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       # taz.de -- Bernie Sanders in Berlin: „Mehr mit Millionären anlegen!“
       
       > US-Senator Bernie Sanders ist nie Präsident geworden. Doch er
       > mobilisierte viele junge Leute. Heute blickt er enttäuscht auf die
       > Demokratische Partei.
       
   IMG Bild: Immer kämpferisch: Bernie Sanders
       
       taz: Herr Sanders, während wir uns hier treffen, um über Ihr Buch zu
       sprechen, schaut die Welt auf Israel und Gaza. Nehmen wir an, Sie wären
       heute US-Präsident. Was würden Sie anders machen als Joe Biden? 
       
       Bernie Sanders: Ich bin nicht Präsident. Alles, was ich sagen kann, ist:
       der terroristische Angriff von Hamas ist unfassbar. Die Folge ist nicht
       nur, dass Tausende sowohl auf israelischer als auch auf palästinensischer
       Seite tot oder verletzt sind oder noch sterben werden. Aber es ist auch ein
       großer Rückschlag, wenn es darum geht, das Leben der Menschen in Gaza zu
       verbessern und für jeden Versuch, Frieden in der Region zu schaffen. Der
       Terrorangriff der Hamas wird die Extremisten stärken, sowohl die in Israel,
       die noch antipalästinensischer werden, als auch die Hamas-Unterstützer, die
       das Gefühl bekommen, doch militärisch gegen Israel etwas ausrichten zu
       können. Es ist eine furchtbare Katastrophe für die Menschen, die heute dort
       leben, und für die Zukunft.
       
       Zu Ihrem Buch: Auf vielen Seiten beschreiben Sie Ihre Enttäuschung über
       das, was aus der Demokratischen Partei geworden ist. Sie insinuieren, dass
       der Wahlsieg Donald Trumps hätte vermieden werden können, wenn Sie anstelle
       Hillary Clintons 2016 die Vorwahlen gewonnen hätten. Ist das so? 
       
       Ja. Ich glaube, dass die Demokratische Partei über die Jahre den
       Bedürfnissen der arbeitenden Bevölkerung den Rücken zugekehrt hat. Die
       Arbeiterschaft in den USA – und ich bin mir nicht sicher, dass der Rest der
       Welt das wirklich verstanden hat – sieht sich enormen Problemen gegenüber.
       Der Wochenlohn eines Arbeiters ist heute niedriger als vor 50 Jahren. Sie
       verfolgen vielleicht den [1][Streik der United Automobil Workers]: Was in
       der Autoindustrie passiert ist, ist im ganzen Land geschehen: In den
       vergangenen 20 Jahren sind die Reallöhne um 30 Prozent gesunken.
       Gleichzeitig erhalten die Vorstände unanständig hohe Vergütungen.
       
       Unser Gesundheitssystem funktioniert nicht, unser Bildungssystem steckt in
       Problemen. Die Demokraten haben nicht genug unternommen, um an der Seite
       der Arbeiterklasse zu stehen. Wir haben versucht, die Demokratische Partei
       so zu erneuern, dass sie ihre Tore für Arbeiter öffnet, für junge Leute,
       für People of Colour, um dem Land eine Richtung zu geben und uns mit den
       Interessen des großen Geldes anzulegen, die über so viel Macht verfügen.
       
       Das ist eine einfach nachzuvollziehende Analyse – warum passiert das denn
       nicht? 
       
       Weil diejenigen, die an der Spitze der Demokratischen Partei stehen,
       zufrieden sind damit, wie es ist. Es läuft gut für sie, und sie sind
       glücklich damit. Sie glauben, dass sie Wahlen gewinnen können – und Biden
       hat ja auch gewonnen. Sie glauben, dass sie Wahlen mit Themen wie
       Frauenrechten, LGBTQ-Rechten und den Rechten ethnischer Minderheiten
       gewinnen können. Das sind alles wichtige Themen und ich unterstütze jedes
       einzelne vehement – aber wir müssen mehr tun als das, wir müssen uns auch
       mit der wirtschaftlichen Krise der Arbeiterklasse auseinandersetzen. Und
       darüber ist die Demokratische Partei gespalten.
       
       In Deutschland haben wir die rechte AfD, die mit dem Slogan wirbt: „Wir
       stehen an deiner Seite“ – aber wenn man sich ihr Programm anschaut, ist das
       Gegenteil der Fall, es ist Politik für die Wohlhabenden. Trotzdem werden
       sie von immer mehr Menschen gewählt. Wie erklären Sie dieses Phänomen? 
       
       Ich kenne mich in Deutschland zu wenig aus, aber es könnte tatsächlich
       ähnlich sein. In ländlichen Gebieten der USA wählt die weiße Arbeiterklasse
       überwiegend Trump. Wenn die Rechten in Deutschland behaupten: „[2][Wir
       stehen an deiner Seite]“, dann ist es das, was arbeitende Menschen in den
       USA fragen: Wer steht an unserer Seite? Und nur sehr wenige von ihnen
       glauben, dass das die Demokratische Partei ist. Es geht darum – und ich
       kann mir vorstellen, dass das hier genauso ist –, dass man sich wirklich
       mit den Milliardären anlegen muss, wenn man Fortschritte für die arbeitende
       Bevölkerung erzielen will. Und ich bezweifle, dass die Rechte hier in
       Deutschland dazu bereit ist, ganz sicher sind es die Republikaner in den
       USA nicht. Ihr Slogan ist also verlogen, aber sie haben damit Erfolg. Aber
       gibt es eine Linke, die wirklich für die Interessen der Arbeiterschaft
       kämpft?
       
       Sehen Sie denn irgendeine Chance, dass sich die Demokratische Partei in
       diese Richtung verändern könnte? 
       
       Wir haben bereits große Fortschritte gemacht. Im Repräsentantenhaus gibt es
       die progressive Parlamentariergruppe (House Progressive Caucus), der heute
       über 100 Abgeordnete angehören. Und Dutzende von ihnen sind überzeugte
       Progressive, die für die Interessen der Arbeiterklasse kämpfen, oft junge
       People of Colour. Es ist die machtvollste Repräsentation progressiver Ideen
       in der Geschichte der USA. Wir machen Fortschritte im ganzen Land. Aber ich
       will nicht verhehlen, dass noch ein langer Weg vor uns liegt.
       
       Die Republikaner haben ja große Teile ihres Wahlkampfes darauf aufgebaut,
       selbst Joe Biden als Linksradikalen darzustellen, der die USA zerstören
       wolle, sodass auf demokratischer Seite immer eher ausgeglichen und der
       linke Anteil kleingeredet wurde … 
       
       Ich glaube nicht, dass das stimmt. Vor Kurzem erst hat der Präsident einen
       Vorschlag vorangebracht, der ein kleiner Teil dessen war, was als Green New
       Deal bekannt ist. Er hatte kein Problem damit, dass [3][Alexandria
       Ocasio-Cortez] und ich das vorgestellt haben. Und ich bin ziemlich häufig
       im Weißen Haus.
       
       Meinem Eindruck nach sind die Demokraten in den vergangenen 20 Jahren –
       abgesehen von der Stärkung des linken Flügels – mehr oder weniger gleich
       geblieben, während die Republikaner kaum wiederzuerkennen sind. Im
       US-System von Checks und Balances muss man mit ihnen arbeiten, um
       irgendetwas zu verändern. Wie soll das gehen? 
       
       Ja, das ist schwierig, das Problem haben wir. Derzeit gibt es nicht einmal
       einen Speaker im Repräsentantenhaus. Ich bin der Vorsitzende eines
       wichtigen Senatsausschusses und wir versuchen unser Bestes, vielleicht
       haben wir Erfolg, vielleicht nicht. Aber in diesem Kongress grundlegende
       Gesetzesvorhaben voranzubringen, ist tatsächlich nicht einfach.
       
       Sie haben bereits viele der Themenfelder aus Ihrem Buch erwähnt, von
       Gesundheitsversorgung über Löhne, soziale Sicherheit, Bildung, Wohnen … Was
       wäre aus Ihrer Sicht das am drängendsten zu bearbeitende Thema? 
       
       Aus einer globalen Perspektive natürlich Klima, denn die Zeit läuft unserem
       Planeten davon. In den USA habe ich mich immer für das Thema Gesundheit
       eingesetzt, denn unser Gesundheitssystem ist eine vollkommene Katastrophe.
       Wir müssen das verändern und die Kosten für Medikamente senken. An dieser
       Aufgabe arbeite ich sehr hart.
       
       Auf internationaler Ebene sehen wir eine Kräfteverschiebung: Während die
       USA unmittelbar nach dem Kalten Krieg die einzige verbliebene Supermacht
       waren, erleben wir jetzt den Aufstieg Chinas und einen größeren Anspruch
       des Globalen Südens. Sehen Sie das als gute oder gefährliche Entwicklung? 
       
       Auf der einen Seite ist das sehr gefährlich. Der Krieg in der Ukraine ist
       in vielerlei Hinsicht eine Katastrophe. Putins imperialistische Ambitionen
       sind eine echte Bedrohung für die Welt. Aber wenn man wieder auf die
       Klimakrise schaut: Wir stehen an einem einzigartigen Moment.
       [4][Deutschland und die USA könnten energiepolitisch alles richtig machen],
       aber wenn wir China und die ölproduzierenden Staaten, wie Saudi-Arabien,
       nicht an Bord bekommen, werden wir nichts lösen.
       
       Nie zuvor war die Notwendigkeit größer, alle Staaten der Welt
       zusammenzubringen. China ist heute der größte CO2-Emittent der Welt, das
       kann man nicht ignorieren. Wir arbeiten hart daran, einen Kalten Krieg
       zwischen den USA und China zu verhindern. Russland ist eine andere
       Geschichte, ist weiß nicht wirklich, was man da machen kann.
       
       Der Titel Ihres Buches lautet: „Es ist Okay, wütend auf den Kapitalismus zu
       sein“. Kapitalismus ist, simpel gesagt, die Wurzel allen Übels. Wir
       scheinen nun wirklich nicht auf dem Weg, den Kapitalismus zu überwinden –
       sehen Sie trotzdem eine Chance, die Probleme der Welt zu lösen? 
       
       Wir überwinden den Kapitalismus nicht nur nicht, wir stellen ihn nicht
       einmal zur Diskussion. Wenn es in meinem Buch um eines geht, dann um die
       zwei Wirklichkeiten, die es derzeit gibt: Für einfache Leute in Deutschland
       oder in den USA werden die Dinge immer schlechter. Haushaltseinsparungen,
       Einkommensverlust durch Inflation, [5][in meinem Land ist die
       Gesundsheitsversorgung eine Katastrophe]. Aber auf der anderen Seite, und
       das ist ein wichtiger Punkt, der von viel zu wenigen ausgesprochen wird:
       Für die Leute an der Spitze war die Lage in der gesamten Geschichte der
       Menschheit niemals besser. Allein in den vergangenen drei Jahren gingen
       zwei Drittel des neu geschaffenen globalen [6][Wohlstandes an das obere 1
       Prozent]. Denen geht es unglaublich gut! Und mit ihrem Reichtum haben sie
       Macht. Das ist die Auseinandersetzung, in der wir stehen: Wie nimmt man
       ihnen die Macht weg, wie gestalten wir eine Wirtschaft für alle, eine
       wirklich demokratische Gesellschaft? Das ist wahrlich nicht einfach. Aber
       wir müssen wenigstens verstehen, dass das der Kampf ist, der geführt werden
       muss.
       
       18 Oct 2023
       
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