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       # taz.de -- DRK-Leiter zu Gaza: „Die Lage bleibt äußerst fragil“
       
       > Die Menschen in Gaza müssen weiter hungern, sagt Christof Johnen. Er
       > erklärt, warum noch immer viele Lkws mit Hilfsgütern an der Grenze
       > feststecken.
       
   IMG Bild: Palästinenser in Gaza-Stadt zapfen am Wasser aus einem Tank, Bild vom 16. Oktober
       
       taz: Herr Johnen, wie ist gerade die Lage im Gazastreifen? 
       
       Christof Johnen: Die Versorgungslage der Bevölkerung ist desaströs. Die
       Menschen in Gaza haben nicht genug zum Essen. Die allermeisten Menschen
       wissen nicht, wenn sie morgens wach werden,ob sie an diesem Tag etwas zum
       Essen bekommen.
       
       taz: Haben Sie in ihrem Feldkrankenhaus in Rafah unterernährte Menschen
       behandelt? 
       
       Johnen: Ja, wir haben mangel- und unterernährte Menschen behandelt.
       
       taz: Die Ernährungslage ist aber nicht die einzige Dimension der Not in
       Gaza. 
       
       Johnen: Ja. Bis zur Waffenruhe gab es immer weiter
       Evakuierungsaufforderungen. Hunderttausende sind so auf immer engerem Raum
       zusammengedrängt worden. Viele leben auf offener Straße oder unter
       Plastikplanen. Wem es „gut“ geht, hat zumindest ein Zelt. Viele haben sich
       seit der Waffenruhe wieder auf den Weg zurück zu ihrem ursprünglichen
       Wohnort gemacht, wo die Menschen heftigste Zerstörung vorfinden. Es gibt
       zudem die Gefahr durch nicht explodierte Sprengkörper und Munitionsreste.
       Hinzu kommt die Zerstörung der Wasserversorgung und eine mangelhafte
       Gesundheitsversorgung. Die Waffenruhe kommt zu einem Zeitpunkt, an dem die
       Bevölkerung komplett erschöpft und traumatisiert ist. Vor allem die Kinder
       und Jugendlichen, die durch die Kampfhandlungen teils selbst verletzt oder
       gar verwaist sind.
       
       taz: Hat sich seit [1][der Waffenruhe] etwas verändert? 
       
       Johnen: Die Kampfhandlungen sind derzeit praktisch zum Erliegen gekommen.
       Aber in der Versorgung der Zivilbevölkerung hat sich noch nichts
       substanziell verändert. Die palästinensischen Kolleg*innen vor Ort
       sagen, dass es eine große Erleichterung ist, nicht mehr ständig besorgt zu
       sein, bei den Kämpfen selbst getroffen zu werden. Am Montag, als die
       israelischen Geiseln und die palästinensischen Gefangenen freikamen, hat
       sich dieses Gefühl der Erleichterung noch mal verstärkt. Zwei
       Grenzübergänge wurden am Sonntag kurzzeitig geöffnet, dann aber wieder
       geschlossen. Die Lage bleibt äußerst fragil.
       
       taz: Die israelische Regierung begründet die nach wie vor bestehende
       Schließung des Grenzübergangs Rafah damit, dass die Hamas nicht alle
       [2][toten Geiseln] übergeben habe. 
       
       Johnen: Ja, aber leidtragend bei solchen Maßnahmen ist die
       Zivilbevölkerung. Derzeit stapeln sich Hilfsgüter in Ägypten und in
       Jordanien, können aber nicht nach Gaza hereinkommen. Einerseits ist das
       eine Frage der Quantität – das heißt, die Versorgung der Bevölkerung mit
       grundlegenden Gütern ist nicht gesichert – aber andererseits geht es hier
       auch um die Qualität.
       
       taz: Wie meinen Sie das? 
       
       Johnen: Wir müssen auch die Wasserinfrastruktur reparieren, wir müssen
       unbedingt die noch funktionierenden Gesundheitseinrichtungen mit Geräten,
       mit Material und mit Medikamenten versorgen. Wir brauchen Sanitäranlagen
       und Unterkünfte. Bald wird es kühl und feucht, die Menschen brauchen
       Schutz.
       
       taz: Woran hapert es konkret? Ist es nur die aktuelle Schließung der
       Grenze? 
       
       Johnen: Es gibt weiterhin keine Klarheit darüber, wie Hilfsgüter eingeführt
       werden. Die administrativen Prozesse sind schwierig und zeitaufwendig. Es
       muss nach wie vor alles einzeln beantragt werden, und das ist besonders im
       Gesundheitsbereich sehr komplex. Da geht es auch um potenzielle
       Dual-Use-Güter.
       
       taz: Sie meinen Güter, die sowohl für zivile als auch militärische Zwecke
       eingesetzt werden könnten. 
       
       Johnen: Ja, dazu gibt es keine verlässlichen Vorgaben und Richtlinien. Die
       hat es nie gegeben. Es ist verständlich, dass man sagt: „Wir möchten
       Kontrolle darüber haben, was hier wie eingeführt wird“. Aber wir, als
       humanitäre Organisation, brauchen Klarheit und zügige Prozesse. Daran
       mangelt es noch.
       
       taz: Wie viele Krankenhäuser funktionieren noch im Gazastreifen? 
       
       Johnen: Von den etwa 35 Krankenhäusern sind nach unseren Informationen
       derzeit 12 bis 14 noch teilweise funktionsfähig, darunter das genannte
       Feldkrankenhaus. Der Palästinensische Rote Halbmond selbst betreibt zudem
       zwei Kliniken, in Gazastadt und Chan Junis. Beide sind schwer beschädigt,
       aber noch in Betrieb. Die Kapazitäten sind durch die Angriffe gesunken,
       während der Bedarf gestiegen ist. Wenn viele Menschen auf engem Raum leben,
       verbreiten sich Krankheiten viel schneller.
       
       taz: Wie lange wird es dauern, bis das Gesundheitswesen wieder vollständig
       funktioniert? 
       
       Johnen: Eine vollständige Wiederherstellung wird in vielen Fällen sehr
       große bauliche Maßnahmen erfordern. Und das wird lange dauern. Selbst, wenn
       die Waffenruhe hält und Hilfe ungehindert in den Gazastreifen kommt, wird
       es sicherlich Monate dauern, bis es eine Stabilisierung der
       Gesundheitsversorgung gibt. Deshalb ist es so wichtig, jetzt auch
       Medikamente und medizinische Ausstattung in den Gazastreifen zu bringen.
       
       taz: Haben Sie seit Beginn der Waffenruhe Waren einführen können? 
       
       Johnen: Wir als Deutsches Rotes Kreuz noch nicht. In den letzten zwei
       Jahren hatten wir zahlreiche Frachtflugzeuge und Lkws mit Tonnen von
       Hilfsgütern nach al-Arisch in Ägypten geschickt, das waren größtenteils
       Zelte, Plastikplanen, Kanister, Hygieneartikel und natürlich das Material
       für das Feldkrankenhaus. Und der Rote Halbmond hat spezielle Ausstattung
       für traumatische Verletzungen erhalten. Vieles davon konnte nach Gaza
       gebracht werden, sehr viele Hilfsgüter werden aber weiterhin in al-Arisch
       vorgehalten, um schnellstmöglich in den Gazastreifen importiert zu werden,
       wenn eine Einfuhrerlaubnis vorliegt.
       
       taz: Woran liegt es, dass viele LKWs noch an der Grenze stehen? 
       
       Johnen: Die Grundvoraussetzung sind mehr geöffnete Grenzen. Hinzu kommen
       Genehmigungsprozesse, die einfach dauern. Und bisher reichen die
       Kapazitäten dafür nicht aus. Denn jedes Fahrzeug, das in den Gazastreifen
       einfährt, wird kontrolliert. Und diese Kontrolle ist letztlich eine
       manuelle, händische Kontrolle, die natürlich viel Zeit in Anspruch nimmt.
       Und deswegen fordern wir, dass eben mehr Grenzübergänge geöffnet werden.
       Die Kapazitäten müssen erhöht werden.
       
       taz: Haben Sie keine Sorge, dass [3][die Hamas oder andere Milizen die
       Hilfsgüter an sich reißen] und die Lkws plündern? 
       
       Johnen: Ich kann nur für die Güter der Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung
       sprechen. Diese werden vom Roten Halbmond oder dem Internationalen Komitee
       vom Roten Kreuz direkt verteilt. Beide sind vor Ort von den Menschen
       anerkannt und kennen die Lage sehr gut. Uns liegen keine Hinweise vor, dass
       unsere Hilfsgüter zweckentfremdet wurden. Wir gehen davon aus, dass wir
       aufgrund unserer Vorgehensweise auch in Zukunft die Hilfsgüter direkt zu
       den notleidenden Menschen bekommen.
       
       An der Stelle möchte ich auch einmal etwas Grundsätzliches sagen: In keinem
       anderen Konflikt wird diese Diskussion in der Form geführt. Im Sudan nicht.
       In der Ukraine nicht. Nur hier. Bedenken sind verständlich und die
       größtmögliche Sorgfalt ist erforderlich, das steht außer Frage. Aber man
       kann auch nicht zwei Millionen Menschen, viele davon Frauen, Kinder, Kranke
       und Verletzte, erforderliche humanitäre Hilfe vorenthalten. Wir können
       diese Menschen nach allem, was sie durchgemacht haben, nicht der Würde
       berauben, versorgt zu werden oder sich wieder selbst zu versorgen.
       
       taz: Was wäre jetzt auf politischer Ebene notwendig? 
       
       Johnen: Ich glaube, man muss wirklich ein besonderes Augenmerk auf Kinder
       und Jugendliche richten, um nicht eine ganze Generation von jungen Menschen
       zu verlieren. Dass sie möglichst schnell wieder zur Schule gehen oder eine
       Betreuung bekommen können. Das ist eine Generation, die jetzt zwei Jahre
       jedweder Möglichkeit beraubt wurde. Viele sind mangel- oder unterernährt,
       haben ihre Eltern oder Angehörige verloren, sind schwer traumatisiert. Das
       ist vor allem eine Frage für den Wiederaufbau, das kann man nicht mit Lkws
       richten.
       
       Der Wiederaufbau wird im Augenblick sehr in Form von Gebäuden diskutiert.
       Wiederaufbau muss aber auch eine soziale Dimension beinhalten. Und das mit
       einem besonderen Fokus auf die Einbindung der palästinensischen
       Zivilbevölkerung. Ein Wiederaufbau, der von außen aus europäischen oder
       nordamerikanischen Hauptstädten verordnet wird und nicht mit den Menschen
       gemeinsam geschieht, wird nicht erfolgreich sein.
       
       19 Oct 2025
       
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