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       # taz.de -- Coronakrise in Russland: Mundtoter Medizinbetrieb
       
       > Bis zu 250.000 Menschen könnten in Moskau mit Corona infiziert sein.
       > Hinzu kommen mysteriöse Unglücksfälle von Ärztinnen und Sanitätern.
       
   IMG Bild: Am Wochenende stiegen die täglichen Neuinfektionen in Russland erstmals auf über 10.000
       
       Moskau taz | Jelena Nepomnjaschtschaja war Chefärztin im Krankenhaus für
       Kriegsveteranen im sibirischen Krasnojarsk. In einer Videokonferenz
       unterhielt sie sich mit dem Gesundheitsminister der Region, der sie
       unbedingt dazu bewegen wollte, in einem Krankenhaustrakt Corona-Infizierte
       unterzubringen. Die 47-jährige Ärztin lehnte dies strikt ab. Noch während
       der Konferenz soll sie aus einem Fenster im fünften Stock gefallen und
       später ihren Verletzungen erlegen sein.
       
       Auch Alexander Schulepow stürzte in der Nähe von Woronesch aus dem zweiten
       Stock einer Klinik und erlitt einen Schädelbasisbruch. Der Sanitäter
       sollte, gerade hatte er von seiner Covid-19-Infektion erfahren, mit den
       Kollegen weiter zusammenarbeiten.
       
       Natalja Lebedewa, Leiterin der Unfallstation in Swesdnij in der Nähe der
       russischen Hauptstadt Moskau, soll Suizid begangen haben, weil sie
       angeblich Mitarbeiter mit dem Virus angesteckt hatte.
       
       Drei mysteriöse Fälle in kürzester Zeit. Das stärkt nicht das Vertrauen in
       die Verantwortlichen. Viele Bürger zweifeln ohnehin an den offiziellen
       Infektionszahlen.
       
       ## Platz sieben unter den Coronastaaten
       
       Am Wochenende stiegen die täglichen Neuinfektionen erstmals auf über
       10.000. Am Dienstag waren es 10.102. Bislang nahmen die Infektionen
       langsamer zu. Auch die Todesrate mit landesweit 1.451 Toten war niedrig im
       Vergleich zu den europäischen Nachbarn. Inzwischen sind jedoch mehr als
       155.370 Menschen infiziert. Russland liegt damit auf Platz sieben unter den
       Coronastaaten.
       
       Dass es nicht so glimpflich verlaufen werde, ahnte Moskaus Bürgermeister
       Sergej Sobjanin schon vor Längerem. [1][Präsident Wladimir Putin] hatte den
       Stadtvorderen vorher zum Chef des Krisenstabs ernannt.
       
       Bei einem Besuch des in nur einem Monat aus dem Boden gestampften
       [2][Infektionskrankenhauses Kommunarka am Stadtrand Moskaus] wies der
       Bürgermeister Putin Ende März daraufhin, hinter den Zahlen könne sich noch
       eine hohe Dunkelziffer verbergen. Vor allem über die Verbreitung des Virus
       in den Regionen sei wenig bekannt. Präsident Wladimir Putin schien die
       Gefahr damals anders einzuschätzen und beruhigte die Bürger, alles sei
       „unter Kontrolle“.
       
       Den Höhepunkt der Epidemie erwartet der Krisenstab erst ab Mitte Mai.
       Langsam nehmen jedoch die Sorgen zu, dass auch Moskaus medizinische
       Einrichtungen an ihre Belastungsgrenzen stoßen könnten.
       
       ## Auf die Schnelle umgerüstet
       
       Kein Grund zur Beunruhigung, heißt es von offizieller Seite. Auch für den
       größten Ansturm seien Ausweichquartiere in Vorbereitung. Eines davon in den
       Räumen eines Autohauses, ein anderes auf dem Gelände der sowjetischen
       „Allunionsausstellung“. Auch werden Abteilungen anderer Kliniken auf die
       Schnelle umgerüstet.
       
       Moskau bleibt das Zentrum der Epidemie trotz zunehmender Infektionen in den
       Regionen. Zwei Prozent der Stadtbevölkerung, vermutete Sobjanin, könnten
       infiziert sein. Das wären 250.000 Menschen, mehr, als die offizielle
       Statistik verrät.
       
       Angeblich soll sich die Pandemie jedoch nicht mehr ausbreiten. Der Anstieg
       spiegele nur die Zunahme von Tests, sagt Alexander Ginzburg, Epidemiologe
       vom Moskauer Gamaleja-Zentrum. In den letzten Tagen seien deren Anzahl
       verdoppelt worden. Bis vor Kurzem galten russische Tests als wenig
       verlässlich. Trotz Infektion wurde bei einer Reihe von Testläufen die
       Hälfte der Probanden als gesund eingestuft.
       
       Premierminister Michail Mischustin gehörte nicht dazu. Vergangene Woche
       meldete er sich beim Präsidenten krank. Auch Bauminister Wladimir Jakuschew
       wurde zum Coronafall, ebenso sein Vize. Sie alle sind im Krankenhaus. Mit
       den Wünschen einer schnellen Genesung warnte der Präsident: „Jeden kann es
       treffen.“
       
       ## Stundenlanges Warten vor Kliniken
       
       Auf den ersten Blick sieht es so aus, als hätte Moskau alles im Griff.
       Krankenwagen mit Infizierten mussten aber manchmal vor den Kliniken in der
       Hauptstadt und Sankt Petersburg stundenlang warten. Bei steigenden Zahlen
       könnte das häufiger werden, befürchten Angestellte aus dem Gesundheitswesen
       im Netz. Meist bleiben sie anonym – aus Angst vor Konsequenzen.
       
       Erst kürzlich rügte Dmitri Peskow, Putins Pressechef, die Zunft, weil sie
       Forderungen öffentlich machte. Schon bei Schutzkleidung, Masken und
       Handschuhen käme es zu Engpässen, klagen viele. Haltet euch an die
       örtlichen Gesundheitsämter, riet Peskow. Doch diese verwalten oft nur den
       Mangel.
       
       Meist sind es Privatpersonen oder Aktivistinnen wie Anastasia Wassiljewa
       von der Ärzteallianz, die auf eigene Faust Mangelware auftreiben, Geld
       sammeln und Lieferungen auch in der Provinz verteilen. Häufig versuchen
       Ordnungshüter sie daran zu hindern, als täten sie etwas Unerlaubtes.
       Dutzende Hilferufe von Mitarbeitern im Gesundheitswesen gehen bei
       Aktivisten ein.
       
       Der Kreml möchte keine Schwäche zeigen. Hilfe von außen benötigt er nicht,
       zumindest vermittelt er dieses Bild. Präsident Putin macht jedoch einen
       etwas entrückten Eindruck, als müsse er sich notgedrungen mit dieser
       Malaise befassen.
       
       ## Unfreiwilliges Praktikum für Studierende
       
       Tatsächlich sind seit Tagen mehr als 600 Studenten der medizinischen
       Hochschulen als „Freiwillige“ im Einsatz. Die angehenden Ärzte aus den
       höheren Semestern werden händeringend gesucht. Sobjanin verkaufte dies als
       Möglichkeit, Praxiserfahrungen zu sammeln.
       
       Genauer besehen handele es sich dabei jedoch um kein freiwilliges
       Praktikum, gesteht ein Student. Der Einsatz werde erwartet. „Wer Angst hat,
       in einer Infektionsabteilung zu arbeiten, und sich drückt, muss zusehen,
       wie er ohne das plötzlich zur Pflicht erklärte Praktikum im Studium
       weiterkommt“, berichtet die 22-jährige Tatjana.
       
       Die meisten Studenten arbeiten in der „roten Zone“, in der
       Covid-19-Infizierte untergebracht sind. 40 Minuten dauere es, wenn jemand
       austreten müsse, meint einer der Assistenzärzte. Den Schutzanzug
       auszuziehen, sei umständlich. Viele würden sich daher bei längeren
       Schichten für Windeln entscheiden, meint der Mediziner Andrei
       Atroschtchenko.
       
       Dass die Helfer mit umgerechnet 1.200 Euro im Monat gut bezahlt werden,
       scheint unterdessen ein Gerücht zu sein. Kein Student wollte das bisher
       bestätigen. Solche Gehälter stehen gewöhnlich erst voll ausgebildeten
       Ärzten zu.
       
       ## Positive Opferbereitschaft
       
       „Kommt es auf die Höhe des Geldes an?“, fragt Daria Belimowa, die das
       „Freiwilligenprogramm“ beim Gesundheitsministerium koordiniert. „Machen wir
       es nicht, wer macht es dann?“ Schließlich sei Opferbereitschaft auch eine
       positive Eigenschaft des Landes, sagt sie.
       
       Laut Zeitung Wedomosti entließ Moskau zwischen 2013 und 2019 mehr als die
       Hälfte der Mitarbeiter im Gesundheitswesen. Unter die „Reformmaßnahme“
       fielen vor allem Pfleger und Krankenschwestern.
       
       5 May 2020
       
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