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       # taz.de -- Christlicher Antisemitismus: „Wie viel Widerspruch gibt es?“
       
       > Berlins Antisemitismusbeauftragter Samuel Salzborn über Ostern als Wurzel
       > des christlichen Antisemitismus und tradierte antijüdische Ressentiments.
       
   IMG Bild: Samuel Salzborn bei seinem Amtsantritt im August 2020
       
       taz: Herr Salzborn, das Osterfest ist der Kulminationspunkt des
       christlichen Glaubens – und gleichzeitig die wichtigste Wurzel des
       christlichen Antijudaismus, der die Juden als „Gottesmörder“ markierte. Ist
       das heute überhaupt noch ein Thema? Die Recherchestelle Rias verzeichnet
       bei den antisemitischen Vorfällen in Berlin einen sehr geringen Anteil mit
       christlichem Hintergrund. 
       
       Samuel Salzborn: Antisemitismus bewegt sich auf vielen Ebenen. Was Rias
       dokumentiert, sind aktive Taten. Ich würde aber davor warnen,
       Antisemitismus erst in den Blick zu nehmen, wenn die Schwelle zur Gewalt
       überschritten wird. Die Grundlage jeder antisemitischen Tat ist eine
       antisemitische Einstellung. Das sieht man auf der Ebene des Individuums,
       also dass die handelnde Person ein bestimmtes Weltbild hat. Es geht aber
       auch um das gesellschaftliche Klima: Wie sehr wird Antisemitismus
       akzeptiert, wie viel Widerspruch gibt es? Haben Antisemitinnen und
       Antisemiten das Gefühl, dass sie etwas tun, was von einigen oder vielen in
       der Gesellschaft oder ihrer Peergroup geteilt wird?
       
       Bei den beiden großen Kirchen mit öffentlich-rechtlichem Charakter gehe ich
       davon aus, dass antisemitisches Gedankengut heute keine große Rolle mehr
       spielt. 
       
       Wir müssen da differenzieren – zuerst einmal natürlich zwischen
       katholischer und evangelischer Kirche sowie freikirchlichen Formen des
       Christentums. Zu unterscheiden ist aber auch zwischen den Institutionen,
       den einzelnen Christinnen und Christen und drittens der Strukturebene.
       
       Was meinen Sie damit? 
       
       Die Frage lautet: Wo gibt es bis heute in der Struktur des christlichen
       Glaubens immer noch Anschlusspunkte für Antijudaismus und Antisemitismus?
       Nur ein Beispiel: Die Luther-Übersetzung der Bibel, die für das
       evangelische Christentum eine große Relevanz hat, sehe ich weiterhin als
       Thema, das nicht ausdiskutiert ist. Als vor einigen Jahren eine „Bibel in
       gerechter Sprache“ erschien, wurde noch einmal deutlich, wie viele
       antijüdische Stereotype Luther in seine Übersetzung eingeschrieben hat. Ich
       habe das Gefühl, dass hier immer noch viel Laisser-faire herrscht. Auch im
       „Lutherjahr“ 2017 veröffentlichte die Evangelische Kirche in Deutschland
       (EKD) am Anfang eine klare Erklärung und sagte auch am Ende noch einmal
       etwas – aber dazwischen ist relativ wenig passiert.
       
       Sind antijüdische Stereotype nicht ein fester Bestandteil dieser Texte,
       Luther hin oder her? Die kriegt man doch aus der Religion nicht raus. 
       
       Richtig, und es ist auch kein Zufall, dass die erste große Studie über
       Antisemitismus, Sigmund Freuds „Der Mann Moses und die monotheistische
       Religion“ genau diese Frage in den Mittelpunkt rückt. Freud weist darauf
       hin, dass in das Christentum eine Neiddimension eingeschrieben ist, dass es
       um ein Ressentiment geht, das sich gegen bestimmte Elemente des religiösen
       Judentums richtet – wie den abstrakten Gesetzescharakter und die
       Auferlegung, selbst nicht Gott sein zu können, von Gott klar unterschieden
       zu sein, was die Psychoanalyse als narzisstische Kränkung für christliche
       Glaubensvorstellungen interpretiert. Solche Strukturelemente sind quasi
       festgeschrieben. Aber es ist nicht festgeschrieben, wie man sich damit
       auseinandersetzt.
       
       Wie könnte das aussehen? 
       
       Die Frage ist, ob die Institutionen letztlich bereit sind, sich von
       bestimmten Elementen im Kontext der Bibel zu verabschieden, sie zu
       historisieren und zu sagen: Für die Gegenwart verwerfen wir das.
       
       Andererseits verlieren die Kirchen ohnehin kontinuierlich an Mitgliedern
       und Relevanz. 
       
       Die formalisierte Mitgliedschaft ist das eine. Auf der anderen Seite prägt
       das Christentum weiter die politische Kultur der Bundesrepublik.
       Christliche Vorstellungen sind im Alltag nach wie vor sehr präsent, und
       bestimmte Elemente antijüdischer Traditionen brechen plötzlich an anderer
       Stelle wieder auf. Die Vorstellung einer angeblichen jüdischen
       Weltverschwörung reicht bis weit ins 13. Jahrhundert zurück und wurde
       maßgeblich mit epidemischen Erscheinungen in Verbindung gebracht, damals
       der Pest. Wenn wir uns heute die „Coronademonstrationen“ anschauen, sehen
       wir zwar einen vordergründig säkularen Inhalt, aber der Verschwörungsglaube
       in Verbindung mit antisemitischen Projektionen ist trotzdem wieder extrem
       virulent. Antijüdische Ressentiments sind lange tradiert, und es ist ein
       wahnsinnig schwieriger Prozess, das nachhaltig aufzubrechen. Da sehe ich
       die kirchlichen Institutionen in der Verantwortung, ihre Stimmen
       einzubringen.
       
       Sie vermissen eine klarere Positionierung? 
       
       Ja und nein. Wenn wir etwa die von der EKD und der katholischen Deutschen
       Bischofskonferenz getragene Kampagne „#beziehungsweise“ betrachten, die
       Verbindungslinien zwischen Christentum und Judentum herausstellen will,
       muss man sagen, es gibt durchaus ein ernsthaftes Engagement im
       interreligiösen Dialog. Wie die EKD hat auch die evangelische Landeskirche
       (EKBO) seit Kurzem eine eigene Antisemitismusbeauftragte. Sie und der
       Landesbischof finden klare Worte, wenn es um Antisemitismus in den eigenen
       Reihen geht. Trotzdem sehe ich insgesamt oft ein strategisch lavierendes
       Handeln. Wenn es zu antisemitischen Vorfällen kommt, in jüngerer Zeit oft
       auch Formen von transformiertem, gegen Israel gerichteten Antisemitismus,
       hält man sich sehr bedeckt und vermeidet den Konflikt.
       
       Sollte sich die evangelische Kirche deutlicher von Martin Luther abgrenzen,
       dessen massiver Hass auf Juden vielen im schon erwähnten Lutherjahr wieder
       sehr bewusst wurde? 
       
       Aus evangelischer Sicht ist das möglicherweise eine sehr schmerzhafte
       Frage. Aber wenn man die Auseinandersetzung mit Antisemitismus und
       Antijudaimus ernst meint, halte ich sie für unumgänglich. Im Übrigen steht
       keinesfalls nur die evangelische Kirche in der Pflicht. Erst vor wenigen
       Monaten haben einige engagierte Bürgerinnen und Bürger eine Diskussion
       angestoßen, ob man die Pacelliallee in Dahlem umbenennen sollte. Pacelli
       war der bürgerliche Name von Papst Pius XII., dessen hochproblematische
       Rolle im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus, dem Reichskonkordat und
       der Schoah breit diskutiert wurde. Mich hat irritiert, welch massive Abwehr
       es seitens der katholischen Kirche gegen die Debatte gab. Natürlich ist das
       eine für die Institution ikonische Figur, aber ich glaube, man kann da
       nicht auf einer Abwehrhaltung beharren. Wenn man bei solchen Knackpunkten
       nicht bereit ist, sich auf eine selbstkritische, schmerzende Debatte
       einzulassen, wie viel ist denn sonst dran an Toleranz und Akzeptanz, am
       interreligiösen Dialog?
       
       Es gibt auch den Vorschlag, die Martin-Luther-Straße umzubenennen. Würden
       Sie das unterstützen? 
       
       In Berlin wird so etwas ja am Ende von der BVV entschieden, es ist eine
       Frage der Mehrheitsverhältnisse in einem demokratischen Prozess, und dem
       kann man nicht administrativ vorgreifen. Im Übrigen gibt es ja auch
       Möglichkeiten der Kommentierung, mit Informationstafeln oder öffentlichen
       Ausstellungselementen. Zunächst einmal aber ist es extrem wichtig, dass
       überhaupt eine Auseinandersetzung in Gang kommt. Bisweilen gibt es die
       Vorstellung, wir hätten die ganzen Antisemitismusdebatten längst geführt.
       Aber die Geschichte der Bundesrepublik ist eine von Jahrzehnten des
       Beschweigens und der Schuldabwehr.
       
       Finden Sie denn ganz persönlich, dass Luther heute noch mit dem Namen einer
       zentralen Straße geehrt gehört? 
       
       Wie gesagt, das liegt nicht in meiner Kompetenz. Aber wenn ich die
       Möglichkeit hätte, eine Straße zu benennen, würde ich sie nicht nach Martin
       Luther benennen.
       
       Wie verhält es sich nach Ihrer Einschätzung mit antisemitischen
       Einstellungen im Bereich der freikirchlichen christlichen Gruppen? 
       
       Der Plural deutet schon an: Es gibt hier eine große Masse an
       unterschiedlichen Bewegungen. Fast alle zeichnen sich aber durch eine
       doppelte Problematik aus, die einerseits apokalyptische Vorstellungen
       betrifft, andererseits den weit verbreiteten Missionarismus. Hier sind
       strukturelle Elemente, die trotz oftmals vordergründig verbreiteter
       philosemitischer Positionen eine doppelbödige Kehrseite des Antijudaismus
       markieren.
       
       Zu Ostern werden traditionell die Bach-Passionen aufgeführt – wunderbare
       Musik, aber ein antisemitisch gefärbtes Narrativ, was bis in die
       musikalische Ausmalung hineingeht. Mir selbst als jemand, der in einem Chor
       singt, wird das immer wieder bewusst. Wie soll man damit umgehen? 
       
       Ich finde Ihre implizite Antwort schon gut: es an den Stellen, die einen
       selbst betreffen, selbstkritisch thematisieren. In diesem Jahr will der
       Neue Kammerchor Berlin eine kritische Version von Bachs Johannespassion
       aufführen und mit einem Programmheft den Antijudaismus der Passionen
       thematisieren. Das wird Bach-Fans sicher schmerzen – aber genau das ist der
       Schritt von der Abwehr zur Selbstkritik.
       
       2 Apr 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Claudius Prößer
       
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