URI: 
       # taz.de -- Coronapandemie in Brasilien: Angst am Amazonas
       
       > Nach den großen Städten breitet sich das Coronavirus im brasilianischen
       > Hinterland aus. Dort ist die medizinische Versorgung meist mangelhaft.
       
   IMG Bild: Eine indigene Krankenschwester besucht eine mutmaßlich Infizierte nahe der Amazonas-Stadt Manaus
       
       BERLIN taz | Als im März die ersten Coronafälle in Brasilien gemeldet
       wurden, ging in Almeirim alles ganz schnell. Ein Krisenstab wurde gebildet,
       Zufahrtswege zur kleinen Amazonas-Stadt geschlossen, Bewohner*innen über
       das Virus informiert. „Wir wussten, dass die Pandemie hier katastrophale
       Auswirkungen haben wird“, sagt Sylvia Nascimento de Sousa der taz.
       
       Die 56-Jährige arbeitet eigentlich für das Umweltsekretariat. Doch nun
       hilft sie bei der Bekämpfung der Pandemie. Nachdem sich Covid-19 zuerst in
       den großen Städten breitmachte, hat es mittlerweile auch abgelegene und
       ländliche Regionen erreicht.
       
       Obwohl die Verantwortlichen in Almeirim früh handelten, wurden auch in der
       kleinen Stadt im nördlichen Bundesstaat Pará bald die ersten Fälle
       gemeldet. Almeirim liegt am Amazonas-Fluss, hat rund 30.000 Einwohner*innen
       und lebt vom Fischfang und Holzhandel. Wie die meisten abgelegenen Regionen
       trifft die Pandemie die Stadt hart.
       
       Zwar wurde eine medizinische Erstversorgungsstation eingerichtet, doch
       Intensivbetten gibt es keine. Vier Beatmungsgeräte seien in die Stadt
       eingeflogen worden. Doch laut de Sousa seien diese noch nicht im Einsatz.
       Schwere Fälle müssen in der südlich gelegenen Provinzhauptstadt Santarém
       behandelt werden. Die Fahrt dorthin dauert 20 Stunden mit der Fähre, sechs
       Stunden mit dem Schnellboot.
       
       ## Lange Warteliste im Krankenhaus
       
       Einige Patient*innen mit schweren Symptomen wurden auch mit dem Flugzeug
       ausgeflogen. Doch laut de Sousa sei der Flugtransport bereits komplett
       überlastet. Zudem ist auch in Santarém die Behandlung nicht garantiert. Das
       Krankenhaus nimmt Patient*innen aus 16 Bezirken auf, die Warteliste ist
       lang.
       
       Wie Almeirim geht es vielen Regionen im Landesinneren. Laut staatlichem
       Forschungsinstitut Fiocruz haben 90 Prozent der 5.570 Bezirke keine
       Intensivbetten, 59 Prozent keine Beatmungsgeräte.
       
       Während die Infektionszahlen in den Städten zuletzt leicht zurückgingen,
       stiegen sie in abgelegenen Regionen stark an. So auch im südöstlichen
       Bundesstaat Espírito Santo. Unweit der Kleinstadt Pancas wohnt die Bäuerin
       Marcieli Ramos auf einer Farm. „Am Anfang hat die Infektion hier niemand
       ernst genommen“, sagt die 32-Jährige der taz. In der konservativen Region
       hätten viele den Verharmlosungen von Präsident Jair Bolsonaro geglaubt.
       Erst als immer mehr Fälle verzeichnet wurden, verhängte die Stadt erste
       Quarantänemaßnahmen.
       
       In Pancas gibt es weder ein Krankenhaus noch Intensivbetten. Die
       medizinische Versorgung ist mangelhaft. Um nicht hungern zu müssen,
       verteilt die Bewegung der Kleinbauern (MPA), in der auch Ramos organisiert
       ist, Essensspenden an die Ärmsten.
       
       ## Lockerungen trotz Höhepunkt der Krise im ganzen Land
       
       Mittlerweile haben sich viele Brasilianer*innen an die Pandemie gewöhnt,
       die hohen Infektions- und Todeszahlen führen kaum noch zu einem Aufschrei –
       [1][und im ganzen Land wurden Lockerungen durchgeführt].
       
       Dabei befindet sich das Land gerade auf einem Höhepunkt der Krise: Am
       Mittwoch verzeichnete Brasilien 67.860 neue Coronafälle in 24 Stunden – der
       höchste Wert seit Beginn der Pandemie. [2][2,394 Millionen Menschen sind
       laut der amerikanischen Johns-Hopkins-Universtität infiziert, nach den USA
       der zweithöchste absolute Wert der Welt, und mehr als 86.499 sind bereits
       an dem Virus gestorben.]
       
       Am Samstag sagte Rio de Janeiro bereits das Silvesterfeuerwerk an der
       Copacabana ab, die Stadt São Paulo verschob den normalerweise im Februar
       stattfindenden Karneval auf unbestimmte Zeit.
       
       Und Präsident Jair Bolsonaro? Der spielt Corona weiterhin herunter und
       preist das Malariamedikament Chloroquin trotz ärztlicher Warnungen als
       Wundermittel gegen Covid-19 an. [3][Er selbst gab seine eigene Erkrankung
       am 7. Juli bekannt] und hatte nach eigenen Angaben wegen der Einnahme von
       Chloroquin keine Beschwerden. [4][Am Samstag twitterte er, ein erneuter
       Coronatest sei negativ ausgefallen], worauf er seine häusliche Isolation
       beendete.
       
       ## Viele machen Präsident Bolsonaro verantwortlich
       
       [5][Viele machen nicht nur die neoliberale Sparpolitik für die prekäre
       Gesundheitslage auf dem Land verantwortlich, sondern auch direkt den
       Präsidenten.] Nach verbalen Attacken Bolsonaros erklärte Kuba im November
       2018, das „Mehr Ärzte“-Programm zu beenden.
       
       Seit 2013 hatte der Inselstaat Tausende Ärzt*innen in abgelegene Regionen
       Brasiliens geschickt. Zwar hatte die brasilianische Regierung großspurig
       erklärt, die Plätze durch einheimische Ärzt*innen ersetzen zu lassen. Doch
       laut Medienberichten sei dies nicht überall gelungen.
       
       Auch de Sousa aus dem Amazonas-Städtchen Almeirim ist mit dem
       Krisenmanagement des Präsidenten unzufrieden. „Bolsonaro hat
       verantwortungslos reagiert. Hätte er schneller gehandelt, hätten wir jetzt
       weniger Tote.“
       
       Der Gouverneur des Bundesstaates Pará, ein Politiker der
       Mitte-rechts-Partei MDB, habe die Lage ernster genommen. „Und er hat
       zumindest eine Maske getragen.“ Ende Mai wurde de Sousas Vater krank. Im
       Krankenhaus bekam er die Diagnose: Corona. Sein Zustand verschlechterte
       sich, er kam auf die Warteliste für ein Intensivbett – doch bevor er ein
       Platz bekam, verstarb er.
       
       26 Jul 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Corona-in-Brasilien/!5692357
   DIR [2] /Brasiliens-Coronastatistik/!5690825
   DIR [3] /Brasiliens-Praesident-Bolsonaro-hat-Covid-19/!5698551
   DIR [4] /Brasiliens-Praesident-macht-weiteren-Coronatest/!5703827
   DIR [5] /Coronakrise-in-Brasilien/!5691049
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Niklas Franzen
       
       ## TAGS
       
   DIR Brasilien
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Jair Bolsonaro
   DIR Amazonas
   DIR Rio de Janeiro
   DIR São Paulo
   DIR Kuba
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Schwerpunkt Rassismus
   DIR Schwerpunkt Abtreibung
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Brasilien
   DIR Fake News
   DIR Amazonas
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Covid-19 in Brasilien: Wenn der Sauerstoff ausgeht
       
       In der Regenwaldmetropole Manaus explodieren die Infektionszahlen. In den
       Krankenhäusern sind viele auf private Sauerstoffflaschen angewiesen.
       
   DIR Experte zur Rassismusdebatte in Brasilien: „Ein System der Angst“
       
       Der Kampf gegen Rassismus in Brasilien muss sich auch gegen den
       Neoliberalismus richten, sagt Philosoph Silvio Almeida. Bolsonaro schüre
       viel Hass.
       
   DIR Nach Vergewaltigung in Brasilien: Mit Gebet gegen Abtreibung
       
       Eine Zehnjährige ist in Brasilien vergewaltigt worden. Gegen die Abtreibung
       laufen religiöse Extremisten auf – mit Unterstützung der Regierung.
       
   DIR Geologe über Waldbrände am Amazonas: „Freifahrtschein der Regierung“
       
       Dass im Amazonasgebiet wieder illegal gebrandrodet wird, interessiert kaum
       jemanden. Es herrsche ein Klima der Straflosigkeit, sagt Geologe Pedro Luiz
       Côrtes.
       
   DIR Waldbrände im Amazonasgebiet: Mehr Feuer, weniger Interesse
       
       Der Regenwald am Amazonas wird auch 2020 im Rekordtempo vernichtet. Schuld
       ist die brasilianische Regierung.
       
   DIR Aktivistin über Indigene in Brasilien: „Mercosur-Abkommen stoppen“
       
       Brasiliens Präsident Bolsonaro schade Indigenen durch Umweltzerstörung, so
       Juliana Miyazaki. Sie ist Referentin der Gesellschaft für bedrohte Völker.
       
   DIR Gegen Fake News bei Facebook und Twitter: Bolsonaro-Unterstützende gesperrt
       
       Twitter und Facebook haben Konten von Anhänger*innen des brasilianischen
       Präsidenten blockiert. Die Anordnung dazu kommt vom Obersten Gerichtshof
       des Landes.
       
   DIR Brasilien stoppt Brandrodung: Atempause für den Regenwald
       
       Nach großem Druck hat Brasiliens Regierung die Brandrodung im
       Amazonas-Gebiet gestoppt. Für 120 Tage. Ausnahmen bleiben erlaubt.
       
   DIR Landkonflikt in Brasilien: Soja? So nein!
       
       Im Südwesten Brasiliens haben Indigene Land besetzt, von dem ihre Ahnen
       vertrieben wurden. Die Farmer wollen das nicht hinnehmen.