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       # taz.de -- DDR-Denkmal kommt im Heute an: Bronzekopf vor Plattenbau
       
       > Der Thälmann-Park war ein Ostberliner Vorzeigeprojekt, doch mit der Zeit
       > verändert sich der Blick. Eine Künstlerin ordnet das Denkmal nun ein.
       
   IMG Bild: Jetzt künstlerisch kommentiert: Ernst Thälmann vor Hochhäusern
       
       Es riecht nach Kaffee und nassem Stein. Ein kleiner Wagen verteilt
       dampfende Becher an Schaulustige. Der Bronzekoloss mit vorgeschobener Stirn
       und Halbglatze wird an allen Seiten von Hochhäusern überragt. Die größten
       von ihnen zählen 18 Balkone. Ich schaue mich um: Die [1][frisch enthüllten]
       roten Quader, die auf dem ehemaligen Exerzierplatz verteilt sind, wirken im
       Vergleich eher mickrig: Die Künstlerin Betina Kuntzsch hat damit im Auftrag
       des Bezirks Pankow das Thälmann-Denkmal an der Greifswalder Straße
       [2][künstlerisch kommentiert].
       
       Plötzlich weht ein Gesprächsfetzen durch die Luft: „… Konterrevolutionäre
       muss man verhaften!“, sagt Tankie im roten Che-Guevara-Pulli und mit
       Jeansweste über der Lederjacke. „Na, das hat Trotzki schon besser gemacht“,
       findet Piggy – ebenfalls in Lederjacke und, um das Outfit abzurunden, mit
       abgewetzter Schiebermütze.
       
       Die beiden Jungs lehnen entspannt an Thälmanns Sockel und rauchen. Tankies
       Resozialisierungslager muss man sich übrigens weit humaner vorstellen, als
       die Knäste in den kapitalistischen Staaten. Sie kommen aus dem Kiez, die
       taz ist für sie eine Klassenverräterzeitung. Piggy und Tankie sind heute
       wegen der Enthüllung da. Thälmann ist für sie ein Held. „Gut zum Sitzen“,
       urteilt Tankie über die roten Quader.
       
       Steigt man der Büste auf den Sockel, kann man über Bäume und Wiesen,
       Spazierwege und einen Spielplatz fast bis zur Wabe schauen – einer
       Kultureinrichtung, die abwechselnd Kino, Proberaum, Ausstellungsort und
       Szenetreff ist.
       
       ## Gewaltige Gasometer
       
       Zu Kuntzsch’ Quadern gehören mit einem QR-Code abrufbare Kurzfilme, die
       etwas über Thälmann, aber auch die Geschichte des Geländes erzählen. 1873
       wurde hier die [3][Berliner Gasanstalt] eröffnet, an der die Rohre des
       ersten Versorgungsnetzes der Stadt zusammenliefen. In Kuntzsch’ Filmen
       sieht man Fotos der sechs Gasometer: kreisrunde Backsteinbauten, ungefähr
       so gewaltig wie die Hochhäuser, die heute an ihrer Stelle stehen.
       
       Nach dem Krieg wurde das Gaswerk wieder aufgebaut. Es entstand die
       modernste Gasanlage Deutschlands. Täglich schossen etwa 150.000 Kubikmeter
       Gas durch die Rohre in Berliner Wohnungen. Erst 1981 erloschen die Hochöfen
       endgültig. Hinter dem Denkmal führen kleine Pfade durch die Bäume auf die
       Plattenriesen zu. Diese Wege waren nicht immer da. In Kuntzsch’ Filmen
       beschreibt Hardy Krause, wie er sich Anfang der 80er durch Schlamm und
       Schutt bis zu seiner Wohnungstür gekämpft hat. Die Gasometer waren zu
       diesem Zeitpunkt bereits gesprengt worden.
       
       ## DDR-Flaggen auf Balkonen
       
       Auf ihren Trümmern stampfte man zwischen 1983 und 1986 ein
       [4][Vorzeigewohnprojekt] für 4.000 AnwohnerInnen aus dem Boden. Viele der
       Trümmer wurden bei diesen Bauarbeiten einfach begraben. Bis heute reinigt
       ein blauer Stahltank auf dem Gelände pro Stunde 15 Kubikmeter Grundwasser.
       
       Unter den Aufnahmen der Künstlerin findet man auch Bilder von der
       [5][Eröffnung des Viertels]. Horden von Thälmann-PionierInnen stehen
       vor dem Bronzekopf mit den streng zusammengezogenen Augenbrauen und
       klatschen. Aus den Fenstern und von den Balkonen der Neubauten wehen
       DDR-Flaggen.
       
       Ich gehe auf die abgenutzten Gebäude zu. Wenn man unter einem der Häuser
       steht und nach oben guckt, kann man den Himmel nicht mehr sehen. Die
       Balkonkolumnen sind unbegrünt und fügen sich so gut in ihre graubraunen
       Fassaden ein. Viele der [6][BewohnerInnen] sind noch aus Vorwendezeiten,
       doch die Zusammensetzung verändert sich: Junge Familien ziehen durch den
       Park, obwohl es heute kalt ist.
       
       Der Park, der Spielplatz, die Häuser: Alles wirkt irgendwie grau
       angestrichen. Es sieht genauso aus, wie man es sich vorstellt in einer
       Stadt, in der Thälmann von den meisten nicht mehr als Held verehrt wird.
       
       25 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Streit-um-Thaelmann-Denkmal-in-Berlin/!5816644
   DIR [2] https://www.kunst-im-oeffentlichen-raum-pankow.de/wettbewerb-zur-kuenstlerischen-kommentierung-des-ernst-thaelmann-denkmals/
   DIR [3] https://stadtwende.de/stadtwendepunkte/gasometer-an-der-dimitroffstrasse/
   DIR [4] https://berlinischegalerie.de/revisited/ernst-thaelman-park/
   DIR [5] /!298910/
   DIR [6] https://www.berliner-mieterverein.de/magazin/online/mm0521/interview-mit-der-anwohnerinitiative-thaelmannpark-das-gruene-wohnzimmer-soll-bleiben-052122.htm
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hanno Rehlinger
       
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