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       # taz.de -- Berliner Krankenhausstreik: Unerträglicher Normalzustand
       
       > Seit mehr als drei Wochen streiken Beschäftigte von Charité und
       > Vivantes-Kliniken. Jetzt scheint Bewegung in die Verhandlungen zu kommen.
       
   IMG Bild: Transparent vor dem Bettenhaus der Charité
       
       Berlin taz | Eine Gruppe Schwäne zieht im dunklen Wasser des Urbanhafens
       ihre Bahnen. Am Ufer vor dem Urban-Krankenhaus sitzen drei
       Krankenschwestern unter einem Zeltdach, dem Streikstand von Verdi. Die
       Frauen – eine ist Anästhesie-, die anderen sind OP-Schwestern – sind am
       Donnerstagmittag die Stallwache. Die übrigen Streikenden seien zu
       Gesprächen in der Vivantes-Zentrale, erzählt eine.
       
       Seit dem 9. September schon dauert der [1][Berliner Krankenhausstreik] an.
       Im Unterschied zur Charité habe der Vivantes-Konzern kein passables Angebot
       vorgelegt: „Die stellen sich stur“, sagt eine der OP-Schwestern.
       
       Zu wenig Personal, zu hohe Arbeitsbelastung, unfaire Bezahlung – schon im
       Mai stellten die Beschäftigten von Charité, Vivantes und den
       Vivantes-Tochtergesellschaften ein 100-Tage-Ultimatum an die Konzerne, die
       Arbeitsbedingungen zu verbessern. Es verstrich ergebnislos und mündete in
       einen dreitägigen Warnstreik Ende August. Eine Einigung bleib aus. In einer
       Urabstimmung votierten fast 100 Prozent für einen unbefristeten
       Erzwingungsstreik. Seit drei Wochen wird nun gestreikt.
       
       Charité und Vivantes sind landeseigene Klinikkonzerne, sie stellen zusammen
       rund 9.000 der 22.000 Berliner Betten. In den Aufsichtsräten sitzen neben
       dem – noch – Regierenden Bürgermeister Michael Müller Finanzsenator
       Matthias Kollatz und Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (alle SPD). Die
       Forderungen richten sich daher nicht nur an die Klinikleitungen, sondern
       auch an die Politik.
       
       ## Arbeitsmarkt leergefegt
       
       Dabei geht es den Pflegekräften vor allem um eines: Entlastung. Weil sie in
       teils [2][patientengefährdender Unterbesetzung] arbeiten, werden immer mehr
       krank oder kehren dem Beruf den Rücken. Neue Pflegekräfte gibt es nicht.
       Der Arbeitsmarkt ist leergefegt, wie die Pandemie eindrücklich zeigte.
       
       Bei der Charité liegt bereits ein Angebot auf dem Tisch, beide Seiten haben
       sich in einigen Punkten deutlich angenähert. So sollen Mitarbeitende nach
       fünf Schichten in Unterbesetzung einen zusätzlichen freien Tag bekommen.
       Allerdings soll dieser Freizeitausgleich gedeckelt sein. Eine Einigung
       haperte laut Verdi-Angaben zuletzt noch an der Festschreibung von
       Mindestpersonalbesetzungen.
       
       Bei Vivantes war man deutlich knausriger: Einen Freizeitausgleich soll es
       erst nach 12 Diensten in Unterbesetzung geben. Auch sei das Angebot für
       einen Mindestpersonalschlüssel „schlechter als der derzeitige Zustand“,
       sagt Silvia Habekost. Die Anästhesie-Schwester sitzt als Mitglied der
       Verdi-Tarifkommission mit am Verhandlungstisch.
       
       Die Vivantes-Klinikleitung betont die Auswirkungen des Streiks: Mehr als
       1.000 Krankenhausbetten seien gesperrt, Schlaganfallpatient:innen
       könnten nur eingeschränkt versorgt werden, 2.000 Patient:innen warteten
       auf verschobene Operationen, darunter 200 Tumorpatient:innen. „Der Streik
       ist für alle belastend“, erwidert Silvia Habekost. „Aber wir erfahren ganz
       viel Unterstützung von den Patienten, auch von Ärzten – weil der
       Normalzustand so unerträglich ist und wir den für die Zukunft verbessern
       müssen.“
       
       ## Zwei Operationen gleichzeitig
       
       Die Krankenschwestern im Verdi-Streikstand ziehen ihre Jacken enger um den
       Körper. Ein steifer Wind pustet die Flugblätter vom Tisch. In zwei
       Operationsälen seien sie oft gleichzeitig tätig, erzählen die Frauen. „Man
       springt hin und her“. Sie sei seit 35 Jahren am Urban, sagt die
       Anästhesie-Schwester, die Arbeit mache immer noch Spaß, aber die ständige
       Gängelei der Krankenhausleitung sei psychisch belastend: „Schneller,
       schneller, mehr, mehr.“ Chefärzte, schimpft eine der OP-Schwestern, die
       könne sich der Konzern leisten, und Oberärzte gebe es massenhaft. „Ein
       Oberarzt“ rechnet eine der Frauen vor, bekommt netto so viel wie ich in 5
       Monaten.“
       
       Nicht nur Pflegekräfte streiken, sondern auch das Personal der Reinigung,
       Essensausgabe und Sterilisation, Laborangestellte, Arzthelfer:innen,
       Physiotherapeut:innen. Sie sind größtenteils bei
       Vivantes-Tochtergesellschaften beschäftigt. Wenn sie nicht vorher beim
       Mutterkonzern Vivantes tätig waren, verdienen sie deutlich schlechter – bis
       zu 900 Euro weniger für dieselbe Arbeit.
       
       Viele erhalten laut Verdi nicht einmal den Landesmindestlohn von 12,50
       Euro. Verlangt wird daher die Eingliederung in den Tarifvertrag des
       öffentlichen Dienstes. Und weil man realistisch sei, sagt
       Verdi-Verhandlungsführer Ivo Garbe, fordere man das nicht von jetzt auf
       gleich, sondern in einem Stufenplan. „Aber klar ist: Die Beschäftigten
       müssen schon in diesem Jahr mehr Geld bekommen.“
       
       Am vergangenen Freitag hatte Vivantes erstmals „ein verhandlungsfähiges
       Angebot“ für die Tochtergesellschaften vorgelegt, so Garbe. Er habe
       Hoffnung, dass die Verhandlungen noch in dieser Woche weitergehen könnten.
       
       An dieser Stelle kommt auch noch Franziska Giffey ins Spiel. In der
       Zionskirche in Prenzlauer Berg traf sie sich zwei Tage nach ihrem Wahlsieg
       mit den Streikenden und schlug ihren SPD-Kollegen, den früheren
       Brandenburger Ministerpräsidenten Matthias Platzeck als Vermittler in den
       festgefahrenen Verhandlungen vor. Die taz ließ Giffey wissen, dass „bei den
       anstehenden Sondierungsgesprächen mit allen Parteien die
       Krankenhausfinanzierung ein wichtiges Thema sein wird.“
       
       ## Politiker erzählen viel
       
       Tatsächlich haben die kommunalen Krankenhäuser in den vergangenen Jahren
       vom Senat so wenig Geld für Investitionen bekommen, dass sie die mit
       Eigenmitteln querfinanzieren mussten, die eigentlich in die
       Patientenversorgung fließen könnten. Und der Senat wird seit 2001 von der
       SPD angeführt.
       
       „Die Politiker erzählen viel, aber es bewegt sich trotzdem nichts“,
       fürchtet Vivantes-Pflegekraft Silvia Habekost. Wenn allen klar sei, dass es
       so nicht weitergeht, „wieso braucht man dann 23 Tage Streik?“. Zum
       taz-Redaktionsschluss dauerten die Verhandlungen bei Vivantes und Charité
       noch an. Es sei „absolut frustrierend“, sagt auch die OP-Schwester vor dem
       Urban-Krankenhaus. Im Grunde gebe es den Pflegenotstand schon seit 30
       Jahren. „Der Bahnstreik war ganz groß in den Medien.“ Der
       Krankenhaus-Streik werde kaum beachtet.
       
       30 Sep 2021
       
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