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       # taz.de -- Comic von Chloé Cruchaudet: Statt in den Krieg ins Kleid
       
       > Ein Deserteur, der zur Frau wurde, um den Behörden zu entkommen: Chloé
       > Cruchaudets „Das falsche Geschlecht“ zeichnet die Story von Paul Grappe
       > nach.
       
   IMG Bild: Louise striegelt und epiliert ihn, lehrt ihn Manieren, macht aus ihm eine Frau.
       
       Von Louise und Paul Grappe hörte die Autorin Chloé Cruchaudet zum ersten
       Mal im Radio. Damals wurde der Essay „La garçonne et l’assassin“
       besprochen; die beiden HistorikerInnen Fabrice Virgili und Danièle Voldman
       konstruierten darin anhand einer Fülle von Fotos, Tagebüchern,
       Zeitungsartikeln und Gerichtsurteilen das Leben des Ehepaars Grappe und
       dessen außergewöhnliches Schicksal. Die Geschichte ließ Cruchaudet keine
       Ruhe. „Das falsche Geschlecht“, ihre vielfach prämierte Comicadaption, ist
       nun gerade auf Deutsch erschienen.
       
       Die Geschichte hat es in sich. 1911 heiraten Louise und Paul. Kurz darauf
       bricht der Krieg aus und Paul muss an die Front. Als er sich wegen einer
       Verletzung im Krankenhaus kurz von den Schützengräben erholen darf, fasst
       er den Entschluss: Er wird nicht wieder in den Krieg zurückkehren. Doch
       Deserteuren droht die Todesstrafe. Um nicht verhaftet zu werden, verkleidet
       er sich als Frau.
       
       So wurde Paul Grappe zu Suzanne Landgard, mit der Hilfe seiner Frau Louise,
       die in die Rolle seiner Mitbewohnerin schlüpfte. Auch nach Kriegsende
       dauert es noch eine Weile bis zur offiziellen Begnadigung der Deserteure,
       und so bleibt Suzanne insgesamt zehn Jahre in ihrer Maskerade. Im Paris der
       1920er Jahre sind Frauen, die männerlos zusammenleben, ob gewollt oder
       nicht, nichts Außergewöhnliches.
       
       „Es war eine Zeit voller Umbrüche“, sagt Chloé Cruchaudet im Gespräch.
       „Doch wäre der Kontext ein anderer gewesen, hätte ich mich nicht weniger
       für Paul und Louise interessiert.“ Angesprochen habe sie zunächst die
       Geschichte eines Mannes, der ein Leben als Mann und ein Leben als Frau
       gelebt hat – und all die Fragen darüber, was eigentlich angeboren, was
       erworben ist. So wagt sich die Autorin und Zeichnerin Cruchaudet an die von
       Virgili und Voldmans Dokumentation übrig gebliebenen Schattenbereiche. Sie
       erdichtet in Bildern die Intimität des Paares. Und sie beschreibt eine
       Louise, die sich anfänglich noch als Herrin der Lage profiliert, indem sie
       für Paul zur unverzichtbaren Lehrerin wird. Louise striegelt und epiliert
       ihn, lehrt ihn Manieren, macht aus ihm eine Frau. Die Schmerzen der
       Verwandlung sind kaum vorbei und schon blüht Paul in seiner neuen Rolle
       auf. Bald übertrifft er seine Meisterin, übernimmt wieder das Steuer und
       schneidet Louise einen Bubikopf.
       
       ## Frau mit Mut
       
       Eine Frau am Puls ihrer Zeit ist Paul auch in der Realität gewesen. Er
       gehört zu den ersten Französinnen, die Fallschirm gesprungen sind. 1923
       soll er sogar beim jährlichen Treffen der Szene in Vincennes um die 16
       Sprünge vollzogen haben. Einstimmig schwärmten die Lokalblätter vom „Mut
       der furchtlosen Madame Suzanne Landgard“.
       
       Diese von Virgili und Voldman dokumentierte Anekdote fehlt wiederum in
       Cruchaudets Band. „Paul und Louises Leben ist unglaublich ereignisreich
       gewesen“, bestätigt sie. „In einer Fiktion wären manche ihrer Abenteuer
       paradoxerweise unglaubwürdig erschienen, ich musste eine Auswahl treffen.“
       So bleibt auch eine rätselhafte Flucht nach Spanien um 1920 auf der
       Strecke. Dafür konzentrierte sich Cruchaudet umso mehr auf Suzannes
       ausschweifende Ausflüge ins Wäldchen von Boulogne, wo sie den Genüssen der
       freien Liebe nachging und von ihren MitstreiterInnen „Königin der
       Garçonnes“ getauft wurde.
       
       „Ich habe mich oft gefragt, ob es Eingeweihte gab, die über Paul Bescheid
       wussten und ihn gedeckt haben“, sagt Cruchaudet. Das habe sich allerdings
       nirgends nachweisen lassen, und sie ahnt: „Vermutlich übte er solch ein
       Charisma aus, dass man ihm einfach alles glaubte.“ Als schließlich 1925 die
       Deserteure amnestiert werden, hängt Suzanne das Frauenkleid an den Nagel,
       wird wieder zu Paul und erzählt seine Geschichte jedem, der sie hören will.
       Damit sorgt er für zahlreiche Schlagzeilen und wird zu einer schillernden
       Berühmtheit. Doch schon bald folgt der Absturz. Paul trinkt, die Beziehung
       zu Louise verschlechtert sich, er schlägt sie. Immer sadistischer wird das
       Machtspiel zwischen dem Ehepaar. Es endet erst mit der Selbstanzeige
       Louises, nachdem sie Paul erschossen hat.
       
       ## Die Wunden des Kriegs
       
       Um Paul besser verstehen zu können, besuchte Cruchaudet das Stadtarchiv,
       las Louises Tagebuch, das sie im Gefängnis schrieb, und sah sich Filme über
       den Ersten Weltkrieg und dessen traumatische Folgen an. Auch wenn es dafür
       keinen ärztlichen Beleg gibt, soll Paul stark unter Kriegsneurosen gelitten
       haben. „Mir war klar, dass ich bei meinen Recherchen harte Dinge sehen
       würde. Doch das übertraf alles, was ich mir vorgestellt hatte.“ Das
       Zeichnen der Szenen von Kriegs- und Ehegewalt empfand Cruchaudet als
       besonders strapaziös. Es war wie ein tiefgehendes Empathiespiel, in dem sie
       sich beispielsweise fragen musste, wie sie Louise am meisten wehtun würde,
       wenn sie Paul wäre.
       
       „Die Nervosität, die dadurch entsteht, ist für die Komposition und den
       richtigen Strich notwendig, aber auch sehr anstrengend.“ Dass sie derzeit
       an einem Kinderbuch schreibt, sei eine Art Gegengift, um sich von der
       Arbeit an „Das falsche Geschlecht“ wieder zu erholen.
       
       Die Anstrengung hat sich gelohnt. Entstanden ist ein spannend erzähltes
       Werk, das in die Wunden des Krieges bohrt und sich einfühlsam durch die
       Wirrungen von Genderidentitäten und Rollenerwartungen tastet. „Das falsche
       Geschlecht“ erweist sich als dezidiertes Plädoyer für individuelle
       Wahlfreiheit, das es entsprechend schafft, viel Raum für eigene Gedanken
       und Interpretationen freizulassen.
       
       14 Sep 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Elise Graton
       
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