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       # taz.de -- Das ende von taz.gazete: Wir sagen Tschüss
       
       > taz.gazete geht zu Ende. Doch die Kämpfe für die Demokratie und
       > Pressefreiheit gehen weiter.
       
   IMG Bild: Wir danken unseren Kolleg*innen in der Türkei, unseren Leser*innen und Spender*innen
       
       Liebe Leser*innen,
       
       am Anfang stand viel Idealismus. Als taz.gazete am 19. Januar 2017, dem
       zehnten Todestag des armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink, online
       ging, erlebte die Türkei eine umwälzende Zeit. „Die aktuellen Entwicklungen
       sind schnelllebig, besorgniserregend, folgenreich, widersprüchlich,
       verwirrend, dramatisch, aufwühlend, traurig, ärgerlich, unübersichtlich …
       Vor allem aber sind sie eins: wichtig“, schrieben wir im Editorial. Ein
       halbes Jahr zuvor war nach dem Putschversuch der Ausnahmezustand verhängt
       worden. Per Dekret wurden Pressefreiheit und Grundrechte in
       schwindelerregendem Tempo eingeschränkt. Die taz wollte nicht nur
       zuschauen, sondern Solidarität mit den Kolleg*innen zeigen, die in der
       Türkei viel riskierten, um weiterzuberichten. Wir wollten kritische Stimmen
       stärken, die immer mehr unter Druck gesetzt wurden. Seitdem haben wir auf
       gazete.taz.de rund 700 Hintergrundberichte, Reportagen und Interviews
       veröffentlicht – auf Türkisch und auf Deutsch. Mehr als 50 Autor*innen aus
       der Türkei haben für taz.gazete geschrieben. Sie haben zu einer
       vielfältigeren Türkeiberichterstattung in Deutschland beigetragen. Heute
       geht das Projekt zu Ende.
       
       Doch die tief greifenden Veränderungen in der türkischen Gesellschaft gehen
       weiter. Heute findet zum ersten Mal nach 86 Jahren in der Hagia Sophia das
       Freitagsgebet statt. Mit dem neuen Internetgesetz sollen die sozialen
       Medien, in denen noch Opposition geäußert werden konnte, unter Kontrolle
       gestellt werden. Während in der Gesellschaft der Rassismus gegen
       Syrer*innen zunimmt, ertrinken weiterhin Geflüchtete an den Landesgrenzen.
       Die 27-jährige Studentin Pınar Gültekin wurde von ihrem Ex-Freund brutal
       ermordet. Währenddessen wird diskutiert, die in der Istanbul-Konvention
       formulierten Frauenrechte rückgängig zu machen. Erdoğan wiederum, der
       fürchtet, die Wahlen 2023 zu verlieren, redet lieber über eine erneute
       Änderung des erst vor zwei Jahren eingeführten Wahlsystems, als über
       Frauenmorde zu sprechen.
       
       Blickt man nur auf die Ereignisse der vergangenen Wochen, wäre es naiv zu
       glauben, dass ein in Deutschland gegründetes Projekt die Demokratie in der
       Türkei stärken könnte. Trotzdem war taz.gazete ein wichtiges Projekt: eine
       Anlaufstelle für arbeitslose Journalist*innen aus der Türkei und ein
       Bezugspunkt für viele, die zuletzt nach Deutschland migriert sind. Es
       versuchte, die Pressefreiheit zu unterstützen, die jeder Demokratie
       zugrunde liegt, während in der Türkei alles, was mit Demokratie zu tun
       hatte, systematisch zerstört wurde. Auch wenn taz.gazete jetzt endet, die
       Kämpfe gehen weiter.
       
       Wir danken unseren Kolleg*innen in der Türkei, unseren Leser*innen und
       Spender*innen, Konny Gellenbeck, der taz und der taz Panter Stiftung für
       ihre Unterstützung, der ersten Projektleiterin Fatma Aydemir, dem
       Ideengeber Martin Kaul, Ebru Taşdemir und dem gesamten Team sowie unseren
       Übersetzer*innen. Hoşça kalın!
       
       taz.gazete 
       
       ## Elf Schritte Abschied
       
       Als ich vor zwei Jahren die Anfrage erhielt, ob ich eine Kolumne für die
       taz.gazete schreiben wolle, habe ich mich sehr gefreut. Entsprechend
       traurig machte mich die Bitte, eine Abschiedskolumne aus der Gefängnishaft
       zu verfassen, weil das türkischsprachige Angebot der taz eingestellt wird.
       Was Abschied, was ein letzter Artikel, für einen gefangenen Journalisten
       bedeutet, ist schwer in Worte zu fassen. Jetzt gerade, während ich mich zum
       täglichen Ausgang in einem Hof befinde, in dem ich genau elf Schritte hin
       und elf Schritte her tun kann, über Abschied nachzudenken, tut ziemlich
       weh. Es geht dabei weniger um Abschiedsschmerz oder die Leere, in die ein
       Mensch stürzt, der seine Arbeit verliert. Es geht darum, ein Beatmungsgerät
       zu verlieren in einem Land, in dem nicht etwa das Virus, sondern der
       Journalismus behandelt wird wie ein Krankheitserreger.
       
       Als die taz.gazete mir in solidarischer Absicht anbot, regelmäßig für sie
       zu schreiben, im Mai 2018, da hatte ich gerade 750 Tage in Haft hinter mir.
       Ich schrieb mit Kugelschreiber, und um ein erstes Feedback zu bekommen,
       warf ich die Blätter über Mauern und Stacheldraht in Nachbarzellen, damit
       die dortigen Insassen sie lesen und kommentieren konnten. Mit der Zeit
       bekam ich Briefe aus verschiedenen Ländern Europas, die mich ermutigten.
       Meine Angehörigen, meine Anwält*innen, ehemalige Haftgenoss*innen, die
       freigekommen waren, und anonyme Brieftauben halfen mir dabei, die Artikel
       nach Deutschland zu bringen und immer musste ich bei der Themen- und
       Wortwahl strengstens darauf achten, nichts zu schreiben, was die
       Anstaltsleitung für „bedenklich“ befinden und stoppen würde. Für mich
       bedeutet Journalismus in erster Linie, Stimme und Atem derjenigen zu sein,
       die sprichwörtlich kein Kissen haben, auf das sie ihren Kopf legen können.
       Taz.gazete war mir ein Kissen und ein donnerndes Sprachrohr. Sie half mir,
       die Hoffnung lebendig zu halten, dass ein politisch kontrolliertes
       Justizsystem nicht über unser Schicksal bestimmen kann. Nehmen Sie das
       nicht auf die leichte Schulter. Hoffnung ist im Knast wichtiger als Brot
       und Wasser.
       
       Ich möchte mich bei der taz-Familie und unseren Leser*innen bedanken für
       die wichtigste Unterstützung, die ich erfahren habe und hätte erfahren
       können. Ich wünsche Ihnen und euch alles Liebe und alles Gute. An euch geht
       weniger mein höfliches Dankeschön, als meine dankbare Anerkennung, dass ihr
       da wart. Ihr werdet mir fehlen. Ich verbleibe in Hoffnung und Widerstand.
       
       Nedim Türfent 
       
       Aus dem Türkischen von Oliver Kontny 
       
       ## Die Schwierigkeit und Schönheit der Übersetzung
       
       taz.gazete war ein Projekt über Sprach- und Ländergrenzen hinweg. In zwei
       Sprachen aus zwei Ländern zu arbeiten war herausfordernd und schön. Vor
       allem aber war es viel Arbeit. Es bedeutete, dass eine Idee in
       verschiedenen Aggregatszuständen von Berlin nach Istanbul, Ankara oder
       Diyarbakır reiste und zurück. Dann begann das Ringen um die Wörter und die
       Halbsätze. Denn die Übersetzung erschöpft sich nicht im Blick ins
       Wörterbuch. Am Ende klafft immer eine Lücke. Und darin liegt die Schönheit.
       Es gibt semantische Verschiebungen und erklärungsbedürftige Begriffe, die
       im Deutschen leere Signifikanten sind, die ohne Kontextwissen nichts
       bezeichnen.
       
       Als Nicht-Muttersprachlerin, die erst mit Anfang 20 Türkisch gelernt hat,
       hat mich diese Lücke immer fasziniert, denn in ihr tat sich eine neue Welt
       der Bedeutungen auf. Manches kann man in einer Sprache mit nur einem Wort
       ausdrücken, in der anderen gibt es kein Wort dafür, zum Beispiel Fernweh
       oder kolay gelsin (am ehesten: Frohes Schaffen). Bei anderen Wörtern geht
       die Bedeutungstiefe in der Übersetzung verloren oder der Klang. Im
       Türkischen muss niemand erklären, was der 12. September bedeutet. Das
       türkische Wort mücadele ist politisch links konnotiert und taucht in jedem
       Text über die politischen Kämpfe von Frauen, Gewerkschaften und LGBTI auf.
       Das deutsche Äquivalent Kampf verwenden wir ungern im Singular.
       
       Das mag trivial klingen, ist es aber nicht. Das Nachdenken über die
       Bedeutung von Wörtern in zwei Sprachen weitet den Blickwinkel. Das richtige
       Wort zu finden ist politisch. Wer übersetzt, weiß, dass es immer mindestens
       zwei Perspektiven gibt. Und hinterfragt, was schnell über die Lippen kommt.
       Das Redigat warf unzählige Fragen auf. Was verstehen die Leser*innen, was
       nicht? Was weiß die gazete-Redaktion in Berlin über die Atmosphäre in der
       Türkei? Welche Rolle nehmen wir als Redakteur*innen ein? Die
       Auseinandersetzung mit den Texten zeigte, dass es nicht nur eine gültige
       Form von Journalismus gibt und dass Berichterstattung wesentlich von
       Arbeitsbedingungen geprägt wird. Und die waren in der Türkei fundamental
       andere als in unserem bequemen Büro in Berlin.
       
       taz.gazete wollte solidarisch mit den Kolleg*innen in der Türkei sein,
       kritischen Stimmen Raum geben und neue Perspektiven auf die politischen und
       gesellschaftlichen Ereignisse zwischen Deutschland und der Türkei eröffnen.
       Ich glaube, in den besten Momenten ist uns das gelungen, in anderen sind
       wir daran gescheitert. gazete war ein Experiment, bei dem ich viel gelernt
       habe – gerade auch im Scheitern. Das lag an einem diskussionsfreudigen und
       stets solidarischen Team und an Kolleg*innen in der Türkei, vor deren
       Arbeit ich großen Respekt habe. Was von gazete bleibt, ist, dass wir für
       eine Zeitlang einen kleinen Unterschied gemacht haben. Zumindest hoffe ich
       das.
       
       Elisabeth Kimmerle 
       
       ## Die Zukunft des Journalismus ist transnational
       
       Vor ein paar Wochen haben in Wien türkeistämmige Rechtsextreme ein linkes
       Kulturzentrum angegriffen. Zum Glück waren die Türen des
       Ernst-Kirchweger-Hauses gut verriegelt. Schlimmeres konnte verhindert
       werden. Zuvor hatten jene Rechtsextremen eine Demonstration von
       kurdischstämmigen und anderen Linken angegriffen.
       
       In den Tagen danach waren österreichische Zeitungen voll mit Texten über
       einen „Türken-Kurden-Konflikt“. Nicht nur der Boulevard blieb der Idee
       verhaftet, dass dieser Gewaltausbruch im migrantischen Bezirk Favoriten
       seine Ursprünge allein in der Türkei, nicht aber in Österreich habe.
       Wien-Favoriten wurde zum Symbol eines importierten Konflikts. Was für ein
       Denkfehler.
       
       Nachdem die Leitartikel und Reportagen gedruckt waren, meldete sich der
       Wiener Politologe Ilker Ataç mit einer [1][Analyse zu Wort]. Sein Argument:
       Weil wir Politik in einer vernetzten, mobilen, transnationalen Welt immer
       noch national denken, schaffen wir es nicht, zu verstehen, was wirklich
       passiert ist. Nicht nur waren an den Auseinandersetzungen ohnehin in
       Österreich geborene Menschen beteiligt. Der „Türken-Kurden-Konflikt“ hat
       seine Wurzeln auch in einer jahrzehntelangen autoritären Haltung eines
       türkischen Staates, der Teil einer politisch-ökonomischen Weltgemeinschaft
       ist; und der auch deshalb in Wien ausbricht, weil europäische Staaten diese
       Haltung seit jeher tolerieren, um eigene Interessen zu sichern. Auch
       Österreich. Auch Deutschland.
       
       Was hat das alles mit taz.gazete zu tun? Sehr viel. taz.gazete hat genau
       das gemacht, was Ataç vermisst: Politik nie als rein „türkische“ oder
       „deutsche“ Politik begriffen, sondern in transnationalen Zusammenhängen
       gedacht, diskutiert, berichtet: das europäisch-türkische
       Flüchtlingsabkommen und das damit gefestigte Grenzregime; der neue
       Istanbuler Flughafen, auf dem auch deutsche Unternehmen mit großen Profiten
       mitmischen; Parlamentswahlen in beiden Staaten, vor denen mit
       diplomatischen Eskalationen mobilisiert wurde; ein Putschversuch in der
       Türkei und der darauffolgende Exodus nach Deutschland; oder der Rassismus,
       der immer noch die Lebensrealität derer prägt, deren Eltern einst als
       Gastarbeiter:innen nach Deutschland kamen.
       
       Gewissermaßen hat taz.gazete damit einen Vorgeschmack auf den Journalismus
       der Zukunft gegeben, von dem immer alle reden. Denn dieser wird nicht nur
       digital, sondern auch transnational, vielleicht postnational. Nicht weil
       sich das cool anhört. Sondern weil das Nationale an Bedeutung verliert. So
       hat sich taz.gazete eingereiht in die Geschichte reger migrantischer
       Publikation in Deutschland. Und wie viele andere vor ihr findet nun auch
       taz.gazete ein Ende. Möglicherweise waren wir der Zeit einfach ein bisschen
       voraus. Möglicherweise werden wir noch ein paar weitere Jahre von
       importierten Konflikten lesen.
       
       Volkan Ağar 
       
       ## Ein kurzer Atemzug
       
       „In Berlin hat niemand einen richtigen Job.“ Ich war verblüfft, als ich
       diesen Satz von einer Person aus Istanbul hörte. So sieht das also von
       außen aus. Dabei ist es für Menschen mit türkischem Pass ziemlich
       unmöglich, in Deutschland auch nur zu atmen, ohne „richtig“ zu arbeiten.
       Wer nicht per Familienzusammenführung gekommen ist, hängt mit seiner
       gesamten Existenz an der Erwerbstätigkeit. Migrant*innen sind so viel wert,
       wie sie dem Staat an Einnahmen bringen. Wer Steuern zahlt, lieb und brav
       ist, weder straffällig wird noch mit dem rassistischen Chef streitet und
       seinen Job verliert, bekommt die Aufenthaltserlaubnis um ein Jahr
       verlängert. Bei der Verlängerung muss man mit einer Reihe von Fragen
       rechnen. Eine Gehaltsabrechnung ist vorzulegen, aber ist das nicht etwas
       wenig, Frau Tetik? Also, ich hab noch nie einen Journalisten gesehen, der
       so wenig verdient wie Sie, haha.
       
       Ein Arbeitsvertrag ist für eine Migrantin in Deutschland zugleich ein
       Nachweis über Abschiebehindernisse. Im Zweifelsfall ist er das einzige
       Dokument, das verhindern kann, dass dich jemand aus dem Leben herausreißt,
       das du dir aufzubauen versuchst. Mobbing am Arbeitsplatz? Lieber nicht
       wehren, es gibt viele andere Migrant*innen, die gerne deine Stelle
       hätten. Rassismus erlebt? Lächeln und durch. Du bist in einer überwiegend
       männlichen Abteilung und wirst andauernd belästigt? In der
       Personalabteilung wird man dein Deutsch nicht verstehen oder zumindest so
       tun, als ob, also beschwer dich lieber erst gar nicht. Sei frustriert, aber
       mach dir nichts draus. Egal. Hauptsache, du hast deinen Vertrag.
       
       Migrant*innen machen nicht die Arbeit, die sie mögen, sondern den Job, den
       sie kriegen. Für Menschen, deren Muttersprache Türkisch und deren Beruf das
       Schreiben ist, sind selbst in einer Stadt wie Berlin die
       Arbeitsmöglichkeiten sehr beschränkt. Für Journalist*innen,
       Wissenschaftler*innen und Autor*innen, die aus der Türkei fliehen
       mussten, ist es kaum möglich, hier ihren Lebensunterhalt mit Texten auf
       Türkisch zu verdienen.
       
       Deshalb war es eine Überraschung und ein Privileg, dass sich mein Weg mit
       dem der taz.gazete kreuzte. gazete war ein Projekt, das in einem Land mit
       so vielen Migrant*innen wahrscheinlich längst überfällig war. Für ein von
       Anfang an befristetes Projekt lief es sogar ziemlich lange. Aber wenn man
       sich den bestehenden Bedarf anschaut, war es nicht mehr als ein kurzer
       Atemzug. Einen Atemzug lang hat taz.gazete für viele Menschen, die von
       Deutschland oder von der Türkei aus weiter sprechen, weiter schreiben,
       weiter erklären wollten, einen Raum eröffnet. Es gab Platz für Frauen und
       LGBTI+, die als eigenständige Subjekte für sich selbst sprechen konnten.
       Hier war ich Teil einer Arbeit, die ich mochte, nicht nur einer, die ich
       kriegen konnte. Dieses Privileg konnte mir Deutschland nicht nehmen. Es
       gibt nämlich Dinge, die sind größer und wichtiger als ein Vertrag.
       
       Burçin Tetik 
       
       Aus dem Türkischen von Oliver Kontny
       
       ## Wer schreibt worüber?
       
       Die Situation der Pressefreiheit in der Türkei war seit jeher schwierig.
       Nach dem Putschversuch 2016 spitzte sich die Lage für regierungskritische
       Journalist*innen erneut zu. Viele migrierten nach Deutschland, und zum
       Jahreswechsel 2017 entstanden mehrere deutsch-türkische Nachrichtenportale.
       Als Journalistin verfolgte die Autorin dieses Textes wie andere
       Medienschaffende mit familiären Wurzeln in der Türkei besonders seit den
       Gezi-Protesten 2013 die politischen Ereignisse in dem Urlaubsland an der
       EU-Grenze. So brauchte es keine große Überzeugungsarbeit, als die
       Ideenmutter des Projektes, Fatma Aydemir, mich anfragte, an diesem
       bilingualen Experiment mitzuarbeiten.
       
       Die zwei Jahre bei gazete waren eine aufregende Zeit. Noch nie war
       redaktionelle Arbeit so empowernd, aber auch so herausfordernd. Von der
       anfangs mehrheitlich weiblichen Zusammensetzung des Teams über die
       alternative Themenwahl zur immerwährenden redaktionellen Aufgabe der
       kulturellen Übersetzung – in jeglicher Hinsicht war gazete das Gegenteil
       von allem, was Redakteur*innen aus weißen deutschen Mehrheitsredaktionen
       kennen. Sich im Team über die Tweets von wütenden AKP-Politikern zu
       amüsieren, ohne umständlich übersetzen zu müssen, war befreiend. Umso
       beklemmender, wenn wir intern und extern die selten subtile
       Erwartungshaltung an eine „Türkenredaktion“ diskutieren und folkloristische
       Klischeethemen abmoderieren mussten.
       
       Eine der interessantesten Erfahrungen war aber, dass Machtstrukturen und
       Privilegien immer gleich funktionieren. Während in Berlin die
       gazete-Redaktion Metadiskussionen über strukturellen Rassismus führte und
       sich über die Feinheiten von Übersetzung und Redigat kloppte, berichteten
       Kolleg*innen von Istanbul bis Kurdistan unter Lebensgefahr, zumindest aber
       unter drohendem Freiheitsentzug über Repressionen und
       Menschenrechtsverletzungen.
       
       Die Erfahrung, plötzlich privilegiert und deutsch gelesen zu werden,
       ausgedrückt im vermeintlichen Kompliment „Du sprichst aber gut x“ sowie dem
       Vater aller rassistischen Fragen, „Wo kommst du her“, nun auch vonseiten
       der weißen türkischen Mehrheitsgesellschaft (das hartnäckige Klischee der
       ungebildeten anatolischen Bauern und ihrer Nachkommen hält sich nicht nur
       in Deutschland), kann irritieren. Es schärft aber auch den Blick für andere
       Debatten.
       
       Die Diskussion darüber, wer wie warum worüber schreibt, ist ein dauerhaftes
       Reizthema. Projekte wie gazete zeigen, dass der Anspruch vermeintlicher
       journalistischer Objektivität frei von Erfahrungen und politischer Haltung
       ein Ammenmärchen ist, das vor allem die besonders Privilegierten unter uns
       sich erzählen. Kein*e Journalist*in ist im luftleeren Raum geboren. Wer
       atmet und denkt, hat eine Haltung. Im Idealfall weiß mensch, welche.
       Journalismus braucht Haltung. Solidarität ist eine Haltung. gazete ist
       Solidarität.
       
       Canset İçpınar 
       
       ## Die Zeit ist um
       
       Im Sommer 2016 lernte ich in einer Bar in Beşiktaş Deniz Yücel kennen. Ich
       erzählte ihm von meinen Plänen, zwei Monate als Gastjournalist bei der taz
       zu arbeiten, und er riet mir, mich weder still in eine Ecke zu setzen noch
       mit der Tür ins Haus zu fallen. Aus den zwei Monaten sind vier Jahre
       geworden und ich hab es nicht geschafft, mich an diese Empfehlungen zu
       halten.
       
       Am 4. Oktober 2016 war mein erster Arbeitstag bei der taz. Zur Begrüßung
       sollte ich direkt einen Kommentar zu zehn Jahren Wikileaks schreiben. So
       richtige Ahnung hatte ich weder vom Thema noch vom Format, und entsprechend
       kritzelte ich mir etwas zusammen. Am ersten Arbeitstag. Was für ein
       Privileg. In jedem Fall war schon mal klar, dass ich nicht still in einer
       Ecke sitzen würde. Ich konnte es kaum glauben, als ich am nächsten Morgen
       meinen Namen auf der Titelseite erblickte.
       
       In der Türkei hingegen wurde die Lage sehr schnell sehr beschissen. Das
       ging mit einem riesigen Interesse an Nachrichten aus dem Land einher. Ganz
       Deutschland schien seine Augen auf die Türkei gerichtet zu haben. Was hatte
       Erdoğan vor? Wohin entwickelte sich das Land? Im November wurden meine
       Kolleg*innen von der Tageszeitung Cumhuriyet, bei der ich in Istanbul
       gearbeitet hatte, festgenommen. Daraufhin initiierte die taz Panter
       Stiftung ein Projekt zur Unterstützung der Pressefreiheit in der Türkei. So
       kam es zur Gründung von taz.gazete.
       
       Während die Türkei sprichwörtlich täglich von neuen politischen Ereignissen
       erschüttert wurde, fand ich mich in Berlin in der Position des
       „Türkeiexperten“ wieder. Ich schrieb Artikel und Kommentare und saß auf
       Panels, um die Lage in der Türkei für ein deutschsprachiges Publikum zu
       bewerten. Dabei lernte ich mein journalistisches Handwerkszeug noch einmal
       von Neuem. Da mir die Sprache und die gesellschaftlichen Dynamiken
       Deutschlands sowie der Redaktionsalltag und der journalistische Stil
       deutscher Medien fremd waren, war der Glaube daran, dass wir hier etwas
       Gutes und Richtiges machten, umso wichtiger, um die unvermeidlichen Mängel
       auszugleichen. Ich war schließlich nicht alleine: Wir waren ein gutes Team
       bei gazete und wir machten unsere Arbeit gerne. Fast täglich fragte die
       Printredaktion bei uns einen Artikel an. Bis ins erste Halbjahr 2018
       schlitterten wir so mit viel Elan und Freude.
       
       Der Juni 2018 war für uns ein Wendepunkt. Das war kurz vor den
       Präsidentschaftswahlen, die nicht nur für die Demokratie in der Türkei,
       sondern auch für das öffentliche deutsche Interesse der Sargnagel werden
       sollten. Wir bemühten uns, mit allen Kandidatinnen und Kandidaten
       Interviews zu machen, und das führte zu einem Konflikt mit dem erfahrenen
       Türkeikorrespondenten der taz. Die Folgen waren für uns verheerend. Es
       wurde deutlich, dass wir nie wirklich ein Teil der taz gewesen waren.
       
       Zwar hatten wir über eineinhalb Jahre hinweg mit Hunderten von Artikeln zu
       einer tieferen Türkeiberichterstattung der taz beigetragen, doch plötzlich
       wurde uns klargemacht, dass wir ein Satellitenprojekt waren, das kaum
       jemanden im Haus so richtig interessiert. Und die Türkei lag jetzt in der
       Schublade der autokratischen Länder neben Russland und China. Da brauchte
       es auch keine besondere Aufmerksamkeit oder spezielle Themenschwerpunkte
       mehr. Unsere Telefone klingelten nicht mehr. Unsere E-Mails blieben
       unbeantwortet. Wenn wir uns besonders bemühten, einen Artikel in der
       Printausgabe unterzubringen, dann führte das zu neuen und aufreibenden
       Konflikten. Jede neue Diskussion machte uns klarer, in welcher Position wir
       uns befanden: Unser Zeitkonto war aufgebraucht. Wir hatten wie ein
       Subunternehmer gearbeitet, und jetzt war der Vertrag abgelaufen.
       
       Wie Gespenster liefen wir über die Korridore. Schweigend saßen wir an
       unseren Arbeitsplätzen und arbeiteten an Themen, die niemand zu sehen
       bekam. Trotzdem gab es keinen Tag, an dem ich morgens nicht gern zur Arbeit
       gekommen wäre. Denn unser Daseinsgrund war die Arbeit mit den
       Journalist*innen in der Türkei, und darauf konzentrierten wir uns.
       
       Natürlich hatten auch wir unseren Teil zu der Entfremdung beigetragen. Die
       Erkenntnis, dass unsere Arbeit nicht wertgeschätzt wurde, war ermüdend, und
       so ganz geht mir der Satz nicht über die Lippen, dass wir immer unser
       Bestes gegeben haben. Aber wir haben gern miteinander gearbeitet. Und wir
       waren überzeugt, dass unsere Arbeit wichtig ist. Wir haben mit tollen
       Menschen zusammengearbeitet. Wir haben einander unterstützt und voneinander
       gelernt. Deshalb weiß ich jetzt schon, dass ich im Rückblick kaum etwas als
       Dankbarkeit spüren werde, dass es dieses Projekt gab und dass ich an ihm
       mitarbeiten durfte.
       
       Ali Çelikkan 
       
       Aus dem Türkischen von Oliver Kontny 
       
       ## Berlin statt Toronto
       
       2016 war für mich ein sehr schweres Jahr in Istanbul. Ich hatte kein Geld
       und keine Arbeit, dafür viel Angst und sorgte mich um meine Sicherheit.
       Nach dem Putschversuch war das Leben für mich als oppositionelle
       Journalistin immer schwerer geworden. Also wollte ich Istanbul verlassen
       und nach Kanada gehen. Eine Kollegin wollte mir helfen, aus dem Land zu
       kommen. Da schlug die in Deutschland lebende feministische Journalistin
       Sibel Schick mich für das zweisprachige Medienprojekt taz.gazete vor. Als
       mich dann die damals federführende feministische Journalistin Fatma Aydemir
       anrief und fragte: „Willst du für uns arbeiten?“, habe ich, ohne zu zögern,
       zugesagt. Alles ist Kismet, und so bin ich statt in Toronto in Berlin
       gelandet.
       
       Ich habe mich für Berlin entschieden, weil ich die Möglichkeit bekommen
       sollte, an einem großen Medienprojekt mitzuarbeiten. taz.gazete war für
       mich eine gute Gelegenheit, die deutsche Medienbranche kennenzulernen und
       meine journalistischen Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Und ich habe viele
       bezaubernde Menschen kennengelernt. Drei wunderbare Frauen, mit denen ich
       bei taz.gazete gearbeitet habe, haben mich persönlich sehr weitergebracht:
       Fatma, Elisabeth und Ebru. Ihnen verdanke ich unglaublich viel.
       
       Aber es gibt natürlich auch Sachen, die mich geärgert haben. Die anderen
       Personen, die in der türkischen Redaktion arbeiten, hätten auch mir eine
       feste Stelle schaffen können. Das hat leider nie geklappt. Immer war ich
       die, die regelmäßig Artikel von außen geschickt hat. Wenn ich einen Vertrag
       bekommen hätte, wäre vielleicht alles ganz anders gekommen. Vielleicht wäre
       mir viel Leid erspart geblieben. Aber so wollte es das Schicksal
       anscheinend. Zuallerletzt will ich noch allen taz.gazete-Leser*innen aus
       tiefstem Herzen danken. Trotz des bitteren Beigeschmacks der letzten
       Seiten von taz.gazete sende ich Ihnen die liebsten Grüße. Leben Sie wohl.
       
       Michelle Demischevich 
       
       Übersetzung: Julia Lauenstein 
       
       ## Das verstehen die Deutschen nicht
       
       In der Zeit, in der ich für taz.gazete berichtet habe, bekam ich aus der
       Redaktion in Berlin einen Satz besonders häufig zu hören: „Das verstehen
       die Deutschen nicht.“ Das ist regelrecht zum Motto unserer Arbeit geworden.
       Bei jeder Zeile meiner Texte habe ich mich gefragt: „Ist das wohl auch
       unverständlich?“ Es war ziemlich nervenraubend, jeden Satz, den ich
       geschrieben hatte, in einem weiteren Absatz erklären zu müssen. So war es
       auch nie leicht, zum eigentlichen Punkt zu gelangen und gleichzeitig die
       vorgegebene Textlänge einzuhalten. Während man in der Türkei einfach
       „FETÖ-Prozess“ schreiben kann, muss man hier den Zusammenhang mit dem
       Putschversuch am 15. Juli 2016 und die verschiedenen Bündnisse der AKP der
       letzten Jahrzehnte erklären. Diese Umständlichkeit, die mich am Anfang so
       genervt hat, hat mir jedoch geholfen, einen anderen Blickwinkel zu
       gewinnen. Während es für mich ganz normal erschien, „Istanbul-Konvention“
       oder „Paragraf 6284“ zu schreiben, ist mir beim genaueren Erläutern
       aufgefallen, wie wichtig diese Erklärungen sind, die dafür gedacht waren,
       dass „die Deutschen es verstehen“.
       
       Wenn ich über gesellschaftliche Traumata wie das der Cumartesi Anneleri
       (Samstagsmütter) geschrieben habe, habe ich bemerkt, wie dieser Schmerz in
       der Gewaltspirale zur Normalität wird. Mir ist bewusst geworden, wie leicht
       wir in einer Gesellschaft, in der jeder Begriff und jede Idee politisch so
       aufgeladen ist, beim Sprechen und Schreiben viele Sachen hinnehmen, ohne
       das Gemeinte wirklich zu begreifen.
       
       In dieser Hinsicht war die Arbeit für taz.gazete eine einzigartige
       Erfahrung. Sie hat uns geholfen von unseren Problemen und Krisen zu
       berichten, wie es ihnen gebührt. Und weil es noch so viele Geschichten
       gibt, die erzählt werden wollen, ist der Abschied schwierig. Ich wünsche
       allen tazler*innen, die Sprachrohr unserer Probleme geworden sind, alles
       Gute.
       
       Elif Akgül 
       
       Übersetzung: Julia Lauenstein 
       
       ## Andere Stimmen aus der Türkei
       
       Durch taz.gazete bin ich Teil einer Reise zwischen Berlin und Istanbul
       geworden. Die gemeinsamen zwei Monate in Berlin haben mir die Mühe gezeigt,
       die nötig ist, um Nachrichten aus der Türkei in Deutschland verständlich zu
       machen. Als ich nach Istanbul zurückgekehrt bin und auch eine „arbeitslose“
       Journalistin wurde, konnte ich auf taz.gazete weiterhin meine Artikel
       veröffentlichen. Das Projekt war wichtig, weil es solidarisch mit
       Journalist*innen aus der Türkei war und einen Raum schuf, in dem sie sich
       frei äußern konnten. Außerdem denke ich, dass gazete dazu beigetragen hat,
       dass in Deutschland andere Stimmen aus der Türkei gehört wurden. In einer
       Zeit, in der von Pressefreiheit keine Rede sein kann und sich die
       Arbeitsbedingungen von Journalist*innen weiter verschlechtern, ist dieser
       Abschied besonders traurig. Denn gerade jetzt sind Plattformen wie
       taz.gazete unglaublich wichtig. Ich danke dem ganzen taz.gazete-Team für
       seine Arbeit. Viel Glück euch allen.
       
       Beyza Kural 
       
       Übersetzung: Julia Lauenstein 
       
       ##
       
       31 Jul 2020
       
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