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       # taz.de -- Chef des DIW warnt vor AfD-Politik: „Deutschland ist nicht das Paradies“
       
       > DIW-Präsident Marcel Fratzscher kritisiert die fehlende Willkommenskultur
       > in Deutschland. Er warnt vor der migrationsfeindlichen Politik der AfD.
       
   IMG Bild: Bald gähnende Leere? Sommerfest der AfD in Soemmerda bei Erfurt im August 2024
       
       taz: Herr Fratzscher, welche Folgen hat der AfD-Wahlerfolg für die
       Wirtschaft in Thüringen und Sachsen? 
       
       Marcel Fratzscher: Es sind große Auswirkungen zu befürchten – vor allem
       wegen des Umgangs mit Migrant*innen und Geflüchteten. Es entsteht
       mittlerweile eine sehr ausländerfeindliche und intolerante Stimmung. Und
       dies wird vor allem in Regionen, in denen die [1][AfD stark ist], die
       Wirtschaft negativ beeinflussen. Nicht nur ausländische Fachkräfte und
       Unternehmen meiden diese Regionen, auch viele gut ausgebildete Deutsche
       wollen dort nicht leben und arbeiten, weil ihnen die Stimmung zu intolerant
       und rassistisch ist. Das ist das Dilemma einiger dieser Regionen.
       
       taz: Was heißt das genau? 
       
       Fratzscher: Wir sehen in unseren Studien, dass die AfD besonders stark in
       Regionen ist, wo junge, gut ausgebildete Menschen abwandern. Gleichzeitig
       führt die rechte Stimmung dazu, dass noch mehr abwandern und
       [2][Unternehmen sich nicht ansiedeln wollen]. Und damit geht häufig ein
       großes Stück öffentlicher Daseinsfürsorge verloren, weil Schulen schließen,
       Ärzte fehlen und Geschäfte sowie Kneipen dichtmachen. So setzt sich ein
       Teufelskreislauf aus zunehmender Wirtschaftsschwäche und gesellschaftlicher
       Polarisierung in Gang. Und insofern ist es auch gefährlich, wenn die
       demokratischen Parteien versuchen, die AfD zu kopieren und
       migrationsfeindliche Politik machen.
       
       taz: Wie wirkt sich die Politik der AfD auf Gesamtdeutschland aus? 
       
       Fratzscher: Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt haben zwar die größten
       demografischen Probleme. Sie werden auch künftig am meisten unter
       Geburtenrückgang und Bevölkerungsexodus leiden. Aber Überalterung und
       [3][Fachkräftemangel] sind im gesamten Bundesgebiet ein Problem. In den
       nächsten zehn Jahren werden 5 Millionen Beschäftigte mehr in den Ruhestand
       gehen als junge Menschen neu in den Arbeitsmarkt kommen. Diese Lücke wird
       nicht allein durch eine stärkere Frauenerwerbstätigkeit oder die
       Mobilisierung von Arbeitslosen geschlossen werden können.
       
       taz: Deutschland muss also ein Einwanderungsland bleiben? 
       
       Fratzscher: Deutschland hatte noch nie eine sehr ausgeprägte
       Willkommenskultur. Deutschlands Zukunft und sein Wohlstand hängen davon ab,
       ob es gelingt, genügend Fachkräfte nach Deutschland zu bringen. Und das
       Land braucht nicht nur hochqualifizierte Fachkräfte. Überall fehlen
       Arbeitskräfte. Es braucht auch geringqualifizierte Menschen für den
       Dienstleistungsbereich oder die [4][Bauindustrie]. Wenn Deutschland sich
       nicht für Zuwanderung öffnet, wird sehr viel Wohlstand verloren gehen.
       Besonders strukturschwache Regionen, in denen die AfD stark ist, und
       besonders geringqualifizierte Menschen im ländlichen Raum werden unter
       diesem Wohlstandsverlust leiden.
       
       taz: Das Institut für [5][Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)]
       beziffert den jährlichen Bedarf an Nettozuwanderung für den Arbeitsmarkt
       auf 400.000 Menschen. Also müssten demnach 400.000 Menschen mehr ins Land
       kommen als es verlassen. Halten Sie diese Zahl für korrekt? 
       
       Fratzscher: Das ist eine realistische Zahl. Wir haben heute schon 1,7
       Millionen offene Jobs. Und wenn in den nächsten zehn Jahren 5 Millionen
       Menschen in den Ruhestand gehen, dann braucht es jährliche eine halbe
       Million neuer Arbeitskräfte. Und die Arbeitskräfte wollen nicht allein
       kommen. Sie wollen ihre Kinder und Partner*innen mitbringen. Das wird
       eine gigantische Herausforderung sein. Will Deutschland sie meistern, muss
       es sich ändern und öffnen.
       
       taz: Was muss passieren? 
       
       Fratzscher: Deutschland ist nicht das Paradies auf Erden. Hochqualifizierte
       Fachkräfte wollen häufig nicht hierherkommen. Schließlich herrscht hier
       eine schlechte Willkommenskultur, die Sprache ist schwierig, die Bürokratie
       groß und die Anerkennung ihrer Abschlüsse und Qualifikationen umständlich.
       
       taz: Wurden bei der Integration in der Vergangenheit Fehler gemacht? 
       
       Fratzscher: Man muss sich erst mal eingestehen, dass die Integration eine
       große Herausforderung ist. Und dass auch viel richtig gemacht wurde und
       wird. So ist die Mehrheit der damals Geflüchteten heute in Arbeit, deutlich
       mehr als was damals realistisch erwartet werden konnte. Als 2015 im Zuge
       des Willkommens-Sommer die Zahl der Schutzsuchenden sprunghaft stieg, waren
       insbesondere die Kommunen nicht darauf vorbereitet. Man hat zwar daraufhin
       Kapazitäten zur Versorgung von Geflüchteten aufgebaut – sie aber gleich
       wieder abgebaut. Jetzt fehlen diese Kapazitäten wieder. Gleichzeitig wurde
       verpasst, auf europäischer Ebene eine Lösung zu finden. Und letztlich ist
       auch die Mentalität in Deutschland mit schuld.
       
       taz: Was hat Integration mit Mentalität zu tun? 
       
       Fratzscher: Im Diskurs heute geht es fast ausschließlich um Abschiebungen
       und Grenzschließungen. Die ungleich wichtigere und dringendere Frage ist
       jedoch, wie die Integration der über 3 Millionen Schutzsuchenden in
       Arbeitsmarkt und Gesellschaft schneller und besser gelingen kann. Ein Teil
       der Gesellschaft und auch der demokratischen Parteien will verhindern, dass
       Deutschland ein Einwanderungsland bleibt. Diesen Menschen sind
       wirtschaftliche Argumente nicht so wichtig. Sie verzichten lieber auf
       Wohlstand, wenn Deutschland dafür eine weißere, autochtonere Gesellschaft
       bleibt. Dadurch werden die Menschen, die nach Deutschland kommen, nicht so
       gut integriert, wie es eigentlich nötig und möglich wäre.
       
       taz: Was muss jetzt geschehen? 
       
       Fratzscher: Die gegenwärtige Krise der Demokratie und die zunehmende
       Polarisierung in Deutschland können nur durch einen ehrlichen Dialog über
       die Frage gelöst werden, was wir als Gesellschaft wollen. Forderungen nach
       Einschränkung des Asylrechts hingegen sind nichts als Populismus.
       Stattdessen sollten wir unsere Anstrengungen auf die Integration der hier
       Schutz Suchenden fokussieren und nicht so tun, als wären alle Probleme
       gelöst, wenn wir ihr Menschenrecht auf Asyl beschränken.
       
       taz: Müsste der Staat für die Integration mehr Geld in die Hand nehmen? 
       
       Fratzscher: Nicht nur für die Integration. Der Sparkurs der vergangenen
       Jahre war schädlich. Der gesamte Bildungsbereich ist deutlich
       unterfinanziert. Es fehlt in Kitas und Schulen an Personal. Wenn
       geflüchtete Kinder integriert werden sollen, ist das eine zusätzliche
       Belastung. Gleichzeitig muss auch in anderen Bereichen der öffentlichen
       Daseinsfürsorge wie der Verkehrsinfrastruktur und dem Wohnungsbau wieder
       mehr investiert werden. Dafür muss der Staat mehr Geld in die Hand nehmen
       und vor allem auch die Kommunen besser ausstatten. Es braucht auch eine
       Wende in der Finanzpolitik und eine Reform der Schuldenbremse.
       
       taz: Hat die Sparpolitik auch zum Wahlerfolg der AfD beigetragen? 
       
       Fratzscher: Die AfD-Wähler*innen haben durchaus reale Sorgen. Nicht umsonst
       ist die Partei in strukturschwachen Regionen stark, wo Schulen schließen
       und Firmen abwandern. Deswegen brauchen diese Regionen neue wirtschaftliche
       Impulse. Die Politiker*innen müssen nicht nur ehrlicher kommunizieren,
       was die Politik leisten kann. Es muss auch wieder mehr in öffentliche
       Infrastruktur und neue Strukturen investiert werden.
       
       taz: Braucht es also einen neuen Aufbauplan Ostdeutschland? 
       
       Fratzscher: Es braucht einen neuen Aufbauplan Gesamtdeutschland. Auch in
       Westdeutschland gibt es Regionen wie das Ruhrgebiet oder Teile von
       Rheinland-Pfalz, die strukturschwach sind. Deswegen ist eine
       Strukturpolitik notwendig, die gezielt in Regionen wirtschaftliche Impulse
       setzt. Es muss wieder das im Grundgesetz festgeschriebene Versprechen der
       gleichwertigen Lebensverhältnisse im gesamten Bundesgebiet gelten.
       
       5 Sep 2024
       
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