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       # taz.de -- Booker-Preisträger Douglas Stuart: Ein falsches Leben
       
       > In seinem atmosphärisch dichten Debütroman „Shuggie Bain“ zeigt Douglas
       > Stuart eine Arbeiterwelt, in der jede Abweichung bestraft wird.
       
   IMG Bild: Douglas Stuart, bekam den Booker Prize für seinen Roman, den zuvor etliche Verlage abgelehnt hatten
       
       Shuggie Bain ist ein sensibler Junge, vielleicht zu sensibel für die Welt
       und umso mehr für die Welt, in der er lebt: im Glasgow der 80er Jahre, in
       eine Familie der Arbeiterschicht geboren, die nur noch im Abstieg begriffen
       ist. In seinem preisgekrönten Roman „Shuggie Bain“ erzählt [1][Douglas
       Stuart] von einer Kindheit zwischen bitterer Armut und der unerfüllten
       Sehnsucht nach bedingungsloser elterlicher Liebe.
       
       Am liebsten spielt Shuggie mit Puppen und ist auch deshalb rasch als
       „Schwuchtel“ verschrien. Er vergöttert seine Mutter Agnes, allerdings hat
       sie ein schweres Alkoholproblem. Agnes ist schön, aber nicht nur ihr will
       es scheinen, als hätte sie ihre Schönheit und Jugend an den falschen Mann,
       an ein falsches Leben verschwendet.
       
       Shuggies Vater fährt Taxi, seine Mutter bleibt zu Hause. Die Mutter geht
       nicht arbeiten – eine so schöne Frau wie Agnes hat das nicht nötig, findet
       auch Big Shug, der stolz darauf ist, seine Familie ernähren zu können. Im
       Luxus lebt man nicht. Genau genommen leben die fünf – denn neben Shuggie
       gibt es zwei weitere Geschwister – bei den Großeltern.
       
       Dass Agnes sich von ihrem anständigen katholischen Mann scheiden lässt und
       dafür Big Shug heiratet, erscheint als der Initialfehler, der Agnes’
       weiteres Leben ruiniert. Denn natürlich ist Big Shug ein Weiberheld, und
       noch dazu brutal.
       
       ## Abweichung und Brutalität
       
       Wie desolat die Beziehung der beiden ist, wird klar, als er seine Frau auf
       ein romantisches Wochenende nach Blackpool entführt. Blackpool, das ist ja
       so das englische Äquivalent von Bitterfeld. Aber eigentlich gefällt es
       Agnes dort ganz gut, bis zu jenem Moment, als der Suff einen Streit
       zwischen Shug und ihr eskalieren lässt und sich all seine Brutalität Bahn
       bricht.
       
       Stuart zeigt dem Leser eine Welt, in der jede Abweichung gnadenlos bestraft
       wird. In der die richtige Konfession, die richtige Genderidentität, das
       richtige Verhalten über Zugehörigkeit oder brutalen Ausschluss entscheiden.
       Atmosphärisch dicht, ausstaffiert mit allerhand Sozio- und Dialekten sowie
       einem Gespür für habituelle Besonderheiten, schildert der Roman Shuggies
       Welt und emotionales Elend.
       
       Aber auch Momente der Nähe. Etwa wenn Shuggie mit seiner Freundin Annie und
       ihren Plastikponys spielt: „Die Plastikponys sahen zwar eher aus wie
       aufgeblasene Hündchen, aber für Shuggie waren sie ein Wunder. Annie ließ
       ihn den ganzen Nachmittag mit den Ponys spielen. Sie redeten mit hohen,
       künstlichen Stimmen und ließen sie über die Bettdecken galoppieren. Sie
       striegelten ihre Mähnen mit winzigen Bürsten, bis das Plastikhaar
       elektrisch strahlte.“
       
       Streckenweise hat man das Gefühl, dass sich der Autor etwas zu sehr an der
       detailgetreuen, „authentischen“ Darstellung des Elends berauscht, wodurch
       eben diese Darstellung zum Selbstzweck zu werden scheint. Jaja, die Leute
       sind zu grob und zu laut und zu dicht, aber irgendwie auch drollig.
       
       ## Gewalt des Elendsmilieus
       
       Wenn Agnes mal wieder von Big Shug so richtig „vermöbelt“ oder vergewaltigt
       wird, dann erscheint auch das nur als weitere pittoreske Szene aus dem
       Alltag der Arbeiterschicht mit ihrem omnipräsenten Suff und der moralischen
       Deprivation. Stuart will die Gewalt dieses Elendsmilieus nicht affirmieren
       – die Erzählweise aber führt genau dazu.
       
       Man ist nicht so erschüttert von den Szenen des Elends, wie man es
       eigentlich sein sollte. Der Text, der doch über Shuggies Verzweiflung,
       Trostlosigkeit, Traurigkeit erzählen müsste, unterhält wie ein
       tragikomischer Schelmenroman. Es stimmt, was die Leserstimmen auf dem Buch
       vermerken: dass man ziemlich oft lacht, obwohl einem absolut nicht zum
       Lachen zumute sein sollte.
       
       Das hängt auch mit dem gewählten, personalen Erzähler zusammen, der mal aus
       Shuggies Perspektive, dann aus jener von Agnes, Big Shug oder Shuggies
       Geschwistern erzählt. Da aber alle Figuren „naiv“ und außerstande sind,
       sich und ihre Situation tatsächlich zu reflektieren, entsteht ein Effekt
       der Indifferenz, des moralischen Schulterzuckens.
       
       Eine andere Welt scheint für diese Figuren gar nicht denkbar. „Die Frauen
       mit den Kartoffeln tauschten mitfühlende Blicke, sie wussten, dass blaue
       Flecken in der Ehe manchmal häufiger waren als Zärtlichkeiten, und das galt
       nicht nur für Frauen. Agnes ignorierte sie.“
       
       ## Eine Klassenerzählung
       
       „Shuggie Bain“ ist eine Klassenerzählung durch und durch. Aus Agnes’
       Perspektive sind Filterzigaretten Luxus, und das schlechte Gebiss, das ihr
       die Armut bescherte, lässt sie sich beizeiten durch ein strahlend weißes
       NHS-Gebiss ersetzen (die NHS ist das stets unterfinanzierte, aber von
       Engländern umso mehr glorifizierte öffentliche Gesundheitssystem). Just
       dieses Gebiss ist es, das auch Shug für sie einnimmt.
       
       Wenn der Klappentext erzählt, dass Shuggie mit unbedingter Liebe für seine
       Mutter sorgt, ist das eine recht naive Beschreibung, denn Stuart erzählt
       von einem emotional missbrauchten Kind, das die Rolle des Versorgenden für
       seine alkoholabhängige Mutter übernehmen muss. Das Buchcover erzählt von
       einer Innigkeit, die es nicht geben kann, weil Agnes innerlich bereits
       abgestorben ist. Auch hier schrammt der Roman am eigentlichen Drama vorbei,
       weil er seltsam kalt auf die endgültige Trennung von Mutter und Sohn
       reagiert.
       
       So haben wir es mit einem Roman zu tun, dessen Stärke im Bereich eines
       übergenauen, realistischen Erzählens liegen, in überzeugenden Dialogen und
       der Echtheit von Szenen und Personal, der aber auch deswegen eher an
       realistische Dramen der Jahrhundertwende erinnert, die die depravierten
       Zustände überdeutlich schildern, um eine Moral von der Geschicht’ zutage
       treten zu lassen: Der Thatcherismus ist hier Chiffre für das vom
       Neoliberalismus zerstörte Land, für eine Klassengesellschaft, die eine
       ganze Klasse kollektiv absteigen lässt.
       
       „Wenn du überleben willst, musst du dich mehr anstrengen, Shuggie“, rät ihm
       sein großer Bruder Leek. Er meint, dass Shuggie seine „feminine“ Seite
       verbergen soll. Aber natürlich ist es auch das Motto für Shuggies Welt.
       
       ## Begeisterte englische Kritik
       
       Der Roman wurde [2][mit dem Booker Prize 2020 ausgezeichnet]. Das hängt
       nicht nur mit seinen durchaus vorhandenen literarischen Qualitäten
       zusammen. Offensichtlich labt sich die britische Gesellschaft derzeit an
       Klassenerzählungen, an Storys von „ganz unten“. Neben „Shuggie Bain“
       begeisterte auch Gabriel Krauzes „Beide Leben“, das von einem jungen Mann
       erzählt, der sich im Drogenmilieu eines Londoner Problembezirks bewegt, die
       englische Kritik.
       
       Beide Bücher scheinen das authentische Leben der Unterschicht zu zeigen.
       Beide werden als sprachgewaltig gefeiert, weil es ihnen gelingt, den Sound
       der geschilderten soziokulturellen Gruppe exakt wiederzugeben.
       
       In „Shuggie Bain“ ist das der Klang des Glasgower Dialekts. Nicht zufällig
       fühlt man sich sogleich an Irving Welshs „Trainspotting“ erinnert (das
       allerdings in Edinburgh spielt). Wie Welshs Text lebt auch „Shuggie Bain“
       von der deutlichen Differenz zwischen geschriebenem britischem Englisch und
       dem schottischen Dialekt.
       
       Eine knifflige Herausforderung für Übersetzerin Sophie Zeitz – denn wie
       soll man eine Wendung wie „wee lad“ (kleiner Junge) ins Deutsche übersetzen
       und zugleich den dialektalen Unterschied kenntlich machen? Zeitz löst das
       Problem, indem sie Shuggies Umfeld einen norddeutschen Dialekt überstülpt.
       „lad“ oder „wee“ werden so zu „lütt/lütte“.
       
       ## Wieder Alltagskultur
       
       Übrigens darf man nicht vergessen, dass im britischen Englisch – stärker
       als im Deutschen – das Dialektale und die Klassenzugehörigkeit
       zusammenfallen. Wer einen starken Lancashire- oder eben Glasgower Dialekt
       hat, spricht im Sinne des Klischees einen „Arbeiterklassedialekt“.
       
       Das Glasgow der 80er und 90er ist auch ein Ort starker konfessioneller
       Spannungen, und in Shuggie Bain spielen sie eine wichtige Rolle, sind immer
       wieder Anlass für Gewalt und soziale Ausgrenzung. Auch diese Spannungen
       sind seit dem Brexit wieder Teil der britischen Alltagskultur.
       
       „Shuggie Bain“ trifft, indem es den britischen Leser in die jüngste
       Vergangenheit mit ihren entscheidenden politischen Weichenstellungen vor
       Augen führt, einen Nerv. Dass Shuggie eine Art Happy End bekommt, grenzt
       beinahe an Kitsch. Aber der ist bekanntermaßen gut fürs Herz.
       
       5 Oct 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.douglasdstuart.com/
   DIR [2] https://thebookerprizes.com/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Marlen Hobrack
       
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