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       # taz.de -- Buch „Das Evangelium der Aale“: Die Achtung vor dem Unheimlichen
       
       > Autor Patrik Svensson hat ein wunderbares Buch über das mysteriöse
       > Lebewesen Aal verfasst – und verbindet Biologie, Kulturgeschichte und
       > Philosophie.
       
   IMG Bild: Das Leben der Aale ist bis heute nicht gänzlich verstanden
       
       Viele Menschen ekeln sich vor Aalen. Das kann verschiedene Gründe haben
       (die Lektüre von Günter Grass’ „Blechtrommel“ ist oft einer davon), hängt
       aber auf jeden Fall auch damit zusammen, dass das Wesen und [1][Leben des
       Aals] trotz aller menschlichen Forschungsbemühungen bis heute nicht
       gänzlich verstanden ist.
       
       Dass es Aalen nichts ausmacht, sich an Aas sattzufressen, nimmt man ihnen
       übel. Dass es Exemplare gibt, die mehrere Menschengenerationen überlebt
       haben, enthebt die Art auf seltsame Weise dem deterministischen Prinzip der
       biologischen Vergänglichkeit. Die längste Zeit in der Geschichte der
       denkenden Menschheit hielt man den Aal nicht einmal für einen Fisch. Das
       größte Rätsel aber war sehr lange die Frage nach seiner Entstehung, auch
       „Aalfrage“ genannt.
       
       Erst seit hundert Jahren weiß man, dass alle europäischen und
       amerikanischen Aale aus der Sargassosee stammen, wohin sie zum Sich-Paaren
       und Sterben auch wieder zurückkehren. Auch diese Erkenntnisse gründen sich
       letztlich aber nur auf Indizien. Denn bis heute hat niemals jemand einen
       erwachsenen Aal, tot oder lebendig, in der Sargassosee gesehen. Die
       privatesten, existenziellsten Teile des Aalseins – Fortpflanzung,
       Entstehung und Tod – entziehen sich nach wie vor menschlicher Beobachtung.
       
       Seine Unergründbarkeit macht den eigentümlich geformten Fisch zu einem
       Faszinosum. Der schwedische Autor Patrik Svensson, der bereits als Kind an
       der Seite des Vaters Aale geangelt hat, leistet nun mit seinem
       außergewöhnlichen Buch bahnbrechende Arbeit für das Aal-Image. In einem
       Kapitel zieht er das deutsche Adjektiv „unheimlich“, für das es im
       Schwedischen keine echte Entsprechung gebe, heran, um die Wirkung des Aals
       auf den Menschen zu beschreiben.
       
       ## Ekel wird zu Achtung
       
       Zu den Verdiensten von Svenssons Buch gehört es tatsächlich, eventuelle
       Ekelgefühle umwandeln zu können in eine andere Empfindung, die sich
       vielleicht am ehesten mit Achtung vor dem Unheimlichen umschreiben ließe.
       
       Svensson arbeitet als Kulturjournalist für eine große schwedische
       Tageszeitung, „Das Evangelium der Aale“ ist sein erstes Buch. Er bekam
       dafür im letzten Jahr den bedeutendsten schwedischen Literaturpreis, den
       August-Preis, in der Kategorie Sachbuch.
       
       Es ist ein recht außergewöhnliches Sachbuch, und es nähert sich seinem
       Thema von vielen verschiedenen Seiten. Nicht der Aal an sich ist dieses
       Thema, sondern vielmehr der Aal in seinem Verhältnis zu Menschen. Als
       „Kulturgeschichte des Aals“ wird Svenssons Buch gern bezeichnet, was der
       Sache sehr nahe kommt, sie aber auch nicht ganz trifft.
       
       ## Von Aristoteles bis zu Mondini
       
       In chronologischer Abfolge erzählt es zunächst von den sehr langen
       Forschungsbemühungen um den Aal, angefangen bei Aristoteles, der auch
       darüber etwas zu sagen hatte und überzeugt war, dass der Aal geschlechtslos
       sei und wie ein Wunder aus dem Nichts beziehungsweise dem Schlamm entstehe.
       So unwahrscheinlich das war, konnte es doch erst viel später widerlegt
       werden. Ende des 18. Jahrhunderts gelang es dem Italiener Carlo Mondini
       endlich, die Eier des Aalweibchens zu entdecken.
       
       Das wohl größte Verdienst um die Aalforschung kommt dem Dänen Johannes
       Schmidt zu, der praktisch sein gesamtes Erwachsenenleben der Aalfrage
       widmete und viele, viele Jahre lang die Weltmeere nach Larven abfischte. In
       den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts konnte er endlich die Herkunft
       sämtlicher Aallarven aus der Sargassosee gesichert belegen.
       
       Es scheint ein großes Wunder zu sein: Noch im Larvenstadium legen die
       winzigen werdenden Aale eine Tausende Kilometer lange Reise über das Meer
       zurück, um sich, an Europas Küsten angekommen, offenbar zufällig in die
       verschiedenen Wasserwege zu verteilen (alle europäischen Aale sind
       genetisch einigermaßen identisch). Nach ihrer Ankunft werden sie zum
       Glasaal, um sich später, nachdem sie ein Gewässer zur Heimat erwählt und
       sich niedergelassen haben, zum Gelbaal weiterzuentwickeln.
       
       Auch dieser ist aber lediglich ein Fisch-Teenager vor der Geschlechtsreife.
       Aale können ewig, genauer ihr ganzes Leben lang, dessen Dauer äußerst
       unterschiedlich ausfallen kann, in diesem Backfisch-Stadium verharren. Zum
       Blankaal, also zum ausgewachsenen, geschlechtsreifen Fisch zu werden,
       bedeutet, sich auf den Weg zurück in die Sargassosee machen zu müssen. Dort
       – aber das, wie gesagt, ist der Teil, den man sich immer noch denken muss –
       paaren sich die Aale und sterben.
       
       ## Freud und die Aalforschung
       
       Einer, der sich ebenfalls mal in der Aalforschung versuchte, war der junge
       Sigmund Freud, der 1876, mit 19 Jahren, einen Monat in Triest verbrachte,
       dort in einem Labor saß und einen adriatischen Aal nach dem anderen
       sezierte, um endlich auch ein männliches Exemplar des rätselhaften Fisches
       zu finden. (Denn immer noch war ungeklärt, wie genau der Aal sich
       vermehrt.)
       
       In seiner Freizeit schrieb der Jüngling Briefe, in denen er sich über die
       hässlichen und zu stark geschminkten Triester Frauen beschwerte. Und auch
       die Suche des ehrgeizigen Studenten nach den männlichen Geschlechtsorganen
       des Aals blieb erfolglos.
       
       Inwieweit Freuds freudloses Triester Intermezzo zum späteren Entstehen der
       Psychoanalyse beitrug, lässt Svensson offen, bietet aber unaufdringlich
       Möglichkeiten zur fantasievollen Spekulation an.
       
       Es ist überhaupt das Schönste an diesem Buch, wie mühelos alles
       ineinandergeht. Nicht nur auf die Aalforschung der Biologen geht der Autor
       ein, sondern auch auf den Aal in Literatur, Kunst, Mythologie und Religion.
       Besonders erstaunliche Fälle von langlebigen gefangenen Aalen erzählt er,
       darunter den eines Aals, der, wie der Volksmund behauptete, seit 1859 in
       einem Brunnen in Schonen lebte und im Jahr 2009 tatsächlich von einem
       schwedischen Fernsehteam dort gefunden wurde.
       
       ## Der Aal als mächtiger Dämon
       
       Die alten Ägypter hielten den Aal für einen mächtigen Dämon, „den Göttern
       vergleichbar“, und auch Svensson deutet an, dass er selbst, obwohl sonst
       dem Metaphysischen gegenüber prinzipiell ungläubig eingestellt, im Falle
       des Aals „nicht so sicher“ sei.
       
       Diese vorsichtige Einschätzung teilt er mit seinem Vater, einem früh
       verstorbenen Asphaltarbeiter und passionierten Aalangler, dessen Geschichte
       eine Art zweiten Erzählstrang bildet. Episodenhafte Bilder von gemeinsamen
       Angelerlebnissen blitzen zwischendurch auf, nach und nach ergänzt durch
       autobiografische Bruchstücke aus der Familiengeschichte der Svenssons.
       
       Sie endet im Buch vorerst mit dem Tod des Vaters. Die Geschichte des Aals,
       der stets zurück zu seinen Anfängen strebt, wird zum Sinnbild für das Leben
       des Menschen, das sich erst dadurch vollendet, dass er sich seiner Herkunft
       bewusst wird und diese als Bestandteil seiner selbst akzeptiert. Und in der
       geheimnisvollen Undurchschaubarkeit des Aals spiegelt sich gleichsam das
       Rätsel der menschlichen Existenz.
       
       ## Die Aale werden weniger
       
       Doch die biologische Geschichte des Aals ist – hoffentlich – noch nicht
       vorbei. Svensson schreibt allerdings: „Wo in meiner Kindheit jedes Jahr
       einhundert kleine, durchsichtige Glasrütchen den Fluss hinaufschwammen,
       tritt heute nur noch eine knappe Handvoll diese Reise an.“
       
       Der Aal droht auszusterben. Die Ursachen sind schwer genau zu bestimmen;
       dass der Mensch Schuld daran trägt – als Verbreiter von Umweltgiften und
       Verursacher des Klimawandels –, ist aber ziemlich sicher. Es ist gut
       möglich, dass eines Tages vom Aal nicht mehr bleibt als eine gut
       dokumentierte Forschungsgeschichte – und dieses wunderbare Buch, das nicht
       nur die Achtung vor dem unheimlichen Aal fördert, sondern auch Zeugnis
       ablegt vom ausdauernden menschlichen Bemühen, die Welt und sich selbst zu
       verstehen.
       
       10 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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