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       # taz.de -- Citizen Science Projekt zur Hansezeit: Im Flow des Transkribierens
       
       > Mit Handschriften aus der Hansezeit reisen Freiwillige in Lübeck in die
       > Vergangenheit: „Citizen Science“ macht bislang ungenutzte Quellen
       > zugänglich.
       
   IMG Bild: Lesenkönnen ist Voraussetzung für das Projekt: Rezess – eine Vereinbarung des letzten Hansetages am 29. Mai 1669
       
       Lübeck taz | Es gibt diesen Moment, da treten aus dem Gewirr von Strichen
       und schwungvollen Bögen plötzlich Worte hervor, und aus den Worten ein Satz
       – wie bei einem Rätsel, das sich durch ein einziges Wort auflöst. Das Wort
       heißt „ausgeschrieben“. Aber das weiß Felicitas Blanck zuerst nicht, denn
       es verteilt sich über zwei Zeilen.
       
       Das Wort steht in einem Protokoll des Lübecker Seegerichts von 1617. Sicher
       hätte der Schreiber damals nicht gedacht, dass jemand 400 Jahre später
       versuchen würde, seine mit Schnörkeln verschönerte Sauklaue zu entziffern.
       
       Er wechselt recht geschmeidig zwischen Mittelhochdeutsch und Latein. Eine
       verbindliche Rechtschreibung gab es noch nicht. Das hört sich dann so an:
       „Lubeck ut supra, in Anwesenheit Jonas Schulzen vnd Heinrich Geesen, hierzu
       insonderheit erforderten gezeugen quod attestor Ego Johannes Hesse.“
       
       Felicitas Blanck liest seit einigen Monaten in ihrer Freizeit Texte aus der
       Zeit der Hanse, neben Gerichtsprotokollen auch Mitschriften der Hansetage,
       die Konferenzen des internationalen Handelsnetzwerks. Zusammen mit 16
       anderen Freiwilligen sucht sie darin [1][Informationen über ein Schiff, das
       im 17. Jahrhundert im Hafen von Lübeck gesunken ist].
       
       ## 530 Seiten Gerichtsakten
       
       Die ehrenamtlichen Forscher*innen sind vernetzt in dem „Citizen
       Science“-Projekt „Hanse. Quellen. Lesen!“. Auf der Seite „Mitforschen.org“
       [2][präsentieren sich 150 solcher aktuellen Projekte], 150 weitere sind
       schon abgeschlossen. Die forschenden Bürger*innen entziffern alte
       Handschriften oder beobachten Insekten, fotografieren Graffiti oder basteln
       an nachhaltigen Verkehrskonzepten für ihre Stadt.
       
       Viele Projekte brauchen die Mithilfe von Freiwilligen, weil sie sehr große
       Datenmengen verarbeiten. Im Lübecker Projekt lesen sie zum Beispiel 530
       Seiten Gerichtsakten, ein Drittel davon ist schon transkribiert. Irgendwann
       werden sie darin den Namen [3][des gesunkenen Schiffs] finden, dann geht
       die Recherche in Archiv-Dokumenten weiter.
       
       Die Transkriptionen sind nicht nur interessant für die [4][Forschung zum
       Schiffswrack], sondern „sehr wertvoll auch für die Geschichte der Hanse“,
       sagt Manuela Nitsch. Die Kulturpädagogin betreut das Projekt. Ihr
       Arbeitgeber ist die [5][Forschungsstelle für die Geschichte der Hanse] und
       des Ostseeraums (FGHO) im Europäischen Hansemuseum. Die Forschungsstelle
       arbeitet für das Projekt mit dem städtischen Archiv und dem Bereich
       Archäologie zusammen.
       
       Die Transkripte füttern auch eine KI, die lernt, selber historische Texte
       in moderne Schrift zu „übersetzen“. Die Kriterien dafür entwickeln die
       Freiwilligen mit, denn einige von ihnen sind schon echte Expert*innen.
       Historiker*innen wären damit Jahre lang beschäftigt und müssten sich
       das Lesen der Schriften „auch erst aneignen“, sagt Nitsch.
       
       Sie vernetzt und schult die Freiwilligen und bietet einmal in der Woche ein
       Online-Meeting an, wo sie zum Beispiel Kniffe für die Arbeit mit einer
       Transkriptions-Software lernen. Dann arbeiten sie in Kleingruppen gemeinsam
       an Texten.
       
       Hier trifft Felicitas Blanck auf Kristina Russ, die schon seit 2021
       Hansetexte übersetzt. Sie war in der Coronazeit gesundheitlich angeschlagen
       und suchte ein Ehrenamt, bei dem sie von zuhause gleichzeitig mit anderen
       zusammenarbeiten kann. „Zuerst habe ich für eine Zeile eine Stunde
       gebraucht“, erzählt sie. Inzwischen übersetzt sie eine ganze Seite in
       zwanzig Minuten. „Ich habe danach eine Fortbildung zur Transkription und
       einen Lateinkurs gemacht. Inzwischen arbeite ich freiberuflich in diesem
       Feld“, sagt sie.
       
       Im Team sind mehrere pensionierte Ärzte, ein Forstwissenschaftler und an
       Geschichte interessierte Nicht-Akademiker*innen. Ein Historiker der
       Forschungsstelle hilft bei schwierigen Fragen und liest am Ende Korrektur.
       Citizen Scientist Tim Burzlaff liebt es, mit den Texten in die
       Vergangenheit einzutauchen. Gleichzeitig findet er „immer wieder Parallelen
       zu heute, wenn es zum Beispiel um die Reisekosten bei [6][Hansetagen]
       geht“.
       
       Gabriele Sander aus Bonn ist Archivarin in Rente. Sie macht in dem Projekt
       mit, weil es „für die Allgemeinheit Sinn macht“ – und für sie selbst. „Es
       war, als würde ich noch einmal Lesen lernen. Ich komme beim Transkribieren
       in einen Flow, es ist eine Schatzsuche.“ Neulich haben Kristina Russ und
       ihre Kolleg*innen einen solchen Schatz gefunden. Ein Teilnehmer der
       Hansetage empfahl ein neues „Büchlein“, das gerade erschienen war. Sein
       Autor sei ein gewisser „Dr. Luther“.
       
       30 Apr 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Schiffsfund-in-der-Trave/!5959500
   DIR [2] https://www.mitforschen.org
   DIR [3] /Schiffsfund-in-der-Trave/!5959500
   DIR [4] /!6003950&s=grabitz&SuchRahmen=Print/%20
   DIR [5] /Forschung-zur-Geschichte-der-Hanse/!5875342
   DIR [6] /Forscherin-ueber-die-Hanse/!5901212
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Friederike Grabitz
       
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