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       # taz.de -- Cannes-Gewinner „Anatomie eines Falls“: Das trügerische Wesen der Wahrheit
       
       > Der Film „Anatomie eines Falls“ von Justine Triet ist ein gekonnt
       > verworrener Thriller. In Cannes wurde er mit der Goldenen Palme
       > ausgezeichnet.
       
   IMG Bild: Nach dem Fall: Samuel (Samuel Theis), Sandra Voyter (Sandra Hüller) und Daniel (Milo Machado Graner)
       
       Die Wahrheit ist bisweilen wie ein wildes Tier. Nähert man sich ihm, nimmt
       es Reißaus. Bekommt man es für einen flüchtigen Moment zu fassen, beißt und
       kratzt es. Versenkt es seine Zähne in seinem Verfolger, schreibt es sich in
       ihm ein. Eine Narbe bleibt als Beweis dafür zurück, dass man ihm begegnet
       ist. Und das Vergessen wird zur bloßen Unmöglichkeit.
       
       Dieses wilde Tier ist der eigentliche Protagonist in [1][Justine Triets]
       verwickeltem Thriller „Anatomie eines Falls“. Wie eine geflissentliche
       Naturfilmerin widmet sie sich ihrem Gegenstand, deren Beute und deren
       Fressfeinden. Mit großer Nüchternheit observiert die französische
       Filmemacherin deren Widerstreit, beinah als handele es sich um einen
       natürlichen Kreislauf. Ohne in ihn einzugreifen, ohne sich einen Kommentar
       über seine Brutalität zu erlauben.
       
       Ausgerechnet der elfjährige Daniel (Milo Machado Graner) ist es, der in
       „Anatomie eines Falls“ mit ungeheuerlichen Wahrheiten ringen muss. Der
       sehbeeinträchtigte Sohn der Familie Voyter findet nach einem Spaziergang
       mit seinem Hund Snoop am Fuße des familieneigenen Chalets in den
       französischen Alpen, direkt unter dem Balkon, den leblosen Körper seines
       Vaters Samuel (Samuel Theis) auf. Aus der Wunde an seinem Kopf dringt Blut,
       eine im Sonnenschein rötlich schimmernde Spur zieht sich durch den Schnee.
       
       Ob seine Mutter Sandra ([2][Sandra Hüller]) derart wenig Interesse daran
       zeigt, die Wahrheit über die Todesumstände ihres Ehemanns aufzuklären, weil
       sie Schuld an seinem Ableben trägt oder Daniel schlicht die Details einer
       tiefergehenden Wahrheit ersparen möchte, ist das größte Mysterium im
       Zentrum des [3][bei den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes mit der
       Palme d’Or ausgezeichneten Werks]. Fest steht allein, dass sie bald als
       Angeklagte im Zentrum eines öffentlichkeitswirksamen Mordprozesses steht.
       
       „Anatomie eines Falls“ wirkt in seiner Prämisse zunächst wie ein weiterer
       spannungsreicher „Whodunit“-Krimi. Tatsächlich hat Justine Triet einen Film
       geschaffen, der einen weder mit einfachen Antworten entlässt noch sich
       bemüßigt sieht, die Sensationsgier eines durch den „True Crime“-Trend an
       einfache Antworten gewöhnten Publikums zu bedienen. Mehr als an der
       Aufklärung des Falls selbst zeigt sich das von Triet gemeinsam mit ihrem
       Partner Arthur Harari virtuos angelegte Drehbuch daran interessiert, das
       verworrene Wesen der Wahrheit seinem Publikum effektvoll nahezubringen.
       
       ## Erfahrungen über Gespräche vermitteln
       
       Das tun sie mitunter, indem die beiden Filmemacher während der
       zweieinhalbstündigen Spielzeit einen Großteil des Familien- und Ehelebens
       nur indirekt, etwa über Gespräche zwischen Sandra und ihrem Anwalt (Swann
       Arlaud), zwischen Daniel und einer ihm zur Seite stehenden
       Justizangestellten (Jehnny Bethmit), vermitteln. Lediglich ein einziges
       Fragment zu den Umständen des Todes von Samuel zeigt „Anatomie eines Falls“
       ganz unmittelbar, in Form einer sich zuvor abspielenden Szene.
       
       „Was wollen Sie wissen?“, fragt eine Stimme antizipatorisch aus dem Off,
       die sich einen Schnitt später als Sandras zu erkennen gibt. Ihr sitzt eine
       eifrige Doktorandin (Camille Rutherford) gegenüber, die sie zu ihrem
       schriftstellerischen Schaffen interviewen möchte. Mit einem
       herausfordernden Lächeln auf den Lippen und einem halbleeren Weinglas in
       den Händen lässt Sandra ihre darauffolgenden Fragen allerdings ins Leere
       laufen.
       
       Als wolle sie das Gespräch in eine gänzlich andere Richtung lenken,
       versucht sie die Kontrolle zu übernehmen. Erkundigt sich stattdessen
       herausfordernd, ob es in der jungen Frau etwas gibt, das sie derart in Wut
       versetzt, dass sie es erforschen möchte. Die Anbahnung eines Flirts aber
       wird abrupt unterbrochen.
       
       In ohrenbetäubender Lautstärke dringen die Bässe einer vergnügten
       Steel-Drum-Version von 50 Cents „P.I.M.P.“ aus dem oberen Stockwerk zu den
       beiden herunter und verhindern jede Fortsetzung des Gesprächs. Ihr Mann
       höre während seiner Arbeit stets laute Musik, erklärt Sandra, als sie die
       irritierte Interviewerin hinauskomplimentiert.
       
       Selbst diese Eröffnung, mit der „Anatomie eines Falls“ zur Sektion des
       Wesens der Wahrheit ansetzt, erweist sich als eine opaleszierende Sequenz.
       Eine, die sich im Fluss der folgenden Geschehnisse windet und mit jeder
       neuen Einsicht in einem anderen Licht präsentiert. Je nach Wissensstand
       erscheint Sandra vom Verhalten ihres Ehemanns schlicht etwas genervt,
       später geradezu resigniert. Mal wirkt ihr Auftreten gegenüber der
       Doktorandin wie eine kleine Kokettiere, später wie ein kalt berechnender
       Versuch, ihren Ehemann erneut zu betrügen.
       
       ## Hat Sandra ihn geschubst? Oder war es Suizid?
       
       Immer wieder scheinen damit andere Szenarien um Samuels Tod am
       Wahrscheinlichsten: Hat Sandra ihren Mann während eines womöglich im
       Anschluss entbrannten Streits vom Balkon geschubst? Bereitete sich Samuel
       während des Gesprächs bereits insgeheim auf einen Suizid vor? Ist er kurz
       danach bei einem tragischen Unfall aus dem Fenster gefallen? Schließlich
       wird sogar fraglich, ob Samuel zu diesem Zeitpunkt noch am Leben war.
       
       Das wilde Tier, so führt „Anatomie eines Falls“ spektakulär vor Augen, ist
       für Außenstehende eine scheue Chimäre. Erblickt man einen Teil von ihr,
       meint man ihr Ganzes zu kennen. Und wird im nächsten Moment eines Besseren
       belehrt.
       
       Das Wesen der Wahrheit, so insistiert Triets Film, als im Laufe des
       Gerichtsprozesses immer mehr Details über die Beziehung zwischen Sandra und
       Samuel ausgebreitet werden, ist allerdings nicht weniger trügerisch für
       jene, die sie am besten kennen müssten. In der wohl intensivsten
       Schlüsselszene des Films wird eine Aufnahme eines Streits zwischen dem
       Ehepaar abgespielt, die Samuel am Vortag für ein Buchprojekt heimlich
       anfertigte.
       
       Mit unerbittlicher Vehemenz konfrontieren sie sich gegenseitig mit ihrer
       Version der Wahrheit: Samuel wirft darin seiner Ehefrau vor, die ganze
       Verantwortung auf ihn abzuwälzen. Seit dem Autounfall, bei dem Daniel einen
       Teil seiner Sehkraft verlor, unterrichtet er seinen Sohn zu Hause, kümmert
       sich außerdem um den Haushalt und baut das Dachgeschoss für Fremdenzimmer
       aus, um den finanziellen Problemen der Familie beizukommen.
       
       Sandra hält dagegen, dass sie nicht an Reziprozität in Beziehungen glaube,
       dass sie ihr geliebtes London dennoch für ihn verlassen und sich damit nach
       dem Aufwachsen in einem deutschen Kaff ihm zuliebe in ein französisches
       begeben habe. Dass er ständig nach Beschäftigungen suche, um seinen
       Schuldgefühlen nach Daniels Unfall zu entkommen, um nicht an seiner
       stockenden Schriftstellerkarriere arbeiten zu müssen und Sandra gleichsam
       ihren eigenen Erfolg vorhalten zu können.
       
       ## Wie unglücklich sie miteinander waren
       
       Für das Publikum beweist die Audiodatei angesichts des heftigen Geschreis
       und einer am Ende zu vernehmenden körperlichen Auseinandersetzung mit einer
       gewissen Sicherheit wiederum lediglich, welch katastrophale Züge die Ehe
       von Sandra und Samuel angenommen hat, wie unglücklich sie miteinander
       gewesen sind.
       
       Letztlich ist es Daniel, der sich als Zuhörer und Zeuge zu dieser traurigen
       Erkenntnis verhalten muss, seine abschließende Aussage wird vermutlich
       ausschlaggebend für die Entscheidung der Geschworenen sein. Darüber, dass
       man das wilde Tier mit einem Urteilsspruch gezähmt, gar verstanden haben
       könnte, macht sich „Anatomie eines Falls“ allerdings keine Illusionen.
       
       Ohne in Abrede zu stellen, dass es so etwas wie objektive Fakten wie die
       Schuld oder Unschuld zumindest in einem juristischen Sinne gibt, plädieren
       Triet und Harari dafür, dass die Wahrheit, die zwischen zwei Menschen
       wohnt, ein glänzendes Gefieder trägt. Eines, das je nachdem, von welcher
       Warte aus man es betrachtet, in gänzlich unterschiedlichen Farben
       aufleuchtet. Und sich für niemanden jemals im exakt gleichen Gewand
       präsentiert.
       
       Dass „Anatomie eines Falls“ nicht nur durch seine komplexe Konzeption und
       herausragenden schauspielerischen Darbietungen, sondern auch in visueller
       Hinsicht besticht, ist der elegant-unaufgeregten Kamera Simon Beaufils zu
       verdanken, die neben dem Schrecken vor beeindruckendem Bergpanorama immer
       wieder ruhige Momente einfängt. Solche, die poetische Anspielungen
       enthalten, die in ihrer Eleganz über jede einfache Antwort erhaben sind.
       Etwa wenn Daniel am Piano sitzt und bezeichnenderweise nicht von den vor
       ihm liegenden Noten abliest, sondern immer wieder von Neuem ansetzt. So
       lange, bis sich die Töne für ihn zu einem stimmigen Ganzen zusammensetzen.
       
       1 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
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