesen sonnen sich Dutzende
       oder sporteln. Neben einem ausladenden Ahornbaum aber sitzt eine Gruppe von
       knapp 15 Leuten im Halbkreis auf Kissen und Picknickdecken und hört
       konzentriert zu. Eine Frau Mitte 20 im Schneidersitz sagt gerade, dass sie
       eine Präferenz für eine Koalition mit SPD und Linkspartei habe – was aber
       auch davon abhänge, „wie die Linkspartei zum Regieren steht“. Hanna
       Steinmüller ist das, die für die Grünen in Mitte 2021 in den Bundestag
       will. Das Picknick am Ahorn hat der Kreisvorstand der Partei organisiert,
       damit die Mitglieder sie kennenlernen können – sie und ihren
       [1][Gegenkandidaten Özcan Mutlu, der sich nach ihr vorstellt].
       
       Wobei die Mitglieder die beiden längst kennen müssten, aber eben nicht
       unbedingt persönlich: Steinmüller ist Mitglied im Landesvorstand, war schon
       Kandidatin bei der Europawahl 2019 und sitzt seit April auch im
       Bezirksparlament von Mitte. Und Mutlu war über ein Jahrzehnt lang der
       führende grüne Bildungspolitiker im Abgeordnetenhaus, bevor er 2013 in den
       Bundestag kam, aber vier Jahre später sein Mandat wieder verlor.
       
       Es ist nicht das erste Picknick dieser Art bei den Grünen in Mitte: Wer
       wollte, konnte schon eine Woche vorher zwei anderen Bewerbern zuhören.
       Allerdings nicht für die Bundesebene, sondern für die
       Bürgermeisterkandidatur im Bezirk: Stephan von Dassel, dem Amtsinhaber, und
       Tilo Siewer, dem Fraktionschef in der Bezirksverordnetenversammlung, dem –
       kurz gefasst – von Dassels Art zu regieren nicht passt und zu wenig grün
       ist.
       
       Ein Fraktionschef, der den eigenen Regierungschef offen kritisiert und
       herausfordert, und das in einem von nur zwei grün geführten Rathäusern in
       Berlin: Für eine vergleichbare Konstellation anderswo müsste man schon ein
       bisschen suchen in der deutschen Politikgeschichte. Zusammen mit dem
       prominent besetzten Duell um die Bundestagskandidatur macht das den grünen
       Kreisverband zur derzeit spannendsten Politikarena der Stadt. Das gilt
       neben Bund und Bezirk auch für die Landesebene, weil ja auch Ramona Pop aus
       Mitte kommt, eine der beiden potenziellen grünen Spitzenkandidatinnen für
       die Abgeordnetenhauswahl.
       
       ## Mutlus Kandidatur sei „störend“, heißt es
       
       Bürgermeister-Anwärter Siewer ist im Humboldthain unter den Zuhörern, er
       nickt mit dem Kopf, als Bundestagsbewerber Mutlu fordert, dass auch die
       Bezirksverwaltung diverser wird, mehr Mitarbeiter mit Migrationshintergrund
       haben soll. Mehr Diversität ist neben Armutsbekämpfung und Klimaschutz
       Siewers Hauptthema. Mutlu ergreift nun allerdings nicht Partei für Siewer:
       Das Thema hätten sich sowohl der Fraktionschef wie von Dassel auf die
       Fahnen geschrieben, sagt Mutlu diplomatisch, „wir haben zwei gute
       Kandidaten.“ Etwas anderes zu sagen würde auch potenzielle Unterstützer
       verprellen.
       
       Denn Unterstützung hat Mutlu nötig: Spricht man mit führenden Leuten im
       Kreisverband, kann man das Gefühl bekommen, seine Kandidatur werde als
       störend empfunden. Zweimal habe Mutlu schon in Mitte kandidiert und dann
       immer versprochen, genug migrantische Wähler zu mobilisieren. Schließlich
       sei er aber jedes Mal weit unter den Erwartungen geblieben. 2017 lag sogar
       der nicht gerade beliebte Ex-Innensenator Frank Henkel von der CDU vor ihm.
       
       Mutlu hingegen nimmt seine eigene Partei beim Wort, die sich per Statut
       vorgenommen hat, selbst diverser zu werden. 69 Minister und Staatssekretäre
       hätten die Grünen in deutschen Landesregierungen, hat er zusammengerechnet,
       doch nur drei davon hätten einen Migrationshintergrund, inklusive Berlins
       aus Rumänien stammender Wirtschaftssenatorin Pop. „Mir kommt die Galle
       hoch“, sagt Mutlu, „wenn ich höre, dass unser Landesvorstand über eine
       Kandidatenliste für den Bundestag diskutiert, wo vom ersten bis zum siebten
       Platz alle weiß und deutsch sind.“ Wobei klar ist, dass er mit „deutsch“
       meint: ohne Migrationshintergrund.
       
       Auf den Landesvorstand ist Mutlu hier in Mitte nicht angewiesen: Über die
       Kandidatur im Wahlkreis entscheiden am 4. Oktober allein die fast 1.700
       Mitglieder des Kreisverbands. Halbwegs outdoor passiert das im Poststadion
       nahe dem Hauptbahnhof, wo auf der überdachten Tribüne die zu erwartenden
       300 bis 400 Teilnehmer corona-konform Platz finden sollen.
       
       ## Immer nur Männer-Kandidaten
       
       Gemessen an dem, was führende Köpfe über Mutlu sagen, müsste es im
       Humboldthain die eine oder andere kritische Frage an ihn geben. Doch die
       Mitglieder wollen von ihm wie vorher von Steinmüller fast ausschließlich
       wissen, wie er zu zentralen Themen steht – bei ihm sind das Bildung und
       Inklusion, bei Steinmüller Kinderarmut und Klimaschutz. Allein Steinmüller
       merkt in ihren Eingangsworten an, dass sie es aus feministischer Sicht
       nicht gut finde, dass der Kreisverband seit zwanzig Jahren immer nur Männer
       für den Bundestag aufgestellt habe.
       
       Der Termin im Humboldthain fordert sie und Mutlu weit mehr als ein
       Parteiabend in einem Saal. Geräusche und andere Besucher im Park sorgen für
       Ablenkung – während Steinmüller sagt, sie wolle „Parks statt Parkplätze“
       und „Blütenstaub statt Feinstaub“, trainiert nur ein paar Meter entfernt
       eine kleine Gruppe Selbstverteidigungstechniken. Und als Mutlu dran ist,
       brilliert nebenan eine Frau mit einem Gymnastikreifen. Ein Rededuell, ein
       direktes Kontern von Aussagen, gibt es an diesem Nachmittag nicht. Das soll
       zum Monatsende in digitaler Form folgen, kündigt ein Mitglied des
       Kreisvorstands an.
       
       Dann wird die andere Entscheidung, jene um die Bürgermeisterkandidatur
       zwischen von Dassel und Siewer, schon gefallen sein – ebenfalls bei einer
       Mitgliederversammlung im Poststadion, bereits am 26. September. Siewer mag
       sich bei diesem Duell nicht nur an von Dassel abarbeiten. „Meine Kandidatur
       ist nicht nur ein Antibild – das wäre zu wenig“, sagt er der taz am Rande
       des Picknicks im Humboldthain auf die Frage, was denn der aktuelle
       Bürgermeister so wenig gut mache, dass ihn die eigenen Leute ablösen
       müssten.
       
       Beim Klimaschutz sieht Siewer Versäumnisse, [2][beim Umgang mit Obdachlosen
       im Bezirk missfällt ihm von Dassels Stil]. „Auch ich würde als
       Bezirksbürgermeister möglicherweise mal gezwungen sein, Maßnahmen wie eine
       Räumung anzuordnen“, sagt er, „aber die würde eingebettet sein in helfende
       Maßnahmen. Statt Journalisten würde ich Sozialarbeiter mitbringen.“ Er
       bekomme immer wieder die Rückmeldung, „dass sich die Leute nach einem
       positiveren Politikstil sehnen“.
       
       ## Sozialarbeit versus Ordnungspolitik
       
       Von Dassel, an diesem Nachmittag nicht im Humboldthain, hat tags zuvor im
       Gespräch mit der taz keine so großen Differenzen zwischen ihm und Siewer
       gesehen, er erkenne eher ähnliche Themen. Und er mag es auch nicht so
       stehen lassen, dass er beim Thema Obdachlosigkeit vor der Räumung nicht
       auch auf Sozialarbeiter setze. Die will er sehr wohl losgeschickt haben –
       „aber irgendwann kommt auch Sozialarbeit an einen Punkt, wo die
       hygienischen Bedingungen und die Frage der Sicherheit einen Eingriff der
       Ordnungsbehörden unumgänglich machen“.
       
       Im Humboldthain klettert inzwischen ein halbes Dutzend Kinder in dem
       benachbarten Ahornbaum, als auch Mutlu erzählt, was für eine
       Regierungskoalition er sich denn nach der Bundestagswahl wünsche. Wie bei
       Steinmüller ist es eine aus den Farben Rot und Grün. Doch Mutlu befürchtet:
       „Das wird an der Linkspartei scheitern“ – es sei denn, der
       rot-rot-grün-erprobte Berliner Landesverband der Linken bekomme auf
       Bundesebene mehr zu sagen.
       
       Auch bei ihm ist die vorgesehene Dreiviertelstunde aus Vorstellung und
       Fragen schnell vorüber. „Wir werden uns noch oft genug sehen in den
       nächsten Wochen“, verabschiedet ein Kreisvorstandsmitglied die Teilnehmer –
       spätestens bei den Abstimmungen im Poststadion, mit Arena-Atmosphäre.
       
       13 Sep 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Gruenen-Politiker-will-in-den-Bundestag/!5704301/
   DIR [2] /Ehrenamtspreis-abgelehnt/!5637024/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Alberti
       
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