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       # taz.de -- Cannes-Siegerfilm „Shoplifters“ im Kino: Familie ist, wozu man sich entscheidet
       
       > Regisseur Hirokazu Koreeda vermisst in seinem Cannes-Siegerfilm
       > „Shoplifters“ die Grenzen der Familie auf zärtlich-unnachgiebige Art.
       
   IMG Bild: Für diese Familie heißt es bald schon Abschied nehmen im Film „Shoplifters“
       
       Die Szene kann einen zum Weinen bringen. Da sitzen ein kleines Mädchen und
       eine Frau auf der Terrasse ihres Hauses, vor ihnen brennt ein Feuer. Die
       Frau sagt zum Mädchen: „Wenn man jemanden liebt, schlägt man ihn nicht.
       Wenn man ihn liebt, nimmt man ihn in den Arm.“ Dabei hält sie das Mädchen
       wie eine Mutter ihr Kind.
       
       Die Zuschauer wissen zu diesem Zeitpunkt: Diese Frau, Nobuyo (Sakura Andô),
       ist nicht die Mutter. Und das Kind, Juri (Miyu Sasaki), ist von seinen
       leiblichen Eltern geschlagen worden. Bei denen sie jetzt nicht mehr lebt.
       Denn Nobuyos Mann hat Juri aufgelesen, als sie im Winter bei Kälte draußen
       auf dem Balkon der elterlichen Wohnung saß. Wohl weil sie drinnen störte.
       
       Was an der Idylle der Szene auch nicht stimmt, ist der Flammenschein. Denn
       in der kleinen Feuertonne brennen keine gemütlichen Holzscheite, sondern
       ein auffällig roter Pullover mit weißen Punkten. Den hatte Juri getragen,
       als sie in die neue Familie wechselte. Der Kindesraub, wie dieser Vorgang
       aus juristischer Sicht zu nennen ist, soll mit dem Verbrennen kaschiert
       werden. Zuvor hatte Juri schon einen neuen Haarschnitt verpasst bekommen,
       der ihr ganz vorzüglich steht, mit dem sie aber in erster Linie weniger
       leicht zu erkennen ist.
       
       Der Japaner Hirokazu Koreeda wollte eigentlich keine Familienfilme mehr
       machen. Jetzt hat er dennoch „Shoplifters“ gedreht, was einerseits ein
       Familienfilm ist und andererseits ein großes Glück. Im Mai hatte der
       Regisseur damit im Wettbewerb von Cannes die Goldene Palme gewonnen, ab
       heute kann man sich hierzulande im Kino überzeugen – von der Richtigkeit
       der Entscheidung Koreedas, diesen Film zu machen, und der der Jury in
       Cannes, ihn dafür auszuzeichnen.
       
       „Shoplifters“ ist durchzogen von einer gegenstrebigen Bewegung. Denn er
       erzählt zunächst einmal von Verbrechern, von Ladendieben, wie es im Titel
       heißt. Gleich zu Beginn sieht man den Sohn der Familie Shibata, Shota
       (Kairi Jyo), wie er reglos in einem Supermarkt steht, sich umsieht. Dann
       lässt er, wie in einem Spiel, die Zeigefinger seiner verschränkten Hände
       kreisen, führt eine lockere Faust an die Stirn und setzt sich in Bewegung.
       
       ## Eine gemeinsame Choreografie
       
       Ein Mann, Osamu (Lily Franky), der sich später als Shotas Vater zu erkennen
       gibt, unterstützt ihn beim Klauen. Sie verständigen sich durch
       Zeichensprache, vollführen eine gemeinsame Choreografie, umkreisen
       einander, wobei sich der Ältere stets im richtigen Moment ins Blickfeld der
       Angestellten des Geschäfts stellt, damit diese nicht sehen, wie Shota nach
       und nach verschiedene Artikel in seiner Tasche verschwinden lässt. Im
       Verlauf des Films erfährt man: Auch die übrigen Mitglieder dieser Familien
       treiben, auf die eine oder andere Art, windige Geschäfte.
       
       Gegen diesen kriminalistischen Zug der Handlung steht, als sozialer
       Mikrokosmos, die Geschichte der Familie Shibata, einer ziemlich am Rand der
       Gesellschaft angesiedelten Gemeinschaft. Deren gemeinsames Haus gleicht
       mehr einer Hütte als einer Wohnung; in ihr müssen fünf, später dann, mit
       Juri, sogar sechs Personen leben. Dass die Familie arm ist, ist einer der
       Gründe dafür, dass sie auf so engem Raum leben. Spannungen halten sich
       dennoch in Grenzen, man geht fürsorglich, ja liebevoll miteinander um.
       
       Zugleich streut Koreeda von Anfang an Spuren, die andeuten, dass mit dieser
       Familie etwas sehr anders ist als bei anderen. Von Aki (Mayu Matsuoka), der
       Schwester Nobuyos, die ihr Geld unter anderem Namen in einer Peepshow
       verdient und die irgendwann als „Halbschwester“ eingeführt wird, über die
       Oma (Kirin Kiki), von der die Eltern Osamu und Nobuyo bloß als der „Alten“
       sprechen, bis hin zum Jungen Shota, der seine Fertigkeiten im bargeldlosen
       Einkauf von Osamu erlernte und sich beharrlich weigert, diesen „Papa“ zu
       nennen.
       
       ## Was Menschen außer Geld brauchen
       
       Ganz allmählich gibt Koreeda den Verwandtschaftsverhältnissen der Shibatas
       klarere Konturen, bis sie schließlich sehr unsanft aufgeklärt werden. Doch
       auch wenn einige Figuren ihre unheimlichen Züge haben, sind sie in ihrer
       Zerrissenheit zwischen wirtschaftlicher Not und einem intuitiven Gespür für
       das, was Menschen außer Geld brauchen, so warm gezeichnet, dass sie auf
       ihre Art, bei aller Verschlagenheit, für sich einnehmen. Was besonders in
       den Begegnungen mit anderen deutlich wird, etwa wenn die Oma die Familie
       ihres verstorbenen Mannes besucht. Dort empfängt man sie höflich, aber
       kühl, weil man mit der „ersten Frau des Vaters“ nichts anzufangen weiß.
       
       Die Kamera ist in „Shoplifters“ oft sehr nah an den Figuren, erzeugt den
       Eindruck von Unmittelbarkeit und nimmt gern die bodennahe Perspektive der
       Kinder ein, die, wie Koreeda schon in früheren Filmen wie „Nobody Knows“
       von 2004 gezeigt hat, Unglaubliches leisten. Das gilt allemal für Kairi Jyo
       in der Rolle des schweigsamen Shota, der Skrupel hat, seine neue
       „Schwester“ bei seinen Raubzügen hinzuzuziehen, aber fast noch mehr für
       Miyu Sasaki als Juri, mit ihrem ernst-gefassten Gesichtsausdruck ohne
       Lächeln, die allein durch ihre stumme Art zu nicken komplett entwaffnend
       ist. Und deren Spiel, auch das kann Koreeda einfach, zwar anrührend wirkt,
       jedoch nie ins Rührselige abgleitet.
       
       Rührselig wird es auch ansonsten nicht. Stattdessen zeigt Koreeda eine
       unnachgiebige Härte beim Offenlegen der wirtschaftlichen Determiniertheit
       dieser Hausgemeinschaft. Als irgendwann die Oma stirbt, freuen sich die
       Eltern ausgelassen über deren finanzielle Hinterlassenschaften. Sehr zum
       Befremden des Jungen Shota. Die Oma hatte zuvor in einer Szene am Strand
       gesessen, ihre Beine betrachtet, und leise vor sich hin gesagt: „So viele
       Altersflecken.“ Eine bittere Note daran: Die Darstellerin Kirin Kiki, die
       in mehreren Filmen Koreedas mitgespielt hat, ist am 15. September mit 75
       Jahren nach einer langen Krankheit gestorben.
       
       ## Nahbar-fremde Figuren
       
       Kirin Kikis darstellerische Leistung ist denen der Kinder mindestens
       ebenbürtig. Allerdings ist es am Ende das Zusammenspiel dieses Ensembles
       mit seinen so unterschiedlich nahbar-fremden Figuren, das diesen Film so
       selbstverständlich schön, traurig und schrecklich macht. Das Zarte und das
       Harte reflektiert zugleich die Filmmusik Haruomi Hosonos, der Klänge
       zwischen sanftem Jazz und sperriger Elektronik zusammenführt, die die
       innere Spannung des Geschehens auch in der Tonspur aufrechterhalten.
       
       Familie ist am Ende, so Koreedas Plädoyer, wozu man sich entscheidet.
       Selbst wenn diese auf einer Konstruktion beruht, die nicht unbegrenzt
       lebensfähig ist. Zumindest wird den einzelnen „Angehörigen“ die Erinnerung
       an eine Zeit bleiben, in der sie sich hatten, in der jemand für einen da
       war, nicht weil es so ist, sondern weil man es so wollte.
       
       2 Jan 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tim Caspar Boehme
       
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