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       # taz.de -- „Corona in der Welt“ – Kirgistan: Die Rache Allahs
       
       > In Kirgistan wachsen die Spannungen zwischen gemäßigten und radikalen
       > Muslimen. Das zeigt sich einmal mehr in Zeiten der Pandemie.
       
   IMG Bild: Stechschritt und Mundschutz: Kirgisische Soldaten beim Wachwechsel in Bischkek
       
       Bischkek taz | In Kirgistan hat das Coronavirus religiösen Fanatikern einen
       bösen Streich gespielt. Auf Initiative eines populären Geistlichen wurde in
       den sozialen Netzwerken folgender Fake verbreitet: Covid-19 betrifft keine
       Muslime. Allah habe das Virus den Chinesen geschickt – aus Rache für den
       unerbittlichen Umgang mit den [1][uigurischen Muslimen]. Angeblich wendeten
       sich Chinesen und Italiener in Massen dem Islam zu, da nur dies sie vor dem
       Tode retten werde.
       
       Die Ironie ist, dass das Virus in Kirgistan zuerst bei drei Männern
       nachgewiesen wurde. Sie waren nach Saudi-Arabien gereist, wo sie die
       heiligen Stätten besucht hatten. Nach ihrer Rückkehr hatten sie in ihrem
       Dorf ein Fest gefeiert. Wütende Kommentare „weltlicher“ Bürger ließen nicht
       lange auf sich warten.
       
       In Kirgistan bekennen sich 90 Prozent der Bevölkerung zum Islam. In den
       vergangenen Jahren ist in der Gesellschaft eine Spaltung zwischen
       denjenigen zu beobachten, die sich als wahrhaft Gläubige bezeichnen, und
       denjenigen, die sich zum gemäßigten Lager zählen. Gerade Letztere fanden
       immer einen Grund, Diskussionen in den Medien loszutreten. Nun auch noch
       das Coronavirus.
       
       Zwar startete [2][die Staatsmacht] sofort eine Informationskampagne. Schon
       Ende Januar wurden die Grenzen zu China geschlossen, Ankommende aus dem
       Ausland überprüft und Personen in Quarantäne geschickt. Doch die
       Bevölkerung nahm diese Maßnahmen nicht ernst.
       
       ## Vorräte gehen zu Ende
       
       „Im Fernsehen haben wir doch alles gesehen – was in China los war und auch
       die Warnungen unserer Regierung. Wer hätte ahnen können, dass Ende März das
       Elend mit dem Coronavirus auch in Kirgistan ein solches Ausmaß annehmen
       würde?“, sagt die zweifache Mutter Asel Dschusupbekova. „Geb’s Gott, dass
       bald alles vorüber ist. Wir sitzen ohne Arbeit zu Hause und die Vorräte
       gehen zu Ende.“
       
       Dessen ungeachtet machten in Kirgistan via Internet Witze und Ratschläge
       die Runde, die bezeichnend für die Staaten der einstigen Sowjetunion sind.
       „Wie schützen wir uns vor dem Virus? Wir reiben die Hände mit Wodka ein und
       kippen 100 Gramm hinter die Binde. Schon gibt es keine chinesische
       Infektion mehr.“
       
       Das Gesundheitsministerium hatte bereits Anfang des Jahres Empfehlungen
       abgegeben: sorgfältig die Hände waschen, auf Hygiene achten, Masken tragen
       und Gebäude mit Wacholder (Artscha) beräuchern. Wacholder nimmt einen
       besonderen Platz im Leben des kirgisischen Volkes ein: nach ihm sind Parks,
       Naturschutzgebiete und Ortschaften benannt.
       
       Von Alters her glauben die Menschen, dass Wachholderrauch Gebäude von allen
       Übeln des Geistes reinigt und Mikroben tötet. Ab Februar waren viele Büros
       von Wacholdergeruch erfüllt. Diskussionen über Corona endeten immer mit dem
       Ausspruch: „Beschütze uns Gott!“
       
       ## Stiere geopfert
       
       An Gott wandte sich auch der Mufti Kirgistans, Maksatbek Toktomuschev. Im
       Hof der größten Moschee opferte er zwei Stiere. „Bloß nicht wegen Corona in
       Panik verfallen“, sagte er vor der Zeremonie. „Unsere Vorfahren haben in
       solchen Fällen gemäß der Tradition und Scharia eine Zeremonie mit Wacholder
       und den Allmächtigen um Schutz vor Krankheiten, Tod und anderen Nöten
       ersucht. Möge der Allmächtige unserem Volk Wohlergehen, Einheit und Frieden
       bringen.“ Leider hatte dieser Appell nicht das gewünschte Ergebnis. Am 4.
       April gab es in Kirgistan fast 150 Infizierte und einen Toten.
       
       Die Staatsmacht verfügte im ganzen Land Quarantäne, in einigen Städten und
       Regionen wurde eine Ausgangssperre verhängt. Die Menschen dürfen vor allem
       in der Hauptstadt Bischkek nur noch mit einem besonderen Dokument auf die
       Straße gehen, auf dem außer persönlichen Angaben auch vermerkt sein muss,
       was sie einkaufen wollen.
       
       Alle Verwaltungsgebäude sind geschlossen, Kinder und Studenten lernen zu
       Hause. Zur Arbeit dürfen nur Ärzte, Staatsbedienstete und Menschen gehen,
       die einen Passierschein haben. Die sonst so belebten Straßen Bischkeks sind
       ungewöhnlich leer.
       
       Tausende sind in unbezahltem Urlaub oder ganz ohne Arbeit und Mittel, um
       ihre Existenz zu sichern. Die Regierung hat angekündigt, dass diejenigen,
       die beim Sozialministerium registriert sind, mit Lebensmitteln versorgt
       werden.
       
       ## Millionenkredit vom IWF
       
       Der Staatsmacht ist klar, dass die Maßnahmen der Wirtschaft kolossale
       Verluste zufügen werden. Denn anders als die an Öl und Gas reichen Nachbarn
       war Kirgistan gezwungen, bei internationalen Finanzorganisationen um Hilfe
       zu bitten. Der IWF gewährte einen Kredit in Höhe von 120 Millionen Dollar.
       
       Auch in Kirgistan ist der Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus eine
       neue Erfahrung. Alle fahren auf Sicht. Doch als sich die Nachricht über die
       ersten Genesenen verbreitete, keimte Hoffnung auf. Unter ihnen waren auch
       zwei der Rückkehrer aus Saudi-Arabien.
       
       Aus dem Russischen Barbara Oertel
       
       19 Apr 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Timur Toktonaliev
       
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