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       # taz.de -- Chemieindustrie gegen Klassifizierung: Machtkampf um ein Weißpigment
       
       > Die Industrie hat eine Kennzeichnung von Titandioxid als krebserregend
       > bisher verhindert. Nun steht das Thema wieder auf der Agenda.
       
   IMG Bild: Sind die Stoffe in der Farbe krebserregend?
       
       BERLIN taz | Auf die Aussichten einer Einigung werden noch Wetten
       angenommen: Am Mittwoch tagt wieder das Gremium, in dem über die
       Kennzeichnung des Weißpigments Titandioxid entschieden wird. Der
       Fachausschuss aus EU-Kommission und Mitgliedstaaten, der für die
       Regulierung chemischer Stoffe zuständig ist, hatte das Thema Titandioxid
       schon öfter auf die Agenda gesetzt, die Abstimmung darüber nach erheblichem
       Druck der Industrie aber stets verschoben.
       
       Auf ihrer aktuellen Sitzung könnte der Ausschuss entscheiden, dass feste
       oder flüssige Mischungen, die mindestens 1 Prozent Titandioxid-Partikel
       enthalten, gekennzeichnet werden müssen. Auf den Etiketten von
       Flüssigkeiten könnte dann der Hinweis prangen: „Achtung! Beim Sprühen
       können gefährliche lungengängige Tröpfchen entstehen. Aerosol oder Nebel
       nicht einatmen!“ Auf den Packungen mit Pulvern würde entsprechend vor
       Stäuben gewarnt. Von der ursprünglich vorgesehenen generellen Kennzeichnung
       sei die EU abgerückt, beklagt Tatjana Santos vom Europäischen Umweltbüro in
       Brüssel: „Die Industrie hat sich mit ihren Forderungen durchgesetzt.“
       
       Die Unternehmensverbände laufen Sturm, seit ein Expertengremium im
       Frühsommer 2017 eine Kennzeichnung [1][für Titandioxd-Stäube forderte].
       Zahlreiche „Brandbriefe“ wurden nach Brüssel geschickt,
       Industrielobbyisten luden zu „Informationsfrühstücks“ ein. Anfang der
       Woche warnte der Verband der chemischen Industrie vor den „enormen
       wirtschaftlichen Folgen einer Klassifizierung“. Man halte eine
       Folgenabschätzung für dringend notwendig.
       
       Es geht um viel Geld: Die Lobbyvereinigung der Titandioxid-Hersteller
       beziffert den globalen Marktwert ihrer Branche auf 3 Milliarden Euro, in
       Europa wird jährlich etwa eine Million Tonnen der Chemikalie produziert.
       Das Pigment macht zahlreiche Alltagsprodukte weiß oder glänzend, Tabletten,
       Zahnpasta, Kunststofffenster, Wandfarben, Kosmetika und Spielzeug,
       Mozzarella, Kaugummis, und Zuckerguss. Die Chemieindustrie fürchtet
       allerdings vor allem, mit Titandioxid werde ein „Präzedenzfall“ geschaffen.
       Sie möchte nicht eine bestimmte Chemikalie behandelt wissen, sondern
       allgemeine Regeln für alle Stäube.
       
       ## Foodwatch fordert Dr. Oetker zum Rückruf auf
       
       Die Umweltverbände sehen das anders. „Es gibt zwar bislang keinen Hinweis
       darauf, dass der Stoff hochgradig gefährlich ist“, sagt Rolf Buschmann,
       Chemikalienexperte bei der Umweltorganisation BUND, „aber wenn er als Staub
       oder Tröpfchen eingeatmet wird, besteht das Risiko, dass er Krebs auslöst.“
       Stäuben seien vor allem ArbeiterInnen ausgesetzt, etwa wenn sie Farbe mit
       Sprühpistolen verwenden oder in Fabriken arbeiten, in denen Titandioxid in
       Pulverform verarbeitet wird.
       
       Die Verbraucherorganisation Foodwatch geht noch einen Schritt weiter. Sie
       hat vor einigen Wochen eine Kampagne gegen E 171 gestartet und fordert den
       Bielefelder Pudding-Konzern Dr. Oetker zum Rückruf bestimmter Backzutaten
       auf, weil sie Titandioxid in Nano-Form enthalte. Als „potenziell
       krebserregender Stoff“ solle E 171 aus der Zutatenliste verbannt werden, so
       Foodwatch.
       
       Damit liegt die Organisation auf einer Linie mit der Regierung Frankreichs,
       die den Stoff ab 2020 für ein Jahr als Lebensmittelzusatz verbietet. Sie
       beruft sich dabei auf das Vorsorgeprinzip, weil die zuständige französische
       Agentur für Lebensmittelsicherheit die Datenlage in Bezug auf Titandioxid
       für zu schlecht hält, um Gesundheitsgefahren einschätzen zu können. Das
       deutsche Institut für Risikobewertung hingegen sieht keinen Anlass,
       Titandioxid als Lebensmittelzusatz als gefährlich einzustufen, und hält
       daher auch weitere gesetzliche Regelungen für notwendig.
       
       18 Sep 2019
       
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