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       # taz.de -- Biografie von Lee Miller nun auf Deutsch: Der schönste Nabel der Welt
       
       > Partygirl, Engel der Surrealisten, Kriegsreporterin: Über das Leben
       > seiner Mutter Lee Miller hat Antony Penrose eine lesenswerte Biografie
       > geschrieben.
       
   IMG Bild: Lee Millers Fotografie „Fire Masks“ von 1941
       
       Manchmal beginnt alles mit einem Zufall. Die gut 40 Jahre nach ihrem Tod
       nun auch in Deutschland zur Ikone aufgestiegene Lee Miller (1907–1977)
       hätte ihr Leben in der Provinzstadt Poughkeepsie verbringen können, aber
       dann lief sie beim achtlosen Überqueren einer Straße in New York vor ein
       Auto und wurde in letzter Sekunde von einem Mann zurückgerissen. Dieser war
       der Medienunternehmer Condé Nast, Besitzer von Vogue, der der
       gutaussehenden Lee Miller anbot, für ihn als Model zu arbeiten. Kurze Zeit
       später zierte sie das Cover.
       
       Der Rest ihres abenteuerlichen Lebens wurde schon häufig erzählt, nun ist
       auch ihre Biografie auf Deutsch unter dem Titel „Immer lieber woanders hin“
       erschienen, die in England schon seit 1985 vorliegt und von ihrem Sohn
       Antony Penrose verfasst wurde. Dem von ihr ungeliebten Kind wurde erst nach
       ihrem Tod 1977 so langsam klar, wer seine Mutter eigentlich war. Seither
       sichtete und archivierte er unermüdlich ihr Lebenswerk als Fotografin und
       Autorin und stellte es der Öffentlichkeit in unzähligen Büchern oder
       Ausstellungen zur Verfügung. Jetzt gerade zeigt das Bucerius Forum Hamburg
       150 ihrer Aufnahmen. Abgedreht ist auch bereits ein Film über sie. „Lee“
       kommt bald mit Kate Winslet in der Hauptrolle in die Kinos.
       
       Die Biografie erzählt das eigenwillige und aufregende Leben von Lee Miller
       mit großer Zuneigung, obwohl Antony Penrose selbst noch als Jugendlicher
       ein angespanntes Verhältnis zu ihr hatte. Lee Miller war also nicht immer
       der Engel, als der sie den Surrealisten erschien, die sie wegen ihrer
       Schönheit in den zwanziger Jahren anbeteten, aber auch wegen ihres
       selbstbewussten Auftretens und ihrer freizügigen Lebensweise von ihr
       hingerissen waren.
       
       Mit beeindruckender Selbstverständlichkeit war sie eines Tages bei Man Ray
       aufgetaucht, um ihm zu mitzuteilen, dass er ab sofort eine Schülerin hätte.
       Der aber meinte, er sei auf dem Weg in die Ferien, worauf Lee Miller
       antwortete: „Ich weiß, ich gehe mit Ihnen – und tat es. Wir lebten drei
       Jahre zusammen.“
       
       Er lehrte sie [1][das Handwerk des Fotografierens, sie stand für ihn
       Modell], und einige der Aufnahmen gehören zu den berühmtesten von Man Ray,
       das Magazin Time aber feierte Lee Miller „für den schönsten Nabel von
       Paris“. Man Ray verzehrte sich vor Eifersucht, denn Lee Miller wollte die
       Freizügigkeit in Liebesdingen nicht den Männern überlassen. Bloß eine Muse
       wollte sie nicht sein. Sie wollte vom Leben alles, was sie kriegen konnte.
       
       ## Surrealistische Kostümbälle
       
       Und das waren Partys reicher Geschäftsleute [2][und surrealistische
       Kostümbälle], auf denen Max Ernst mit blauen Haaren auftrat und Paul Éluard
       oder Michel Leiris in ausgefallenen Gewändern steckten, um am nächsten Tag
       in den Armen eines Mannes aufzuwachen, der später ihr Ehemann werden
       sollte: der Kunstsammler und Maler Roland Penrose.
       
       Von wilden Partys schreibt Antony Penrose häufig, aber der Zweite Weltkrieg
       verändert alles. Nun beginnt die auffälligste Verwandlung Lee Millers, sie
       begriff instinktiv, dass man sich aus diesem Krieg nicht einfach
       heraushalten konnte, während die Freunde in Paris von den Nazis auf eine
       schwarze Liste gesetzt wurden oder flüchten mussten.
       
       Sie ähnelt hier ein wenig den komischen Helden in Hitchcocks „Eine Dame
       verschwindet“: kein politisches Engagement, kein theoretisches Interesse,
       im Kopf nur Kricket, im Falle Lee Millers vor allem Partys und Reisen. Aber
       als der Krieg ausbricht, denkt sie keine Sekunde daran, sich in New York in
       Sicherheit zu bringen. Im Auftrag der Vogue setzt sie mit den alliierten
       Truppen über in die Normandie und berichtet in brillanten Reportagen und
       mit schockierenden Fotos vom Krieg und von den Leichen in Buchenwald und
       Dachau, von der Befreiung ihres geliebten Paris und den Deutschen, die
       nichts von all dem gewusst haben wollten.
       
       Aus dem eleganten Partygirl war eine Frau geworden, die in schweren
       Militärstiefeln unterwegs war. Die „kollektive Amnesie“, die sich über die
       Erinnerung der Deutschen legte, setzte ihr zu. Sie reiste nach dem
       Zusammenbruch des NS verzweifelt durch das zerstörte Osteuropa, aber
       niemanden interessierte mehr das Elend, von dem sie berichten wollte. Ins
       „normale Leben“ konnte Lee Miller nicht wieder zurückkehren. Für sie, die
       schon früher „so zerrissen und uneins mit sich“ war, hatte das Leben seine
       Leichtigkeit verloren.
       
       Antony Penrose hat es geschafft, das, was eine Mutter quälte, richtig
       einzuordnen, ohne sein auch problematisches Verhältnis zu ihr eine Rolle
       spielen zu lassen. Sein Porträt ist von einer Leichtigkeit geprägt, die dem
       Wesen Lee Millers entsprach, bevor sie von Depressionen heimgesucht wurde.
       Und da er nicht versucht hat, einen Mythos aus ihr zu machen, kommt man
       nicht umhin, sie uneingeschränkt zu bewundern.
       
       3 Aug 2023
       
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