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       # taz.de -- Betroffene gegen Racial Profiling: Gegenkontrolle
       
       > Während die Polizei noch diskutiert, ob Racial Profiling existiert,
       > entwickeln Betroffene Strategien dagegen. Auf der Straße und in
       > Parlamenten.
       
       Tareq Alaows ist nicht überrascht, als zwei Polizisten auf ihn zukommen. Es
       passiert nicht zum ersten Mal. Es ist Mitte Dezember vergangenen Jahres in
       Berlin. Alaows ist gerade aus dem Bus gestiegen und auf dem Weg zur S-Bahn.
       Wenn er heute vor dem Bahnhof Friedrichstraße steht und darüber spricht,
       erinnert er sich genau an die Details. „Hier war es“, sagt er und geht in
       die Eingangshalle des Bahnhofsgebäudes.
       
       An dem Tag Ende 2021 fragen die Polizisten nach seinem Ausweis, dann wollen
       sie seinen Rucksack und seine Kleidung durchsuchen. Sie sagen, dass sie bei
       solchen Kontrollen nach Messern und Waffen suchen. Keiner der weißen
       Menschen um ihn herum wird angehalten. Alaows ist Jurist, aktiv bei den
       Grünen, er kennt seine Rechte. Er zeigt ihnen seinen Rucksack nicht. Warum
       er diesmal kontrolliert werde, fragt er. Bei ihm sei eine Gefährdung nicht
       auszuschließen, antwortet ein Polizist, so erinnert Alaows sich.
       
       ## „Was ist falsch an meinem Aussehen?“
       
       „Was ist falsch an meinem Aussehen, dass von mir keine Gefährdung
       ausgeschlossen werden kann?“ fragt Alaows. Er hat die Frage schon [1][auf
       Twitter gestellt], einige Tage nach der Kontrolle, mit „Hallo
       @polizeiberlin“. Und er stellt sie wieder, jetzt, wo er in der Halle des
       S-Bahnhofs steht. Alaows trägt einen grauen Wintermantel aus feiner Wolle,
       seine Haare hat er auf dem Kopf zum Dutt zusammengebunden, an den Seiten
       seiner FFP2-Maske schaut ein schwarzer Vollbart hervor. „Was ist falsch an
       meinem Aussehen?“
       
       Racial Profiling bezeichnet diskriminierende Kontrollpraktiken der Polizei
       und anderer Behörden. Also Kontrollen, Überwachung oder Ermittlungen anhand
       der Hautfarbe oder der von den Polizist:innen angenommenen ethnischen
       oder religiösen Zugehörigkeit. Das kann beim Screening am Flughafen, bei
       der Verkehrskontrolle oder auf der Suche nach Drogendealern im Park
       passieren.
       
       Das Profiling ist eigentlich eine komplexe Methode in der Kriminologie:
       Aufgrund bekannter Umstände bei Straftaten oder Verbrechen werden
       Rückschlüsse auf das Persönlichkeitsprofil unbekannter Täter*innen
       gezogen, um die Suche eingrenzen zu können. Beim Racial Profiling wird die
       komplexe Analyse durch Stereotype ersetzt, rassistische Polizeikontrollen
       sind ein Ergebnis davon.
       
       Aber auch wenn – wie im Falle der NSU-Morde – aufgrund rassistischer
       Vorurteile jahrelang in die falsche Richtung ermittelt wird, kann das als
       Racial Profiling bezeichnet werden. „Ohne ethnisierende Vorstellungen von
       organisierter Kriminalität, ohne entsprechend stigmatisierende Zuweisungen
       an Migrant*innen-Communitys, ohne das Vorhandensein von institutionellem
       Rassismus und ohne das Zutun staatlicher Organe wie dem Verfassungsschutz
       hätten die jahrelangen Morde des NSU-Netzwerkes kaum jahrelang unentdeckt
       bleiben können,“ schreiben Tahir Della von der Initiative Schwarze Menschen
       in Deutschland und Biplab Basu vom Verein Reach Out im Vorwort zum Buch
       “Racial Profiling. Erfahrung. Wirkung. Widerstand.“
       
       In großen Teilen der Polizei wird weiterhin bestritten, dass es ein Problem
       gibt. Auch deshalb gibt es kaum verlässliche Zahlen zum Ausmaß von Racial
       Profiling. Als die Debatte um eine Studie zu Rassismus in der Polizei im
       Spätsommer 2020 aufkam, wehrte sich der damalige Innenminister Horst
       Seehofer (CDU) mit der Begründung, Rassismus sei eben ein
       gesamtgesellschaftliches Problem. Die neue Bundesinnenministerin Nancy
       Faser (SPD) hat zwar im Januar dieses Jahres angekündigt, sich dem Thema
       anzunehmen, doch im Koalitionsvertrag der neuen Regierung kommt Racial
       Profiling nicht vor. Betroffene sind skeptisch, dass sich tatsächlich etwas
       ändert. Viele wollen nicht mehr auf die Politik warten und entwickeln schon
       lange ihren eigenen Widerstand.
       
       So wie Tareq Alaows, der im Dezember im Berliner Bahnhof Friedrichstraße
       kontrolliert wird. Er ist überzeugt, dass er aufgrund von Racial Profiling
       kontrolliert wurde und das somit rechtswidrig war. Das möchte er nun vor
       Gericht beweisen.
       
       Oft sind es die Betroffenen selbst, die sich organisieren und Strategien im
       Umgang mit dem Problem entwickeln. Egal ob auf der Straße, wo
       Aktivist*innen versuchen, mit Plakaten oder Infoständen auf
       rassistische Kontrollen aufmerksam zu machen, oder im Parlament, wo erste
       Abgeordnete die Sicherheit in Städten neu denken möchten und dort den Abbau
       der Polizei fordern. Wir haben Menschen aus Initiativen, Bewegungen und
       Parteien getroffen auf der Suche nach ihren unterschiedlichen Strategien
       gegen das gemeinsame Problem.
       
       ## Klage einreichen
       
       Der 32-jährige Tareq Alaows ist vor sieben Jahren aus Syrien nach Berlin
       geflohen, er hat schnell Deutsch gelernt. Hier in Berlin wird er immer
       wieder kontrolliert, oft fragen Polizist:innen nach dem Kaufvertrag für
       sein Fahrrad. Man ginge bei einem Migranten wie ihm einfach nicht davon
       aus, dass er sich ein teures Fahrrad leisten könne, sagt Alaows. „Diese
       Kontrollen sind keine Einzelfälle und passieren nicht nur mir.“ Als Jurist
       hat er jahrelang Rechtsberatung für andere Migrant*innen gegeben. Alaows
       sagt, die Polizei unterstelle, er hätte sein Fahrrad geklaut oder würde
       Waffen bei sich tragen, so wie bei der Kontrolle Ende 2021.
       
       Tareq Alaows hat sich nach dem Vorfall an die Beratungsinitiative Reach Out
       gewandt. Er möchte Klage einreichen. Die Initiative bietet Beratung für
       Opfer von rassistischer, antiziganistischer, antisemitischer und rechter
       Gewalt an. Sie wird die Anwaltskosten übernehmen. Im Moment bereiten sie
       gemeinsam mit Anwält*innen die Klage vor.
       
       Vor Gericht Recht zu bekommen ist nicht ganz einfach: Zunächst prüft das
       Gericht, ob eine Kontrolle überhaupt aufgrund der “Hautfarbe“ stattgefunden
       hat. Racial Profiling verstößt gegen das Diskriminierungsverbot und ist ein
       Bruch von Artikel 3 des Grundgesetzes. Niemand darf nur aufgrund
       rassistischer Kriterien kontrolliert werden. Doch die tatsächliche
       Motivation des*r einzelnen Polizist*in bleibt oft im Unklaren.
       
       Problematisch sind insbesondere Orte, an denen die Polizei [2][anlasslose
       Kontrollen durchführen darf]. Die Möglichkeit, solche „gefährlichen Orte“
       festzulegen, besteht in vielen Polizeigesetzen der Länder. Wenn das wie am
       Bahnhof Friedrichstraße in Berlin nicht der Fall ist, beruft sich die
       Polizei oft auf sogenanntes „Polizeiliches Erfahrungswissen“. Das hieße
       dann beispielsweise, dass sie behauptet, dass eine bestimmte Straftat –
       etwa Fahrraddiebstahl oder das Tragen von illegalen Waffen – an einem
       bestimmten Ort häufig einer bestimmten Personengruppe zuzuordnen sei. Das
       Gericht prüft dann, ob die Ungleichbehandlung gerechtfertigt war.
       
       Ein weiteres Problem bei Klagen ist, dass betroffene Personen oft alleine
       einer Vielzahl von Polizist*innen gegenüberstehen, die ihre Aussagen
       möglicherweise absprechen und andere Gründe für die Kontrolle vorschieben,
       häufig fehlen unabhängige Zeug*innen. Auch aus Angst vor einer Gegenanzeige
       sehen Betroffene häufig von einer Anzeige ab. Hier könnte das neue Berliner
       Antidiskriminierungsgesetz helfen. Dieses Gesetz sieht eine
       Beweislastumkehr vor, wenn eine betroffene Person eine Ungleichbehandlung
       überwiegend glaubhaft machen kann. Dann muss die Behörde beweisen, dass sie
       nicht diskriminierend gehandelt hat. Ein entsprechendes Urteil gibt es
       bisher noch nicht. Tareq Alaows will das ändern.
       
       Dass Verurteilungen von rassistischen Polizeikontrollen grundsätzlich
       möglich sind, zeigt etwa das Urteil des Verwaltungsgerichts Dresden vom
       Februar 2022. Ein Schwarzer Mann hatte bei einer Kontrolle am Bahnhof die
       Herausgabe seiner Papiere verweigert, zu Recht, befand das Gericht: Er sei
       durch Racial Profiling in seinen Grundrechten verletzt worden.
       
       Die Berater*innen von Reach Out sehen eine Chance, dass Tareq Alaows
       gewinnen kann. Was Hoffnung macht: Es gibt eine Augenzeugin, die bereit
       ist, auszusagen.
       
       ## Vorfälle dokumentieren
       
       Es ist der 11. November 2021, und Biplab Basu steht im Regen. Basu ist
       aktiv bei Reach Out und der Kampagne für Opfer von rassistischer
       Polizeigewalt – kurz KOP. An diesem Tag startet er eine neue Kampagne.
       Gemeinsam mit einer Handvoll Aktivist*innen steht er an einer großen
       Straße in Berlin, es regnet in Strömen. Eine Pappmaché-Kamera auf zwei
       Beinen läuft umher. Unter der Regenjacke und Maske erkennt man ihn kaum,
       umso deutlicher ist zu verstehen, was Basu ins Mikro spricht: “Go, film the
       police“. Das Ziel der Kampagne mit diesem Titel ist, eine Debatte zu
       rassistischen Polizeieinsätzen zu entfachen, indem mehr Zeug*innen mit
       ihren Handys Kontrollen dokumentieren.
       
       Es braucht Videos, die belegen, dass es Racial Profiling gibt. Film für
       Film, Post für Post. Biplab Basu und die Initiative KOP haben die Erfahrung
       gemacht, dass sie Racial Profiling beweisen, belegen, dokumentieren müssen,
       um dagegen zu kämpfen. Sie führen Chroniken, zählen die Fälle, mit dem
       Ziel, dass niemand mehr behaupten kann, es gäbe kein Muster hinter diesen
       Zahlen.
       
       Ursprünglich war die Initiative aus der Beratungsarbeit von Reach Out
       entstanden. Basu und das Team hatten festgestellt, dass die herkömmlichen
       Unterstützungsmöglichkeiten für Opfer im Fall von rassistisch motivierter
       Polizeigewalt nicht ausreichen. Institutionelle Einrichtungen unterstützen
       in diesen Fällen aufgrund der Tatsache, dass die Polizei die Opfer oft als
       Täter*innen darstellt, wenig. Das bedeutet, dass sich die Betroffenen
       zusätzlich zum Erlebten teilweise auch gegen eine Anklage durch die Polizei
       wehren müssen.
       
       Zum Tag gegen Polizeigewalt am 15. März hat die Initiative KOP ihre Chronik
       vorgestellt. Sie dokumentiert rassistische Vorfälle von 2000 bis 2021, in
       die Polizeibeamt*innen verwickelt waren. Die Fälle basieren
       vorwiegend auf Berichten von Betroffenen und Zeug*innen. Die Chroniken
       sollen helfen, eine Gegenerzählung aufzubauen. Berichte wie dieser vom 20.
       Juni 2021: „Am Oranienplatz in Kreuzberg parkt ein Polizeifahrzeug. Eine
       Zeugin hört jemanden schreien: „Hört auf mit Rassismus“. Sie bleibt vor dem
       Mannschaftswagen stehen und sieht, wie drei Polizist*innen eine Person
       of Colour auf den Boden pressen.“
       
       Die Kampagne „Go! Film the police“ hat Vorbilder, vor allem in den USA.
       Dort sorgten vor allem Filmaufnahmen von rassistischer Polizeigewalt für
       breite gesellschaftliche Empörung und eine stärkere Auseinandersetzung mit
       dem Thema, wie etwa 1991 gegenüber Rodney King oder zuletzt 2020 beim Tod
       von George Floyd, der die [3][internationalen „Black lives Matter“-Proteste
       auslöste].
       
       Racial Profiling als Begriff wurde erst Mitte der 1990er Jahre aus den USA
       importiert, das Phänomen ist aber kein neues. Biplab Basu war Anfang der
       Neunziger Jahre Teil einer Gruppe von Unterstützenden, die für die
       Aufklärung des Mordes an [4][Amadeu Antonio] arbeiteten. Antonio, ein
       junger Mann, Vertragsarbeiter aus Angola in Ostdeutschland, wurde 1990 in
       einem Nachtclub von einem Mob angegriffen und zu Tode geprügelt. In dieser
       Nacht waren auch drei Polizisten in Zivil dabei. Als sie vor Gericht nach
       dem Grund gefragt wurden, warum sie nicht eingeschritten seien, warum sie
       den Prügelnden nicht gestoppt hätten, sagte einer von ihnen, er hätte „sein
       Leben für diesen N****“ nicht riskieren wollen.
       
       Zusammen mit der Schwarzen Community und der Initiative Schwarze Menschen
       in Deutschland (ISD) setzte sich Basu dafür ein, dass der Fall
       Aufmerksamkeit bekam, und dass die Täter vor Gericht gestellt wurden. Zwar
       wurden einige der Angreifer bestraft, doch die anwesenden Polizeibeamten
       wurden nicht verurteilt.
       
       Basu ist sich sicher, dass diese Tradition fortgesetzt wird, dass
       Polizist*innen nicht für das bestraft werden, was sie getan oder
       unterlassen haben. Deshalb ist ihm Dokumentation aus Sicht der Betroffenen
       so wichtig, sei es mit der Handykamera oder mit Gedächtnisprotokollen. „Aus
       der Sammlung der individuellen Erfahrungen der Opfer leitet sich der
       Handlungsbedarf ab“, sagt Basu.
       
       ## Leerstellen in der Statistik
       
       Studien zum Thema Racial Profiling gibt es vereinzelt. Etwa von Tobias
       Singelnstein, Professor am Lehrstuhl für Kriminologie an der
       Ruhr-Universität Bochum. Er hat 2020 im Zuge des Forschungsprojekts
       [5][“Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen“] Rassismus und
       Diskriminierungserfahrungen im Kontext polizeilicher Gewaltausübung
       untersucht und dabei festgestellt, dass People of Coulor häufiger aufgrund
       von Personenkontrollen mit der Polizei in Kontakt kommen als Weiße. Auch
       die Studie “Racial Profiling“ von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Schweiz
       umreißt das Problem qualitativ und wirft die Frage auf, welche Taktiken im
       Umgang mit rassistischen Polizeikontrollen möglich sind. Insgesamt ist das
       Phänomen nur lückenhaft untersucht: Es fehlen ausreichend quantitative
       Studien und Zahlen.
       
       Immer wieder wehren sich Polizei und politisch Verantwortliche dagegen,
       unabhängige Untersuchungen zuzulassen. Die Wissenschaftlerin Fiona Schmidt,
       die an der HU Berlin zu Rassismus in der Polizei forscht, sagt: “Das Fehlen
       von systemischem Monitoring ist ein großes Problem“. Ihr würden Steine in
       den Weg gelegt, wenn es um den Zugang zu Daten von der Polizei oder den
       zuständigen Ministerien ginge.
       
       Es bleiben deswegen nur die qualitativen Daten, die Initiativen wie [6][KOP
       in ihrer Chronik] sammeln. Bei dem im Jahr 2020 von zivilgesellschaftlichen
       Organisationen angeschobenen „[7][Afrozensus]“ gaben mehr als 8 von 10 der
       Afrozensus-Befragten an, in den letzten zwei Jahren im Kontakt mit der
       Polizei diskriminiert worden zu sein.
       
       ## Solidarität organisieren
       
       Vor etwa zwei Jahren beginnt die Initiative Wrangelkiez United mit einer
       Telegram-Gruppe. Judith und David, die Initator*innen, wollen aufgrund
       ihres Engagements ihre Nachnamen nicht öffentlich nennen. Rassistische
       Polizeikontrollen seien bei ihnen vor der Haustür Alltag. Die beiden wohnen
       im Berliner Wrangelkiez in der Nähe des Görlitzer Parks, einem Ort, an dem
       mit Drogen gehandelt wird. Der Park ist als kriminalitätsbelasteter Ort –
       kurz KBO – ausgezeichnet. Das heißt: Hier darf die Polizei anlasslos
       kontrollieren. David hat schon viele Kontrollen beobachtet. Einmal hat er
       zum Beispiel anschließend die Person gefragt, weshalb sie kontrolliert
       wurde. Die Antwort: Ja nix, wir saßen hier.’ Die Erklärung der
       Polizist*innen zu, Grund dieser Kontrolle: Verweilen ohne Grund im
       öffentlichen Raum. „Es war Freitagnachmittag. Es war knalle heiß und die
       Sonne schien. Alle saßen ohne Grund draußen rum“, sagt David.
       
       Die Menschen, die im Görlitzer Park mit Drogen handeln, sind oftmals
       tatsächlich Geflüchtete ohne Aufenthaltsstatus. David sieht das Problem vor
       allem in der verfehlten Asyl-, Sozial- und Drogenpolitik. Viele Menschen
       hier dürfen nicht arbeiten, und das Dealen sei eine der wenigen
       Möglichkeiten, Geld zu verdienen.
       
       Die Initiative druckt Plakate, verteilt sie Flyer, organisiert Workshops
       für die Nachbar*innenschaft. Mit einem rosa Regenschirm sitzen
       Aktivist*innen zum Beispiel im Park und suchen das Gespräch. Sie geben
       Menschen Ratschläge für den Fall, dass sie Zeug*innen einer rassistischen
       Polizeikontrolle werden. Ihr Vorschlag: In unmittelbarer Umgebung stehen
       bleiben – als Signal an die Polizei. Gerade Nicht-Betroffene hätten weniger
       zu befürchten und hätten die Chance, das zu nutzen.
       
       Judith sagt, es habe sich schon Einiges geändert. Früher hätte sie bei
       Polizeikontrollen Angst gehabt und sei als einzige Beobachterin von Beamten
       angeschrien worden, sie solle gehen. Heute suchten Polizist*innen oft
       das Gespräch. “Die Polizei merkt, dass sie genau beobachtet wird“, sagt
       Judith.
       
       ## Gesetze ändern
       
       Ferat Kocak sitzt er in seinem Büro, neben sich das Bild seiner Großeltern.
       Kocak hat es geschafft: Er ins Berliner Abgeordnetenhaus eingezogen. An
       diesem Tag im Januar lacht er, als er erzählt, dass die Securities ihn
       selbst hier manchmal doppelt kontrollieren. Er will mit Gesetzen auf
       Landesebene gegen Rassismus und Racial Profiling arbeiten. 2016 kandidierte
       er das erste Mal für die Linke, es war die Zeit der erstarkenden AfD. Es
       folgten Drohungen, Beleidigungen und Nazi-Symbole auf seinen Wahlplakaten.
       2018 gab es einen Brandanschlag auf ihn und seine Familie. Die
       Sicherheitsbehörden wussten, dass er im Visier von Rechtsradikalen war,
       dennoch wurde er nicht gewarnt. Jahrelang verschleppte die Polizei die
       Aufklärung.
       
       Mit Racial Profiling hat Kocak seit seiner Jugend immer wieder Erfahrungen
       gemacht. Kocak ist deshalb der Überzeugung, dass das Thema Sicherheit
       grundlegend neu gedacht werden muss.
       
       Auch die Initiative „Ihr seid keine Sicherheit“ (ISKS) unterstützt diesen
       Gedanken. Im Mai letzten Jahres hatten sie zu einer Großdemonstration gegen
       strukturelle Gewalt von Polizei und Sicherheitsbehörden aufgerufen, auch
       Kocak war mit dabei. Diesen Frühling wollen sie ein Tribunal in Berlin zum
       Thema Sicherheit und Polizei organisieren. Sie stellen Fragen wie: Was sind
       die Voraussetzungen, dass etwas kriminell ist? Warum wird zum Beispiel das
       Sterben-Lassen an den EU-Außengrenzen nicht geahndet? Die
       Aktivist*innen von ISKS plädieren für den Abbau der Polizei durch
       Dekriminalisierungskampagnen, etwa die Legalisierung von Marihuana. Ziel
       ist für ISKS die Entwaffnung der Polizei, eine Entmilitarisierung, nicht
       nur in Bezug auf Waffen, sondern auch auf technisches Wissen und Daten, die
       gesammelt werden.
       
       Forderungen, die Polizei lediglich mehr zu überwachen, hält die Initiative
       für wenig ergiebig. Schließlich seien die schlimmsten rassistischen Morde –
       wie zum Beispiel der Mord an George Floyd – auf Video aufgenommen worden.
       Oft ohne Konsequenzen. Kocak sieht das ähnlich. Es gäbe unterschiedliche
       Ideen, wie Racial Profiling bekämpft werden könne, sagt er, aber das
       Grundelement sei, die Macht und die Verantwortlichkeiten der Polizei zu
       verringern. Die Linke strebt mit den Koalitionspartnern in Berlin ein
       Quittungssystem an. Nach der Kontrolle kann die kontrollierte Person eine
       Quittung von der Polizei verlangen. Kocak reicht das nicht aus: „Es gibt
       Studien in den USA, die beweisen, dass das nicht funktioniert.“ Tatsächlich
       ist die Wirksamkeit eines solchen Systems umstritten, weil
       Polizist*innen letztlich die Macht darüber behalten, was auf der
       Quittung steht.
       
       Die Umkehr der Beweislast zu schaffen, ist für Kocak ein richtiger Schritt.
       Das heißt, wenn sich jemand aufgrund von rassistischen Vorbehalten
       kontrolliert fühlt, muss die Polizei erklären, warum das nicht der Fall ist
       und warum es einen triftigen Grund gab für die Kontrolle.
       
       Wenn Kocak aufgrund seines Aussehens kontrolliert wird, geschieht das nicht
       nur durch weiße Polizeibeamt*innen, sondern durchaus auch durch
       Polizist*innen mit migrantischen Wurzeln. Das zeigt für Kocak deutlich,
       dass das Problem innerhalb der Behörde struktureller Natur ist.
       
       Um Racial Profiling aber ernsthaft anzugehen, brauche es deshalb eine
       grundlegend andere Sicherheitspolitik: „Es braucht eine radikale
       Veränderung, wie wir Sicherheit in der Gesellschaft denken.“ Durch die
       Verstärkung sozialer Problemlösungsansätze könnte ein Teil der
       Polizeiarbeit überflüssig gemacht werden. Zum Beispiel: Mehr Fahrradständer
       für das sichere Abschließen von Fahrrädern könnten zu weniger geklauten
       Fahrrädern und damit weniger Notwendigkeit von Kontrollen führen. Noch
       seien aber Sicherheitsdenken und Polizei fest miteinander verbunden.
       
       Obwohl es schon seit 40 Jahren organisierte Strukturen gegen Racial
       Profiling aus der Zivilgesellschaft gibt, steht die Debatte noch am Anfang.
       Doch Kocak sieht zumindest in Berlin „ein Stück weit Hoffnung, dass wir
       Racial Profiling in dieser Legislaturperiode angehen werden“. Das hat vor
       allem mit der Besetzung des Innenauschusses zu tun. In ihm sitzen seit 2021
       viele Menschen mit Rassismuserfahrung. Sie haben etwas vor.
       
       24 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://twitter.com/Tareq_Alaows/status/1474830339205996547
   DIR [2] /Gesetze-zu-Racial-Profiling-der-Polizei/!5698417
   DIR [3] /Black-Lives-Matter/!t5320244
   DIR [4] https://todesopfer-rechter-gewalt-in-brandenburg.de/amadeu-antonio/
   DIR [5] https://kviapol.rub.de/images/pdf/KviAPol_Zweiter_Zwischenbericht.pdf
   DIR [6] https://kop-berlin.de/files/documents/chronik.pdf
   DIR [7] https://afrozensus.de/reports/2020/Afrozensus-2020.pdf
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sarah Hüther
   DIR Ibrahim Karci
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
   DIR Racial Profiling
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR IG
   DIR Schleswig-Holstein
   DIR Polizei Berlin
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Schwerpunkt Polizeikontrollen in Hamburg
   DIR Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
       
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