URI: 
       # taz.de -- Buch „Big Fiction“ von Dan Sinykin: Wie Literatur wirklich gemacht wird
       
       > Der Wissenschaftler Dan Sinykin untersucht in „Big Fiction“, wie das
       > kommerzialisierte US-Verlagswesen die Literatur selbst beeinflusst.
       
   IMG Bild: Da war die Buchbranche noch unschuldig und die Konsumenten wohlhabend: der Rizzoli Bookstore an der 5th Avenue in New York 1964
       
       Die häufigste Klage, die man von den Lesern von Dan Sinykin zu hören
       bekommt, ist die, dass er große Fragen stellt, aber keine Antworten
       liefert. Sein viel diskutiertes Buch „Big Fiction“, das zunächst noch nur
       auf Englisch vorliegt, aber auch in Deutschland schon für einige Furore
       gesorgt hat, behauptet schon im Untertitel zu erklären, wie die
       Konglomerisierung des US-amerikanischen Verlagswesens die Literatur
       verändert hat.
       
       Doch wer nach 200 Seiten eine griffige Formel erwartet, die etwa eine
       Trivialisierung der Erzählkunst durch die Turbo-Kommerzialisierung
       behauptet, der wird enttäuscht. Sinykin wartet nicht mit einem linearen
       Narrativ auf, das die Entwicklung der US-Literatur von den 60er Jahren bis
       heute, von Norman Mailer bis [1][Colson Whitehead,] erklärt. Stattdessen
       gibt es viele Geschichten, es gibt Entwicklungslinien und Trends, es gibt
       schillernde Figuren und unterhaltsame Anekdoten. Aber eine klassische
       Analyse gibt es nicht.
       
       Das ist allerdings auch nicht verwunderlich, wenn man versteht, von welcher
       Seite her er sich seiner materialistischen Literaturgeschichtsschreibung
       annähert. Es dauert keine Minute im Gespräch mit dem jungen
       Literaturprofessor an der Emory University in Atlanta, bis der Name
       Frederic Jameson fällt. Und wer auch nur einmal ein Referat zu Jameson
       gehört hat, weiß, dass er an ein „Meta-Narrative“ nicht mehr wirklich
       glaubt.
       
       Woran er jedoch durchaus glaubt, ist, dass die Produktionsbedingen
       kulturelle Hervorbringungen ebenso formen wie bei jeder anderen Art der
       Produktion. Die Skepsis gegenüber großen Erzählungen etwa ist für Jameson
       und Sinykin ein intellektueller Habitus, der direkt dem Spätkapitalismus
       entspringt. Ähnliches gilt für die Erkenntnis, dass es keinen Punkt
       außerhalb des Systems gibt, von dem aus man dieses objektiv beschreiben
       könnte. Und so ist sich Sinykin zutiefst bewusst, dass er an genau jenen
       Mechanismen partizipiert, die er beschreibt.
       
       ## Als es den Konsumenten noch blendend ging
       
       Es gibt freilich trotz allem Bewusstsein für die Postmoderne in „Big
       Fiction“ noch allerlei Handfestes zu erfahren. Alleine als Geschichte des
       amerikanischen Verlagswesens seit dem Zweiten Weltkrieg ist das Buch
       überaus lesenswert. Sinykin nimmt uns mit auf die Reise in die 40er und
       50er Jahre, als es dem amerikanischen Konsumenten wirtschaftlich blendend
       ging und ein Massenmarkt für Literatur entstand. Die überraschende
       Erkenntnis dabei ist, wie demokratisch das System war. Ganz dem
       US-Kulturideal entsprechend, machten weder Verlage noch Konsumenten einen
       Unterschied zwischen U- und E-Literatur. William Faulkner und [2][James
       Baldwin] verkauften sich ebenso gut wie Pulp-Novellen und Science-Fiction.
       
       Erst mit den 70er Jahren, mit Inflation und Arbeitslosigkeit, veränderte
       sich die Ökonomie des Buchmarkts und mit ihr auch die Produktion. Verleger
       wurden mehr zu Verlagsmanagern. Buchhandelsketten eröffneten
       Niederlassungen in Einkaufszentren, der Vertrieb wurde stromlinienförmig
       gemacht. Marketingabteilungen und Agenten gewannen an Einfluss,
       Liebesromane und Krimis wurden als „Genre Fiction“ gezielt für den
       Massenverkauf geschrieben. Anspruchsvolle Literatur hatte es zunehmend
       schwer und wurde in die unabhängigen Buchläden der großen Städte verbannt.
       
       Die Reaktion darauf begann in den 80er Jahren, als „literarische“
       Schriftsteller begannen, „Genre“-Techniken anzuwenden. Der sperrige,
       düstere [3][Cormac McCarthy] legte etwa mit „All the Pretty Horses“ einen
       recht konventionellen Western hin, Autoren wie [4][Joan Didion,] John
       Irving oder später Colson Whitehead und Jonathan Lethem produzierten
       „literarische Bestseller“. So brachten Marktkräfte und
       betriebswirtschaftliche Organisationsformen wenn nicht eine Gattung, so
       doch zumindest eine Welle großartiger amerikanischer Literatur hervor, die
       den Raum zwischen hoher Kunst und dem Trivialen okkupierte.
       
       Alleine an dieser Beschreibung merkt man, dass der Postmodernist Sinykin
       nicht an einer moralisierenden Kapitalismuskritik interessiert ist. Kommerz
       ist für ihn nicht per se schlecht, ebenso wenig wie er den Profitverzicht
       per se für tugendhaft oder der hochwertigen Kulturproduktion zwingend
       zuträglich hält. Ihn interessiert allein die jeweilige Bedingtheit. Während
       kommerzielle Verlage auf den Markt schauen müssen, sind Kleinverlage oft
       auf Förderungen angewiesen, die ihrerseits an Bedingungen geknüpft sind.
       Ein Mechanismus, der in den USA etwa oft Writers of Color auf bestimmte
       Themen festlegt und es für sie schwer macht, den ihnen zugewiesenen Nischen
       zu entkommen.
       
       ## Literatur ist ein kollaboratives Produkt
       
       Diese Art, Strukturen aufzudecken, ist die eigentliche Stärke von Sinykin.
       Und auch dabei blitzt immer wieder seine verinnerlichte Jameson-Lektüre
       durch. Eines der spannenderen Konzepte, die er entwickelt, ist jenes der
       conglomerate authorship. Im Zeitalter der literarischen Mega-Konzerne,
       behauptet Sinykin, sei es schon lange nicht mehr nützlich, vom
       modernistischen Begriff des auktorialen Genies Gebrauch zu machen.
       Literatur ist heute ein kollaboratives Produkt, an dem Agenten, Lektoren
       und Marketingabteilungen ebenso beteiligt sind wie die ausführenden
       Schreibenden. Wenn man als Konsument etwa nach Literatur sucht, die einem
       gefällt, sei es mindestens ebenso hilfreich, nach den Lektoren zu schauen,
       die diese produziert haben, wie nach den Schriftstellern.
       
       Die eigentlich tote AutorIn geistert freilich weiterhin durch das
       Verlagswesen – allerdings als reines Werbekonstrukt. Sein oder ihr Foto
       prangt weiterhin auf den Katalogen und in den Klappentexten, ihre Biografie
       wird von Lesern und Rezensenten noch immer mit dem Text in Verbindung
       gebracht, weil es das Produkt attraktiver macht. Nichts wäre tödlicher für
       den Verkauf, als zuzugeben, dass das Werk Produkt eines kollektiven
       Verkaufskalküls ist.
       
       Die Autorinnen selbst durchschauen das freilich und reagieren ihrerseits
       mit klassisch postmodernen Gesten: der Ironie und der Selbstreflexion. So
       hebt Sinykin zwei literarische Formen als typisch für die Ära des
       Literatur-Konglomerats hervor: die Allegorie, die, wie etwa [5][Toni
       Morrison]s „Beloved“ oder David Foster Wallaces „Infinite Jest“, als
       Kommentar auf ihre Produktionsbedingungen gelesen werden können; und die
       „Autofiktion“, wie etwa bei Paul Auster oder Ben Lerner, in welcher der
       Autor sich selbst und das Schreiben zum Thema macht und sich somit wieder
       ein Stück Autonomie zurückholt.
       
       Diese Dinge bleiben freilich Einzelbeobachtungen, die, wie das gesamte Buch
       von Sinykin, keinen Geltungsanspruch für die gesamte Literatur der Epoche
       der Konglomerisierung zu erheben wagt. Was bei der Masse an Literatur, über
       die Sinykin spricht, freilich auch gar nicht möglich wäre. Alleine Penguin
       Random House, der größte der „Big Five“-Verlage, veröffentlicht jährlich
       15.000 Bücher. Da wären allgemeingültige Aussagen auch mit digitalen
       Analysemethoden niemals glaubhaft.
       
       ## Unabhängige Kleinverlage florieren durchaus
       
       Ganz im Sinne seines Erzählstils ist Sinykins Fazit und Ausblick dann auch
       weder optimistisch noch pessimistisch. Er bietet nur ein paar Beobachtungen
       an. Etwa, dass in der Fan-Fiction online neue und interessante Formen der
       kollektiven Autorschaft entstehen. Oder dass trotz der Macht der Big Five
       unabhängige Kleinverlage mit interessanten Konzepten durchaus florieren und
       auch Autoren ohne Verbindungen oder große Agenten einen Marktzugang
       verschaffen. Ist das gut oder schlecht? Weder noch, meint Sinykin. Es ist
       vor allem interessant.
       
       5 Sep 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Neuer-Roman-von-Colson-Whitehead/!5792847
   DIR [2] /100-Geburtstag-von-Autor-James-Baldwin/!6023582
   DIR [3] /Schriftsteller-Cormac-McCarthy-tot/!5935304
   DIR [4] /Romane-von-Joan-Didion-uebersetzt/!5991087
   DIR [5] /Nach-dem-Tod-von-Toni-Morrison/!5614140
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sebastian Moll
       
       ## TAGS
       
   DIR US-Literatur
   DIR Verlagswesen
   DIR Rezension
   DIR Literaturbetrieb
   DIR Postmoderne
   DIR Moderne
   DIR Literatur
   DIR US-Literatur
   DIR Verlagswesen
   DIR Nachruf
   DIR Postkolonialismus
   DIR Schwerpunkt Rassismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Faire Literaturagentur: Die Literaturbranche, kollektiv-antikapitalistisch gedacht
       
       Die neue genossenschaftliche Literaturagentur zoraLit soll eine Antwort auf
       prekäre Arbeitsbedingungen beim Schreiben bieten.
       
   DIR Schwarze US-Literatur unter Trump: Black Lives Matter wird abgewickelt
       
       US-Präsident Donald Trump würgt Maßnahmen zu mehr Diversität auf
       kulturellem Terrain rigide ab. Kommt das den großen Verlagen in den Staaten
       gelegen?
       
   DIR Lektor über abgelehnte Bücher: „Man kann nicht sagen: Ich weiß auch nicht recht“
       
       Der langjährige Rowohlt-Lektor Uwe Naumann über abgelehnte Bestseller, die
       Notwendigkeit von Meinungsstärke und das Lästern hinter Verlagstüren.
       
   DIR Zum Tod von Fredric Jameson: Alles kollabiert
       
       Der US-Literaturtheoretiker Fredric Jameson ist gestorben. Er schrieb über
       die Bedeutungsproduktion in unserer Kultur, vor allem in der Postmoderne.
       
   DIR Helon Habila über die Lage der Literatur: „Es gibt eine neue Dringlichkeit“
       
       Der Schriftsteller Helon Habila kuratiert das Internationale
       Literaturfestival Berlin mit. Er widmet es mehr den sozialen und
       ökologischen Krisen.
       
   DIR 100. Geburtstag von Autor James Baldwin: Gegen alle Stereotype
       
       Arm, schwul und Schwarz zu sein, bezeichnete James Baldwin als
       „Hauptgewinn“. Zum 100. Geburtstag entdeckt ihn René Aguigah als Autor.
       
   DIR Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: Eine Person, die Respekt lebt
       
       Demokratisches Miteinander lebt vom Gespräch: Die Essayistin und
       Historikerin Anne Applebaum erhält den Friedenspreis des Deutschen
       Buchhandels.