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       # taz.de -- Corona in Italien: Die tiefrote Zone
       
       > Ungezählt ist die Zahl der Kranken in der italienischen Stadt Alzano
       > Lombardo. Es ist, als könne man sehen, was dem Rest Europas bald blüht.
       
   IMG Bild: Auch die Stadt Codogno wurde für zwei Wochen abgeriegelt
       
       Alzano Lombardo taz | Um sieben Uhr abends ist niemand mehr unterwegs. Nur
       die Angestellten der Bestattungsunternehmen mit ihrem Klebstoffeimer, der
       Walze und den Plakaten mit den Namen der zuletzt Verstorbenen. Hinter den
       geschlossenen Rollläden ist nichts zu hören, nichts außer Husten.
       
       Und dann die Krankenwagen. Die Sirenen der Krankenwagen, immer wieder, die
       ganze Nacht.
       
       Alzano Lombardo, 14.000 Einwohner, ist die röteste Zone Italiens, das seit
       dem 10. März vollständig zur roten Zone erklärt wurde – ein verzweifelter
       Versuch, die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen.
       
       An diesem Donnerstag sollen es 15.113 Infizierte und 1.016 Tote im Land
       sein. Aber hier interessiert sich niemand mehr für diese Zahlen, die seit
       dem 31. Januar, als zwei chinesische Touristen in die Notaufnahme in Rom
       eingeliefert wurden, die Schlagzeilen beherrschen: Es sind so viele, dass
       keine Abstriche mehr gemacht werden. Wer Fieber bekommt, so die Vorschrift,
       soll einfach zu Hause bleiben. Sich selber kurieren, mit Hustensaft und
       Paracetamol. Und hoffen, dass das reicht. Denn im Krankenhaus sind auch die
       Ärzte krank.
       
       Alzano Lombardo gehört zur Provinz von Bergamo, eine Stunde von Mailand
       entfernt, theoretisch. In Wirklichkeit liegt es in einer anderen Zeitzone.
       Die Menschen hier sind zwei Wochen voraus: Sie sind dort, wo der große
       Teil Italiens, Europas, der Welt in einigen Wochen sein wird.
       
       Die Frontlinie ist die Apotheke neben dem Krankenhaus, wo Andrea Raciti
       trotz seiner 20 Jahre beim Roten Kreuz und diverser Afrika-Missionen schon
       Anfang der Woche kaum noch Stimme hat. Es gibt sonst niemanden, an den sich
       die Leute wenden können, alle kommen hierher. Verwirrt, verängstigt. „Viele
       bagatellisieren“, sagt er. „Aber das Problem mit dem Virus ist nicht nur,
       wie stark es ist, sondern wie sehr es sich ausbreiten kann. Und wie
       schnell. Wenn wir alle auf der Intensivstation landen, dann reichen die
       Plätze nicht“, sagt er. „Mal abgesehen vom Medizinischen, ist eine Epidemie
       eine Frage der Mathematik.“ Während er spricht, tritt alle zwei bis drei
       Minuten ein neuer Kunde ein. Mit den gleichen Symptomen wie der vorherige:
       Husten, Erkältung, Fieber.
       
       Eine blonde Frau ist wegen ihrer 91-jährigen Mutter hier. Ihre Augen
       glänzen, als sie erzählt, dass es ihr gut gehe, dass sie bis zum Vortag
       nichts anderes hatte. Denn das haben alle gelesen, in diesem Wirrwarr an
       Informationen, dass nur 2 Prozent der Verstorbenen keine Vorerkrankungen
       gehabt hätten – und deswegen wiederholt sie, dass es ihrer Mutter gut
       gegangen sei, bis gestern. Und alle tun so, als könne es wirklich eine für
       die Jahreszeit typische Grippe sein.
       
       Die Frau bittet um Verhaltensempfehlungen für ihre Mutter, und der
       Apotheker fragt so feinfühlig wie möglich nach: Wie viele Personen sie zu
       Hause seien, auf wie viel Raum, und wie viel Abstand sie voneinander halten
       könnten. Im Schnitt waren die Toten 81 Jahre alt: In diesem Alter ist der
       Virus mörderisch. In diesem Alter gelten die Empfehlungen nicht mehr den
       Kranken, sondern denen, die sich in ihrer Nähe aufhalten.
       
       Bis jetzt weiß man so viel: Die Sterblichkeitsrate variiert stark nach
       Alter. Ab 70 Jahre aufwärts handelt es sich oft eher um eine
       Lungenentzündung als um eine Grippe. „Auch das trägt dazu bei, die Sache zu
       unterschätzen“, sagt Andrea Raciti. „Weil wir dann sagen: In Wirklichkeit
       sind sie an etwas anderem gestorben. Aber das stimmt nicht.“ Er sagt: „Und
       was für ein Argument ist das auch? Ohne das Virus hätten sie sechs Monate
       länger gelebt. Oder ein Jahr. Sie sind jetzt daran gestorben.“
       
       Während er redet, laden zwei Männer in weißem Overall mit Kapuze eine Bahre
       auf einen Kleintransporter. Es geht direkt zum Friedhof. Beerdigungen sind
       untersagt. Die Toten werden verbrannt, wie zu Kriegszeiten.
       
       Es gibt keinen Zweifel. Das einzige Mittel ist, dass alle Menschen 20 Tage
       zu Hause bleiben. Um die Zahl der Infektionen zu senken. Doch hält man sich
       in dieser kleinen Stadt auf, in der es offiziell nur 35 Kranke gibt,
       während in Wahrheit viel mehr krank sind, ist man gezwungen, sich zu
       schützen.
       
       Erst hier versteht man, wie kompliziert das sein kann. Die Hände
       desinfizieren, na klar. Und was ist mit dem Verschluss des
       Desinfektionsmittels? Türen öffnen, ohne die Klinke zu berühren. Das geht,
       mit dem Ellenbogen. Und was ist mit der Jacke? Wie lange hält sich das
       Virus auf den Oberflächen? Eine Stunde? Einen Tag? Es wird angeraten, sich
       die Einkäufe ins Haus bringen zu lassen. Und dann? Die Biscotti oder Nudeln
       Paket für Paket abwaschen und 60 Sekunden abrubbeln?
       
       Noch bis vor Kurzem wirkte es, als sei Italien nicht ein Land, sondern zwei
       Länder. In der Bar Mignon an der Piazza, letztes Wochenende, achten alle –
       und alle mit Atemschutzmaske – auf einen Meter Abstand zum Nächsten, man
       sitzt allein am Tisch und steht nicht am Tresen. Die Tische werden für
       jeden neuen Kunden desinfiziert.
       
       Seit Dienstag ist auch die Bar Mignon geschlossen, inzwischen sind in ganz
       Italien Bars und Restaurants zu.
       
       Während die Regierung noch zögerte, hatte sich die Stadt von allein zur
       roten Zone erklärt. „Je früher man beginnt, desto schneller ist es vorbei“,
       sagt Fred, der Besitzer der Bar. Er selbst gehört zu den Risikogruppen,
       weil er früher mal Leukämie hatte, aber er war da, unerschütterlich, wie
       immer, ohne Angst zu haben oder leichtsinnig zu sein. „Mit der richtigen
       Sorgfalt, den richtigen Vorsichtsmaßnahmen werden wir stärker sein als das
       Virus“, sagt er. Und setzt hinzu: „Das Problem ist, dass manche, um zu
       zeigen, dass sie stärker sind als das Virus, nur zeigen, dass sie dümmer
       sind.“
       
       Er spielt auf das andere Italien, das andere Alzano Lombardo an, das bis
       eine Minute vor der allgemeinen Quarantäne das Virus geleugnet hat. Längs
       des Flusses hielten sie im Caffé Royal Schwätzchen, eng beieinander
       sitzend, als sei nichts, und wenn man versuchte, ein Foto von ihnen zu
       machen, scheuchten sie einen weg, weil man in ihren Augen der Schmierfink
       war und zu denen gehörte, die angeblich unbegründete Panik verbreiten und
       falsche Nachrichten in Umlauf bringen, die nur dazu dienen, die Wirtschaft
       zu schwächen – und wer weiß, wer dich in Wirklichkeit bezahlt: die Zeitung
       oder die Impfindustrie. „Du hast keine Angst?“ fragten sie. „Hier, trink
       ein Bier mit uns“, und hielten ihr Glas hin.
       
       Bis zum letzten Wochenende war dieses Italien in der Überzahl: das andere
       Italien, für das es sich nur um eine Grippe handelte. Und wer starb, starb
       aus anderen Gründen. Gymnasiasten aus Venedig hatten einen Aperitif „gegen
       die Psychose“ organisiert. Sechzehnjährige, die sich sonst per WhatsApp
       verständigen, forderten plötzlich alle auf, draußen zu bleiben. Alle
       gemeinsam.
       
       Am Abend des 7. März, kaum war die Nachricht der ersten Ausweitung der
       roten Zone durchgedrungen – von zehn kleinen Kommunen in der Lombardei auf
       die gesamte Region, dann auf 14 weitere Provinzen in Norditalien –, gab es
       einen Ansturm auf die Züge gen Süden. Auch wenn einige von Mailand aus in
       die Gegenrichtung fuhren und hierherkamen: Virustouristen. Die ersten zwei
       standen vor einer Mauer mit einer Madonna: „Tu so, als würdest du um
       Rettung bitten“, sagte der Mann zur Frau und drückte auf den Auslöser, mit
       Handschuhen und Atemmaske.
       
       Dann am 9. März, innerhalb eines Tages, sind 16 Menschen gestorben. Das
       änderte alles, schlagartig.
       
       Am Eingang des Krankenhauses stehen Carabinieri. Sie haben ein Zelt
       aufgebaut für die Akutfälle. Bevor jemand hereindarf, kontrollieren sie, ob
       man Chancen auf Heilung hat. Denn es gibt keinen Platz mehr auf der
       Intensivstation. Das meint nicht nur die Betten, sondern den Raum
       überhaupt: Im Krankenhaus liegen die intubierten Kranken schon auf den
       Fluren.
       
       Auch wenn man noch nicht genau weiß, wie sich der Virus beim einzelnen
       Patienten auswirkt, ist klar, wie er im Gesundheitssystem wirkt: Er trifft
       zuerst die Ältesten und Schwächsten. Zu Beginn weisen 80 Prozent der Toten
       zwei sonstige Erkrankungen auf. Und dann, ganz allmählich, trifft es auch
       solche, die einen Herzinfarkt haben, einen Arbeitsunfall, einen
       Auffahrunfall auf der Autobahn – weil es keine Ärzte mehr gibt. Es mangelt
       an Ressourcen. Auch aus diesem Grund sollte jeder zu Hause bleiben. Nicht
       nur, um Ansteckung zu vermeiden – dafür ist es hier etwas spät –, sondern
       weil an diesem Punkt alles gefährlich sein kann. Selbst im Regen
       ausrutschen.
       
       An den Kontrollpunkten stehen Carabinieri und kontrollieren, ob man
       wirklich relevante und unaufschiebbare Gründe hat, um unterwegs zu sein.
       Wenn nicht, drohen drei Monate Gefängnis.
       
       „Die Regierung hat erst jetzt gehandelt, weil es ihr nicht darum ging, dass
       eine rote Zone das Virus stoppen könnte, sondern weil sie fürchtete, die
       Wirtschaft könne zum Erliegen kommen“, sagt die Blumenhändlerin Monica
       Magri von Oasi Verde. „Die Folge ist, dass wir jetzt alle erkrankt sind.
       Und dass ich jetzt nicht für 20 Tage, sondern auf unabsehbare Zeit
       schließen muss.“
       
       Hilfe für die Unternehmen sind bisher bloß Versprechungen. Die
       Blumenhändlerin hat geschlossen und kein Einkommen mehr.
       
       „Die ganze Aufmerksamkeit gilt nur den Zahlen“, sagt auch
       Allgemeinmediziner Tiziano Curnis. „Den Steuern, den Prozenten, den
       Umsätzen. Aber das hat keinen Sinn.“ Curnis macht weiterhin Hausbesuche,
       auch wenn er per Gesetz mit seinen Patienten nur am Telefon sprechen
       dürfte. Um ihnen ein Gefühl von Sicherheit zu geben, sei es fast noch
       wichtiger, zu ihnen zu gehen, als sie zu behandeln. Und basta. Da gibt es
       das Gesetz, sagt er, sicher, aber da gebe es eben auch die Moral. „Die
       Zahlen, die zirkulieren, sind willkürlich. Schau mal“, sagt er. „Sie haben
       Fieber, aber sie liegen zu Hause. So fallen sie aus der Statistik.“ Schau,
       sagt er. Und horch. Krankenwagen, einer nach dem anderen.
       
       Krankenwagen. Sonst nichts.
       
       14 Mar 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Francesca Borri
       
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