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       # taz.de -- Bürgerräte in Irland: Ein Gremium für heikle Themen
       
       > Irlands Bürgerrat stimmte für die gleichgeschlechtliche Ehe und die
       > Aufhebung des Abtreibungsverbots. Das macht ihn aber auch zum Prellbock.
       
   IMG Bild: Im September 2017 demonstrieren zwei junge Frauen in Dublin gegen das irische Abtreibungsverbot
       
       Er kann zwar keine Entscheidungen treffen, aber er kann Entscheidungen
       beeinflussen: Irlands Bürgerrat, die Citizens’ Assembly, hat sich bei
       einigen heiklen Themen bewährt. Das berühmteste Beispiel ist die
       Abtreibungsfrage.
       
       Ein Paragraf, der 1983 per Volksentscheid in die Verfassung aufgenommen
       worden war, räumte dem Fötus dasselbe Lebensrecht wie der Schwangeren ein
       und machte Abtreibungen praktisch unmöglich. Jedes Jahr reisten rund 6.500
       Frauen für eine Abtreibung nach England. Die UN bezeichneten Irlands Umgang
       mit Frauen als „gemein, inhuman, entwürdigend“.
       
       Eine Mehrheit der irischen Bevölkerung hatte sich bei Umfragen seit Jahren
       dafür ausgesprochen, das Gesetz zu liberalisieren. Das wäre Aufgabe der
       Regierung gewesen. Dieser Pflicht entzog sie sich, weil sie damit einen
       Teil der Wählerschaft abgeschreckt hätte. Stattdessen wälzte sie das
       Problem auf den Bürgerrat ab.
       
       Die [1][Citizens’ Assembly] tagte fünf Monate lang an den Wochenenden in
       einem Hotel. Zum Schluss sprach sie sich mit Zweidrittelmehrheit für ein
       Recht auf Abtreibung aus. Die Wählerinnen und Wähler waren beim
       darauffolgenden Referendum derselben Meinung wie der Bürgerrat – und die
       Regierung war aus dem Schneider.
       
       Der Bürgerrat ist ein Produkt der Wirtschaftskrise, die Irland 2008 in den
       Bankrott getrieben und der Nation harte Sparmaßnahmen abverlangt hatte.
       Viele Menschen machten das politische System und die Politiker für die
       Krise verantwortlich. David M. Farrell und Jane Suiter, ein
       Politikwissenschaftler und eine Politikwissenschaftlerin, überzeugten die
       Parteien davon, die Öffentlichkeit stärker in den politischen Prozess
       einzubeziehen.
       
       Die Regierung führte 2012 einen Verfassungskonvent ein. Der schlug die
       Zulassung der gleichgeschlechtlichen Ehe vor. Beim Volksentscheid stimmten
       mehr als 62 Prozent dafür, und Irland wurde zum weltweit ersten Land, das
       eine völlige Gleichstellung homosexueller Paare auf Grundlage einer
       Volksbefragung beschloss. Der Verfassungskonvent wurde 2014 aufgelöst, zwei
       Jahre später rief die Regierung die Citizens’ Assembly ins Leben.
       
       Die 99 Mitglieder sollen einen Querschnitt der Bevölkerung repräsentieren,
       was Geschlecht, Alter, soziale Klasse, regionale Herkunft und
       Migrationshintergrund betrifft. Die Vorsitzende, die ehemalige Richterin
       Mary Laffoy, wurde von der Regierung bestimmt. Die Empfehlungen der
       Bürgerräte haben die Regierung in drei Fällen dazu bewogen, einen
       Volksentscheid zu organisieren. In allen Fällen spiegelte das Ergebnis
       ziemlich genau die Abstimmung im Bürgerrat wider.
       
       Ganz so rosig ist das Bild dennoch nicht. Viele Vorschläge scheiterten,
       weil die Regierung sie von vornherein ablehnte.
       
       Außerdem müssen die Bürgerräte zwölf Wochenenden und Zeit für die
       Vorbereitung opfern, werden aber nicht dafür bezahlt. Es ist daher wenig
       überraschend, dass nur 61 der 99 Mitglieder bis zum Ende der ersten
       Sitzungsperiode durchhielten. Und nur 26 davon nahmen an jedem Treffen
       teil. Darüber hinaus werden die Kosten für die Kinderbetreuung während der
       Sitzungen nicht erstattet, sodass vor allem Mütter zwischen 20 und 40
       unterrepräsentiert sind.
       
       Bisher überwiegen trotzdem die positiven Aspekte. So hat die Regierung zum
       Beispiel auf Empfehlung des Bürgerrats im Mai 2019 einen „Notstand für
       Klima und Artenvielfalt“ ausgerufen. Einen Monat später folgte ein
       ambitionierter „Aktionsplan zum Klimawandel“, der nun seiner Umsetzung
       harrt.
       
       Ein wichtiger Grund für das Vertrauen der Bevölkerung in den Bürgerrat ist
       die Tatsache, dass die Sitzungsprotokolle und Abstimmungsergebnisse
       transparent sind. Der Bürgerrat funktioniert aber vor allem deshalb, weil
       es den Politikern in den Kram passt. Sie können brisante Themen aufschieben
       und an eine nicht gewählte Organisation auslagern. Aber sie haben auch
       etwas dabei gelernt: Die Nation ist liberaler, als die Politiker dachten.
       
       Wie geht es weiter? „Das Instrument der Bürgerräte muss klug eingesetzt
       werden“, sagt David M. Farrell. „Die Demokratie ist in Gefahr, und es ist
       nicht das erste Mal. Man darf aber nicht vergessen, dass Demokratien
       überlebt haben, weil sie experimentierten.“
       
       21 Feb 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.citizensassembly.ie/en/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ralf Sotscheck
       
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