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       # taz.de -- Corona und Menschen mit Behinderung: Arbeitslos in der Krise
       
       > Durch die Pandemie haben viele Menschen mit Behinderung ihren Job
       > verloren. Diese Entwicklung zeigt sich besonders in Hamburg und
       > Schleswig-Holstein.
       
   IMG Bild: Ein relativ Corona-sicherer Arbeitsplatz ist viel wert
       
       Hamburg taz | Menschen mit schwerer Behinderung leiden besonders unter der
       Coronapandemie. Gegenüber dem Vorjahr nahm die Zahl der arbeitslosen
       Menschen mit Behinderung um 13 Prozent zu, auf heute rund 174.000. Das geht
       aus dem in dieser Woche veröffentlichten [1][„Inklusionsbarometers Arbeit]“
       der Aktion Mensch und des Handelsblatt Research Institutes hervor.
       
       Zwar stieg die Arbeitslosenquote von Menschen ohne Behinderung noch
       schneller, doch „haben Menschen mit Behinderung ihren Arbeitsplatz erst
       einmal verloren, finden sie sehr viel schwerer in den ersten Arbeitsmarkt
       zurück“, erklärt Christina Marx, Sprecherin der Aktion Mensch. Sie ergänzt:
       „Im Schnitt suchten arbeitslose Menschen mit Behinderung 100 Tage länger
       nach einer neuen Stelle als Menschen ohne Behinderung.“
       
       Besonders betroffen von dieser Entwicklung sind Hamburg und
       Schleswig-Holstein. Den bundesweit höchsten Anstieg nach Bayern an
       arbeitslosen Menschen mit Behinderung verzeichnet mit 18,9 Prozent die
       Hansestadt an der Elbe.
       
       Dass Schleswig-Holstein mit einem Anstieg der Arbeitslosenquote um 15,9
       Prozent bundesweit auf Platz fünf und damit über dem Durchschnitt liegt,
       hat einen Grund. Wie Hamburg ist das Nord-Bundesland eine
       Tourist*innen-Hochburg. Und überdurchschnittlich viele Menschen mit
       Behinderung sind im Gastgewerbe beschäftigt. In Niedersachsen (11,7
       Prozent), Bremen (8,6 Prozent) und Mecklenburg-Vorpommern (6,7 Prozent)
       liegt der Anstieg dagegen jeweils unter dem Bundesschnitt.
       
       ## Hamburg und Schleswig-Holstein sind stark betroffen
       
       In Schleswig-Holstein leben etwa 346.000 Menschen mit Schwerbehinderung,
       fast 5.300 von ihnen sind dort zurzeit ohne Job. In Hamburg sind es über
       3.600, in Bremen rund 1.650 und in Niedersachsen knapp 13.500. Hier suchen
       Menschen mit Behinderung, die arbeitslos geworden sind, am längsten nach
       einer neuen Aufgabe: Im Schnitt 107 Tage länger als ein*e Arbeitssuchende*r
       ohne schwerwiegendes Handicap. In Hamburg dauert die Jobsuche im Mittel
       „nur“ 49 Tage länger als bei Menschen ohne Behinderung.
       
       Die coronabedingte Erhöhung der Erwerbslosenzahlen markiert eine
       Trendwende. „Seit 2013 verbesserte sich die Arbeitsmarktsituation von
       Menschen mit Behinderung fast stetig, doch die Entwicklung in diesem Jahr
       macht in kürzester Zeit die Erfolge der letzten vier Jahre zunichte,“
       resümiert Bert Rürup, Präsident des [2][Handelsblatt Research Institutes].
       
       Dabei war auch zuvor nicht alles so, wie es sein sollte: 2019 etwa lag die
       Arbeitslosenquote der Menschen mit Behinderung mit 10,9 Prozent deutlich
       höher als bei Menschen ohne Behinderung (5,0 Prozent). Auch zwölf Jahre
       nach dem Inkrafttreten des „Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit
       Behinderung“ ist die Teilhabe am Arbeitsleben für Betroffene noch immer
       alles andere als selbstverständlich.
       
       Die Arbeitslosigkeit unter Menschen mit schwerer Behinderung dürfte
       kurzfristig noch weiter zunehmen. Denn viele Unternehmen, die für die
       Inklusion in den Arbeitsmarkt eine wichtige Rolle spielen, sind
       gemeinnützig, konnten deshalb in der Vergangenheit kaum Rücklagen bilden
       und bekamen lange keinen Zugang zu den Rettungsschirm-Soforthilfen für die
       Wirtschaft. Erst im Juli 2020 wurden die staatlichen Überbrückungshilfen
       auf den Weg gebracht, die gemeinnützigen Inklusionsunternehmen offen
       stehen. Darüber hinaus soll es ab Januar 2021 ein zusätzliches
       100-Millionen-Euro-Programm mit Liquiditätshilfen für Inklusionsbetriebe
       geben.
       
       ## Vielen Integrations-Unternehmen droht die Insolvenz
       
       Die Bundesarbeitsgemeinschaft Inklusionsfirmen hat in einer Umfrage im Mai
       die Auswirkungen des Lockdowns auf die Inklusionsbetriebe untersucht. Fast
       die Hälfte der befragten Unternehmen befürchtete damals eine Insolvenz. Und
       nur 30 Prozent der Inklusionsbetriebe wollten den Verlust von
       Arbeitsplätzen ausschließen. Ob es dazu kommt, wird sich auch danach
       entscheiden, welche Staatshilfen noch fließen.
       
       Die durch das Homeoffice beschleunigte Digitalisierung der Wirtschaft
       bewerten die Herausgeber des Inklusionsbarometers für körperbehinderte
       Arbeitnehmer*innen eher als Chance. Die Entwicklung digitaler Hilfsmittel
       für körperlich Beeinträchtigte und die räumliche Flexibilität beim
       Arbeitsort seien für sie von Vorteil. Barrierefreiheit ist im heimatlichen
       Büro wesentlich leichter zu gewährleisten ist als in einem Betrieb, weshalb
       auch Hamburgs DGB-Sprecher Felix Hoffmann durchaus Potenzial im
       pandemiebedingten Digitalisierungsboom sieht. „Die Digitalisierung kann
       helfen, mehr inklusive Arbeitsplatzangebote zu machen“, sagt er.
       
       Nachteile drohen hingegen für Menschen mit einer Lernbehinderung, da es
       bislang keine Schulungen gibt, um sie in die digitale Zukunft mitzunehmen.
       Hier bräuchten wir „ganz gezielte Qualifizierung und Weiterbildung“,
       fordert Hoffmann. Auch ein Forschungsprojekt des Bundesarbeitsministeriums
       sieht für Menschen mit psychischen oder geistigen Einschränkungen vor allem
       Risiken durch die zunehmende Digitalisierung.
       
       Die sich ständig ändernden Arbeitsweisen und -bedingungen können bei ihnen
       eine Überforderung auslösen. Die Technologien sind oftmals zu komplex, um
       von ihnen bedient werden zu können. Zudem zeigt eine [3][Studie des
       Villingen Institute of Public Health], dass häufigeres Arbeiten im
       Homeoffice für diese Personengruppe durch den Wegfall sozialer Kontakte
       problematisch ist.
       
       3 Dec 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.aktion-mensch.de/inklusion/arbeit/zahlen-daten-fakten.html
   DIR [2] https://research.handelsblatt.com/de/
   DIR [3] https://www.viph-public-health.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Marco Carini
       
       ## TAGS
       
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