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       # taz.de -- Daniel Defert über Michel Foucault: „Er kämpfte immer mit der Polizei“
       
       > Der Lebensgefährte des Philosophen Michel Foucault hat seine
       > Autobiographie vorgelegt. Er erzählt über Adorno, den Kampf gegen Aids
       > und die 68er.
       
   IMG Bild: Sein Lebensgefährte beschreibt Foucault als „germanophil“.
       
       285, rue de Vaugirard in Paris, Rive Gauche. Daniel Deferts Wohnung in
       Paris. Die Wohnung, die er sich mit Michel Foucault geteilt hat. Über 20
       Jahre waren Defert und Foucault zusammen. 
       
       Zweiter Hof. Rechts. Achter Stock. Defert, geboren 1937, ist Soziologe und
       Philosoph. Nachdem Foucault an den Folgen seiner HIV-Infektion 1984 starb,
       gründete Defert die Vereinigung AIDES, die heute noch größte
       Aids-Organisation in Frankreich – vergleichbar mit der AidsHilfe
       Deutschland. 
       
       Wendeltreppe. Braune Tür. Defert macht auf. Hinter dem schmalen Flur liegt
       ein großes Zimmer mit großformatiger Fensterfront. Noch immer stehen hier
       die Bücherregale so, wie man sie von den berühmten Foucault-Fotos kennt. In
       der Ecke neben drei Sesseln auf einem kleinen Tisch stapeln sich Bücher von
       und über Foucault in allen Sprachen. 
       
       taz: Herr Defert, warum sprechen Sie Deutsch, wegen Marx oder Goethe? 
       
       Daniel Defert: Ich habe es in der Schule gelernt. Aber ich fahre
       tatsächlich schon sehr lange einmal im Jahr nach Deutschland.
       
       Sie haben in Deutschland Vorlesungen zu Bertolt Brecht besucht. 
       
       Das war im September 1960, ich reiste durch Deutschland. In Heidelberg
       besuchte ich jeden Tag Vorlesungen zu Bert Brecht. In Frankfurt traf ich
       einen jungen Mann, der mit Frau Adorno eng befreundet war. Er schrieb eine
       Arbeit über André Gide. Wir hatten eine Affäre. Er schlug mir vor, eine
       Vorlesung von Adorno zu besuchen.
       
       Kannten Sie Adorno? 
       
       Ich kannte Adorno nicht. Ich habe abgelehnt, weil ich müde war. Dann kam
       ich zurück nach Frankreich und wurde Foucault vorgestellt. Im Nachhinein
       bereue ich es, weil ich Adorno und Foucault in der gleichen Woche hätte
       treffen können!
       
       Foucault soll mal gesagt haben, hätte er Adorno früher gelesen, hätte er
       einiges zu schreiben sich sparen können. 
       
       Ich denke, er hat es aus Höflichkeit gesagt.
       
       In der Frankfurter Soziologie hat man Foucault lange abgelehnt. 
       
       Der Umgang mit Historizität war sehr entgegengesetzt. Wenn die Frankfurter
       Schule oder selbst Hannah Arendt über Geschichte sprach, dann immer aus
       zweiter Hand. Foucault aber war es wichtig, in die Archive zu den
       Primärquellen zu gehen.
       
       Andersherum erfährt die Frankfurter Schule in Frankreich bis heute keine
       große Rezeption. 
       
       Sie kam erst durch Jean Baudrillard in Frankreich an, aber das war schon
       die zweite Welle. Davor gab es noch Henri Lefebvre.
       
       Foucault hat sehr viele deutsche Philosophen rezipiert. 
       
       Ich würde sogar sagen, er war germanophil. Er las in Deutsch, sprach
       Deutsch. Als er seinen Test an der École normale supérieure hatte, sprach
       er ein deutsches Wort falsch aus. Der Professor lachte ihn aus und Foucault
       war beschämt. Als sein Vater ihn fragte, was er als Geschenk haben wolle
       für den Erfolg, sagte er „Deutschunterricht“.
       
       Nach seinem Tod 1984 haben Sie die erste und bis heute größte Aidshilfe
       Frankreichs, AIDES, gegründet und Ihr Leben dem Kampf gegen Aids
       verschrieben. Diese Geschichte dokumentieren Sie nun in Ihrem Buch. 
       
       Ja, meine Organisation AIDES wollte ein Archiv der Geschichte der
       Organisation anlegen. Ich mag das Schreiben nicht, und deshalb haben wir
       das Buch in Form eines Interviews gemacht. Es gab dann eine erste Version
       des Buchs, die mir nicht gefallen hat.
       
       Warum nicht? 
       
       Die Interviewer haben die Geschichte als persönliche Geschichte
       reorganisiert, was mir nicht gefiel. In dem Moment, in dem man versucht,
       eine Chronologie zu erstellen, und alles in eine lineare Erzählung bringt,
       verändert man die Bedeutung einiger Ereignisse.
       
       Was genau haben Sie als zu persönlich empfunden? 
       
       Es betraf mein Leben und die Beziehung zu Foucault. Natürlich hat die
       Gründung von AIDES mit dem Tod Foucaults zu tun, aber ich wollte nicht über
       das Private sprechen. Also haben wir den ersten Entwurf verworfen und das
       Buch neu organisiert.
       
       Haben Sie es auch abgelehnt, mit einem der Biografen Michel Foucaults zu
       sprechen, mit Didier Eribon zum Beispiel, der sicher die bekannteste
       Foucault-Biografie vorgelegt hat? 
       
       Ja, ich habe es abgelehnt. Eribon kannte Foucault sehr gut. Nach Foucaults
       Tod habe ich ihn zwei Jahre nicht gesehen, und dann rief er mich eines
       Tages an und sagte mir, er wolle die Biografie schreiben. Ich wollte ihn
       nicht treffen.
       
       Haben Sie es bereut? 
       
       Ich dachte, Eribons Biografie wird schon okay werden, und es war ohnehin
       besser, sie ohne mich zu machen, weil er so nach Antworten suchen und nach
       Fakten forschen musste. Für meinen Geschmack war sie dann zu sehr die
       Geschichte Foucaults als Akademiker, also war ich etwas enttäuscht, weil
       sie nicht Foucault zeigte, wie er war.
       
       Inwiefern? 
       
       Er blendete all die fantastischen und leidenschaftlichen Aspekte seines
       Lebens aus. Also war ich enttäuscht und akzeptierte, dem Biografen James
       Miller einige Fragen zu beantworten. Aber dann war ich entsetzt.
       
       Warum? 
       
       Millers Buch ist unseriös. Geradezu absurd. David Macey hat mit „The Lives
       of Michel Foucault“ eine gute Biografie geschrieben. Er hat viel geforscht
       und Foucaults Texte gelesen, Eribon hat nicht in die Texte geschaut, ihn
       interessierte nur sein akademisches Leben, während Macey Foucaults Texte
       untersucht hat. Die meisten Leute, die über Foucault arbeiten, benutzen
       Maceys Buch.
       
       Sie sagen, Sie bereuen, mit James Miller gesprochen zu haben. 
       
       Miller wollte unbedingt eine sadomasochistische Geschichte aus seinem Leben
       machen. Macey interessierte sich für das Intellektuelle.
       
       Aber Foucault galt nicht nur für Eribon als Parade-Akademiker. Er hatte es
       als Professor bis an die Spitze des streng hierarchischen Bildungssystem
       Frankreichs bis ins Collège de France geschafft. 
       
       Als ich 1960 Foucualt traf, kam er gerade aus Deutschland zurück und war
       ein „Herr Professor“. Einer, dem man den Mantel hielt, so wie man das in
       Deutschland mit Professoren machte vor 1968. Er war 30 und ich war 21. Ich
       war beeindruckt von seinem „Herr-Professor-Look“.
       
       Und das hat sich mit dem Jahr 68 geändert? 
       
       Foucault hatte sich schon vorher geändert. Er hat Frankreich 1966 in
       Richtung Tunesien verlassen, und er war dort sehr eng mit seinen Studenten.
       Im März 66 war er in die erste Studentenbewegung involviert.
       
       Und 68? 
       
       Im Mai 68 war er in Tunesien. Dort, nicht in Frankreich, veränderte sich
       seine Beziehung zu den Studenten, und er war in die antihierarchischen
       Kämpfe involviert. Sogar am Collège de France, das dazu tendiert, den
       Status des „Herrn Professor“ ständig neu zu erschaffen, versuchte er, ein
       anderes Verhältnis zu seinen Studenten aufrechtzuerhalten. Er hatte dort
       über 600 Hörer in seinen Vorlesungen, sie waren ein Spektakel. Er mochte
       lieber die US-amerikanische Art zu unterrichten, die kleinen Seminare, wo
       die Studenten sehr frei sprachen. Die Nähe zu den Studenten gefiel ihm viel
       besser. Das alles war sehr weit entfernt von dem Parade-Akademiker, den Sie
       in Ihrer Frage ansprechen.
       
       Und das blendet Eribon aus? 
       
       Eribon ist gut informiert, aber er war prüde gegenüber dem Privatleben.
       Eribon projizierte den Wunsch nach einem akademischen Leben auf Foucault.
       Miller hingegen kam mit dem Wissen über einige Ereignisse aus den USA, was
       sehr interessant für mich war. Das hatte was Originelles, Abgründiges, und
       das fehlte bei Eribon. Aber das Buch war dann absolut verrückt, er
       projizierte seine eigene sexuelle Fantasie hinein.
       
       Die Position der beiden Autoren ist interessant, der eine projiziert eine
       akademische, der andere eine sexuelle Fantasie in das Leben Foucaults. 
       
       Ja. Wissen Sie, Foucaults Mutter war sehr elegant und bourgeois. Sie sagte,
       du kannst nicht über ihn sprechen, du bist sein Freund. Ich glaube, sie
       hatte recht, und ich machte das zu meinem Gesetz. Deshalb wollte ich auch
       in meiner eigenen Biogrfie nicht über ihn sprechen, auch wenn die Leser das
       erwarteten.
       
       Ja, die Leser erwarten das, weil er ein Superstar ist. Er hätte dem
       Interesse für sein Leben sicher Ablehnung entgegengebracht. Apropos, wir
       haben letztes Jahr seinen Geburtsort und sein Grab in Vendeuvre besucht … 
       
       … Foucaults Mutter hat auf sein Grab „Professeur au Collège de France“
       schreiben lassen, haben Sie das gesehen?
       
       Ja. 
       
       Ich war schockiert. Ich sprach mit ihr darüber, und sie sagte: „Ach ja,
       Wörter sind bloß Wörter, Menschen vergessen sie, nicht die Titel.“ Also ist
       es das Grab des Akademikers.
       
       Sie war sehr stolz? 
       
       Ja.
       
       Sie haben versucht, die politische Geschichte zu erzählen, nicht so sehr
       die private. Und jetzt sprechen wir hier auch über Foucault. 
       
       Vieles, was ich selbst gedacht und geschrieben habe, war inspiriert von
       Foucault. Nicht im dem Sinne, was er sagte, sondern im Sinne eines
       bestimmten Habitus im Denken. Einer der AIDES-Mitglieder sagte, Defert
       zwingt uns immer diese foucaultsche Theorie auf. Ich hatte nie das Gefühl,
       das zu tun.
       
       War sein Tod der Grund für Ihre Arbeit bei AIDES? 
       
       In gewisser Weise habe ich AIDES im Namen von Foucault gemacht. Seine
       Mutter hat mich unterstützt und sagte zu mir, ich musste es wohl für ihn
       tun.
       
       Sie sagten ein paar Mal, es sei Ihnen unangenehm, über Ihr Leben zu
       sprechen. Warum ist es so schwer von sich selbst zu sprechen? Ist es wie
       beim Schreiben? In Ihrem Buch schreiben Sie, es sei überflüssig zu
       schreiben, wenn man nicht eine neue Form findet für das, was man zu sagen
       hat. 
       
       Das betrifft mein tiefes Gefühl, kein Autor zu sein. Foucault im Gegensatz
       schrieb jeden Tag, 25 Jahre lang habe ich ihn vier, fünf Stunden am Tag
       schreiben sehen, wenn er mal zwei Tage nicht schrieb, war er nah an der
       Neurose. Foucault hatte großen Spaß am Schreiben. Ich habe keinen Spaß am
       Schreiben, und wenn du nicht schreibst, kannst du dein Schreiben auch nicht
       verändern, keine neue Form finden. So ist es.
       
       Also haben Sie sich auf Ihre politische Arbeit konzentriert? 
       
       Ich hatte immer Spaß daran, konkrete Dinge zu tun, und wenn sie fertig
       waren, waren sie fertig. Vielleicht ist das ein Hysteriemerkmal. Die Arbeit
       in der G.I.P. [Gruppe Gefängnis-Information] war großartig. Foucault war
       auch glücklich darüber.
       
       Wie eng arbeiteten Sie zusammen? 
       
       Als ich Foucault traf, hatte er nicht die Absicht, in Frankreich zu
       bleiben. Er war in Schweden, Polen, Deutschland – er wollte nach Japan
       gehen. Ich wollte die Agrégation in Philosophie beenden, um etwas in der
       Tasche zu haben. Ich habe abgelehnt, nach Japan zu gehen, und Foucault
       blieb so auch in Frankreich. Ich habe ihm nie erzählt, dass ich meine
       Entscheidung revidiert hatte und mit ihm gehen wollte, weil er schon
       abgesagt hatte. Wir blieben in Paris, er schrieb „Die Ordnung der Dinge“,
       und ich bereitete meine Agrégation vor. „Die Ordnung der Dinge“ war sein
       erster Erfolg. Wir waren ein junges, sehr verliebtes Paar, und ich glaube,
       es hat sich im Schreibprozess und also im Buch und seinem großen Erfolg
       niedergeschlagen. Ich ging dann nach Tunesien, Foucault kam auch, dann kam
       68, ich stieß erst später zur Bewegung, zu den Maoisten, als diese schon
       verboten waren, und engagierte mich in den Prozessen der politischen
       Gefangenen. Foucaults „Überwachen und Strafen“ – sein erster
       internationaler Erfolg – war auch mit unserem gemeinsamen Leben und
       natürlich der G.I.P. verlinkt. Die politischen Interventionen waren wichtig
       für Foucaults Denken, seine Theorie.
       
       Sie kommen immer wieder auf die enge Verbindung zwischen Foucaults Werk und
       den politischen Bewegungen, seinen politischen Interventionen, zurück. 
       
       Foucault hat Dinge in den Stand eines politischen Objekts erhoben, die
       zuvor nicht politisch waren. Als er Ende der 50er, Anfang der 60er über
       Wahnsinn schrieb, war das noch kein politisches Thema. Und die Gefängnisse
       – sie waren gar 68 noch kein politisches Thema. Das war erst nach 1971/1972
       so, als es in Frankreich zu großen Aufständen in den Gefängnissen gekommen
       war, es gab damals etwa 35 Aufstände, einige Gefängnisse wurden komplett
       zerstört. Wenn ich von meinem politischen Leben spreche, klingt das für die
       meisten meiner Generation wie ein Witz, für die meisten war ich nicht in
       der Politik, weil ich nicht Mitglied der Kommunistischen Partei war. Aber
       mein Leben war ein politisches: mit der Gefangenenbewegung und mit der
       AIDS-Bewegung. Beide Male musste erst eine Politisierung des Gegenstands
       stattfinden. Also bedeutet politisches Leben auch eine Transformation von
       Politik. In genau diesem zweiten Aspekt, in dieser Hinsicht war Foucault
       politisch involviert. Er war nur ganz kurz in der Kommunistischen Partei,
       er verließ sie sofort wieder, er war mehr amüsiert von Politik als
       involviert. Aber sein Tun war politisch.
       
       Reden wir über die Formen der Politik. In Ihrem Buch schreiben Sie, dass
       nach 68 die Gesellschaftsanalyse weniger Teil der Soziologie als vielmehr
       eine Massenbewegung war. 
       
       Ja, das war meine Erfahrung. Ich war in Großbritannien, um eine Umfrage für
       ein soziologisches Institut zu machen. Dort wurde mir klar, dass die
       Analyse auf der Straße lag, die sozialen Bewegungen selbst waren die
       Analyse.
       
       Sehen Sie etwas Ähnliches heute? 
       
       Ich denke ja, aber ich bin nicht Teil davon, weil ich das Internet nicht
       benutze. Es gibt neue Formen der Vernetzung, neue Verbindungen zwischen den
       Menschen, von denen ich nichts mehr verstehe. Sie finden nicht mehr auf der
       Straße statt. Ich verstehe im Moment nichts davon, aber vielleicht
       irgendwann. Es geht weniger um das Denken als um das Ereignis. Ich habe
       immer versucht, sensibel für das Ereignis zu sein, für die Begegnungen und
       die Situation. Das ist wiederum ein Grund, weshalb es keine lineare
       Erzählung meines Lebens geben kann. Da gibt es keine Logik, der Zufall, das
       Wagnis, die Begegnung ist die Logik.
       
       Wer waren Ihre Verbündeten? 
       
       Als ich Maoist war, war die proletarische Bewegung unser Modell, wir
       wollten mit migrantischen Arbeitern und mit Frauen arbeiten. Aber 1972
       zeigte sich, dass die Frauen in den Gefängnissen Themen hatten, die nicht
       die proletarischen waren. Und das war symptomatisch für das, was dann
       passierte, nämlich eine Fragmentierung der Kämpfe, die Gewerkschaften und
       Parteien hatten völlig andere Themen, und wir waren den Transvestiten,
       Gays, Feministinnen näher als den Proletariern.
       
       In Deutschland gibt es eine Lesart Foucaults als unpolitischer oder gar
       neokonservativer Denker. 
       
       Weil er eine staatszentrierte Analyse abgelehnt hat und stattdessen die
       vielfältigen Machtpraktiken in den Blick nimmt und Macht als
       Kräfteverhältnis analysiert. Es ging ihm vielmehr um die Praktiken und
       Beziehungen unterhalb der Macht des Staates oder anders gesagt: um das
       Verhältnis zwischen Arzt und Patient und Lehrer und Schüler ebenso wie
       zwischen Regierenden und Regierten. Für die Marxisten existierte Macht
       damals nur als unterdrückende. Foucault war nicht so staatsfixiert, er
       fragte eher nach den Formen des Regiertwerdens. Ihn interessierten die
       Techniken der Kontrolle, nicht die faktische Institution.
       
       War er deshalb skeptisch gegenüber militanten Linksradikalen, die mit ihren
       Aktionen auf den Staat zielten? 
       
       Foucault war gegen Terrorismus in demokratischen Ländern. Das war auch der
       Grund, wieso er sich weigerte, die Roten Brigaden in Italien zu
       unterstützen. Er gab ein Interview in Italien für L‘Unità. Es kam dadurch
       zu Spannungen mit Felix Guattari und Gilles Deleuze. Ich stand eher Adriano
       Sofri und Lotta Continua näher. Zwischen Deleuze und Foucault kam es gar
       zum Bruch, als Guattari Trotzkis Schrift über den Faschismus in Deutschland
       veröffentlichte. Foucault war der Ansicht, dass man nicht sagen könne, der
       deutsche Staat sei ein faschistisches Land zu der Zeit. Foucault
       interessierte sich sehr für die RAF, aber sie war ihm eher suspekt. Er war
       sicher, dass die RAF von den Sowjets unterstützt wurde.
       
       In Berlin gerieten Sie wegen der RAF ins Visier der Polizei. 
       
       Wir sprachen in einem Restaurant mit den Merve-Verlegern Peter Gente und
       Heidi Paris über die RAF. Die Menschen um uns herum hörten uns diskutieren.
       Heidi Paris sah zu der Zeit ein wenig wie Inge Viett aus, deren
       Fahndungsfoto überall hing. Als wir das Restaurant verließen, wurden wir
       von der Polizei, die mit Waffen angerannt kam, festgenommen. Foucault war
       es gewohnt, mit der Polizei zu diskutieren – und auch zu kämpfen. Aber
       Peter Gente schrie: „Nicht in Berlin. In Paris, ja. Hier schießen sie.“ Und
       Foucault hörte sofort auf. Wir wurden dann nach Moabit gebracht. Foucault
       sagte, wir hätten nur eine kurze Zeit dort verbracht, aber ich meine, es
       waren drei Stunden.
       
       Er kämpfte oft mit der Polizei? 
       
       Er wurde oft festgenommen und kämpfte ständig mit der Polizei. Er galt als
       Linksradikaler.
       
       Wegen der G.I.P.-Aktionen, an denen auch Sartre beteiligt war? 
       
       Sartre und Foucault waren zu der Zeit sehr eng. Es war aber keine
       intellektuelle Beziehung, weil sie selten diskutierten. Als Foucault Sartre
       traf, war Sartre schon sehr alt und fast blind. Sartre schrieb auch ganz
       anders als wir damals bei G.I.P.
       
       Was genau meinen Sie? 
       
       Zum Beispiel schrieb er, dass die Inhaftierten für uns alle kämpfen würden.
       Foucault hätte niemals so etwas geschrieben. Aber trotzdem waren sie sehr
       freundschaftlich miteinander. Foucault fuhr Sartre überallhin – zu den
       Renault-Werken und den Streiks und so weiter. Es war eine sehr praktische
       Freundschaft. Sie sprachen nicht über ihre Differenzen.
       
       Wie war die Freundschaft zu Roland Barthes? 
       
       Sie haben sich in den 50ern kennengelernt. Vielleicht bin ich ein wenig
       schuld daran, dass sie am Ende nicht mehr so eng waren. Roland Barthes
       mochte es, ab 18 Uhr in die Bars zu gehen, aber 1963 arbeitete ich an
       meiner Agrégation in Philosophie, und Foucault schrieb „Die Ordnung der
       Dinge“, daher hörten wir auf auszugehen. Barthes war sehr traurig darüber,
       weil Foucault seinem Nachtleben einen gewissen intellektuellen Glanz
       verlieh. Ohne Foucault ging es nur noch um die Gigolos. Foucault und
       Barthes hatten irgendwie eine seltsame Beziehung. Barthes kopierte immer
       ein wenig Foucault.
       
       Hat Foucault jemals den anderen großen Linksradikalen Frankreichs, Guy
       Debord, getroffen? 
       
       Nein. „Überwachen und Strafen“ ist auch genau entgegengesetzt zu „Die
       Gesellschaft des Spektakels“. Foucault hat Debord zum Teil gelesen, aber
       nicht intensiv. In „Überwachen und Strafen“ gibt es diesen Anwalt aus dem
       19. Jahrhundert, er beschreibt die Gefängnisse als genau entgegengesetzt zu
       dem Zirkus in Rom. Foucault nahm dies als Ausgang, um zu zeigen, dass die
       moderne Gesellschaft eben nicht auf der Gesellschaft des Spektakels,
       sondern auf Kontrolle und Überwachen beruht. Es ist also direkt gegen
       Debord gerichtet. Aber bei den Situationisten gab es auch Isidore Isou, der
       zu Foucaults Vorlesungen kam und ihm auch seine Werke schickte.
       
       Jetzt bekommen Sie viele Abhandlungen über Foucault geschickt. 
       
       Den Stapel dort werde ich bald dem IMEC [Institut Mémoires de l‘édition
       contemporaine] in der Normandie spenden.
       
       Es gibt auch ein Foucault-Archiv in Paris. 
       
       Ja, es wurde kürzlich von der Bibliothèque nationale de France gekauft. Ich
       habe lange Zeit alle Manuskripte behalten, weil Foucault keine postumen
       Veröffentlichungen wollte. Nach Jahren haben wir, ich und die Familie, aber
       entschieden, Werke zu veröffentlichen. Letztes Jahr habe ich die 37.000
       Seiten handgeschriebener Manuskripte an die Biobliothèque nationale
       verkauft.
       
       Befindet sich darunter auch Foucaults „Aveux de la chair“, der vierte Band
       von „Sexualität und Wahrheit“? 
       
       Nein. Die Familie hat aber entschieden, alles zu veröffentlichen.
       
       Wirklich? Auch den vierten Band von „Sexualität und Wahrheit“? 
       
       Die Familie wird ihn bald veröffentlichen.
       
       Ist das seltsam für Sie? 
       
       Nein, ich habe keine Rechte daran. Nicht an seinen Schriften. Ich war der
       Miteigentümer der Wohnung und habe nur die Rechte an allen Dingen, die sich
       in der Wohnung befanden. Und die Manuskripte befanden sich in unserer
       Wohnung.
       
       Aber Foucault war sehr explizit in seinem Wunsch, dass es keine postumen
       Veröffentlichungen geben sollte. Und bereits die Vorlesungen am Collège de
       France wurden nach dem Tod veröffentlicht. 
       
       Die Vorlesungen wurden mit meiner Hilfe veröffentlicht. Wir waren mit einer
       bestimmten Situation konfrontiert: Sie erschienen zuerst in Italien, und
       die Familie Foucaults versuchte das zu verhindern. Aber das französische
       Gesetz hat keine Wirkmacht in Italien. Viel schwieriger war, dass Foucault
       immer Nein zur postumen Veröffentlichung gesagt hat, weil er Angst hatte,
       wie Kafka zu enden, aber gleichzeitig seinen Studenten erlaubte, die
       Vorlesungen aufzuzeichnen. Seit Foucaults Tod haben wir „Dits et Ecrits“
       sowie 13 Bänder seiner Vorlesungen veröffentlicht – es gibt noch sechs oder
       sieben.
       
       Sie sagen Foucault und niemals Michel. 
       
       Früher sagte ich immer Michel, wenn ich über ihn sprach, aber dann war er
       eine öffentliche Person und immer, wenn ich Michel sagte, sagten die ganzen
       Leute um mich herum auch Michel. Das hat mich immer irgendwie verärgert,
       weil er ja mein Michel war. Die ganze Erfahrung mit AIDES war eine
       Möglichkeit, mit ihm zu sein. Ich dachte für ihn, mit ihm. Es war die
       Möglichkeit, ihm nah zu sein. Ich war in meinem Leben insgesamt länger ohne
       ihn als mit ihm. Aber durch diese ganzen Aktivität war und bin ich jeden
       Tag mit ihm.
       
       13 Oct 2015
       
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