URI: 
       # taz.de -- Debatte Entfremdung bei Marx: Im Unbewussten verewigt
       
       > Entfremdung ist der Soundtrack der coolen Jugend. Aber auch
       > Erlösungsprediger quatschen von Entfremdung. Und was sagt Marx?
       
   IMG Bild: Bei Marx kommt Entfremdung aus dem Verhältnis zur Arbeit: Arbeiterinnen produzieren Spielzeug
       
       Jede Liebe zu Karl Marx beginnt mit der Entfremdung. Man findet sie wie ein
       trauriges Liebeslied immer dann, wenn man sowieso gerade ziemlich weit
       unten ist und noch weiter runtermuss, das Elend also steigert, um sich
       daran wiederaufzurichten. Die Entfremdung ist so etwas wie der Soundtrack
       jeder coolen Jugend. Wie das Liebeslied macht sie ein
       Identifikationsangebot. Dabei grenzt es an ein Wunder, dass dieses Angebot
       überhaupt funktioniert. Schließlich bedeutet „ent-fremden“ eigentlich
       „heimisch werden“, und dennoch besteht nie auch nur der geringste Zweifel,
       dass das Gegenteil gemeint ist.
       
       Was also soll schlecht sein an der Entfremdung außer der Entfremdung
       selbst? Wie eine Jugendliebe vermodert sie irgendwann, aber verewigt sich
       im Unbewussten. In den abwegigsten Momenten dient sie plötzlich wieder als
       Trostpflaster und als Fluchtpunkt, an dem man reale Probleme rein imaginär
       behandeln kann. Wie eine Jugendliebe ist sie radikal, es geht um alles oder
       nichts, weil ihr Idealismus das Maximalprinzip sucht.
       
       Entfremdung hat viele Gesichter: Zerrissenheit, Selbstverlust,
       Überforderung, Vereinzelung, Authentizitätsverlust, Abstraktion und
       Versachlichung werden gern unter den Entfremdungsbegriff subsumiert. Bei
       Marx kommt die Entfremdung ganz konkret aus dem Verhältnis zur Arbeit.
       Dennoch hat jedes Sprechen von Entfremdung, ob sozialphilosophisch oder
       sozialpsychologisch oder sozialanthropologisch, dieselben Prämissen: Es
       setzt einen Zustand voraus, der als nicht entfremdet gilt und in dem das
       Subjekt vollständig über sich verfügen kann.
       
       ## Es gibt keinen naturhaften, wahren Kern
       
       Entfremdung ist immer Entfremdung von etwas, von einem vorgelagerten
       Zustand, einem irgendwie Naturhaften, das von gesellschaftlichen oder
       ökonomischen Faktoren verschleiert oder entstellt worden ist. Diese
       Faktoren sollen folglich bekämpft werden, um zum ursprünglichen Wesen oder
       zur Essenz des Subjekts vorzudringen. Das Eigene soll vom Fremden befreit
       werden. Jedoch: Diesen naturhaften, wahren Kern gibt es nicht, weil es das
       Subjekt außerhalb der Gesellschaft nicht gibt, wie es auch kein Verhältnis
       zu sich selbst herstellen kann, das völlig außerhalb der gesellschaftlichen
       Machtverhältnisse stünde.
       
       Nur wenige Seiten sind es, auf denen Marx 1844 in seinen
       „Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten“ im Pariser Exil ausgehend von der
       Arbeit(-steilung) die vierfache Entfremdung des Menschen umreißt: als eine
       vom Produkt seiner Arbeit, von seiner eigenen Tätigkeit, von sich selbst
       sowie der Natur und von der eigenen Gattung. Er hat die Manuskripte nie
       veröffentlicht. Sie sind erstmals 1932 erschienen, Teile davon waren nur
       fragmentarisch erhalten. Man kann die Manuskripte als eine Art
       Selbstvergewisserung lesen, kurz bevor Marx sich, dann in London lebend,
       sowohl von den Junghegelianern wie auch den Frühsozialisten und dem
       deutschen Idealismus emanzipiert haben wird.
       
       Später wird er nicht mehr so direkt von Entfremdung schreiben. Das seinem
       Entfremdungsansatz zugrunde liegende Prinzip jedoch – dass der Mensch etwas
       erschafft, was außerhalb seiner selbst ein Eigenleben beginnt, nicht mehr
       unter seine Kontrolle gebracht werden kann und schließlich über ihn
       herrscht – kehrt auch im „Kapital“ wieder.
       
       ## Entfremdung und Vergegenständlichung
       
       Dort wird von Vergegenständlichung die Rede sein und von Charaktermasken,
       um den entfremdeten Menschen zu denunzieren, jedoch, und das ist ein
       Unterschied ums Ganze: Nicht mehr ein abstrakter Humanismus ist die Folie,
       sondern die wissenschaftliche Kritik der politischen Ökonomie und damit die
       Bewegungsgesetze des Kapitals.
       
       Am deutlichsten wird das wohl in einem berühmten Satz aus dem „Kapital“, in
       dem es heißt, in seiner Untersuchung handle „es sich um Personen nur,
       soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von
       bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen“.
       
       Doch warum konnte nun gerade der Entfremdungsbegriff des frühen Marx so
       wirkmächtig werden? Seine Hochzeit erlebte er nach dem Zweiten Weltkrieg
       und bis Ende der 1960er Jahre. Angesichts von Massenproduktion und
       Funktionalismus im Westen und den autoritären Entwicklungen im Osten war
       gerade der humanistische Aspekt des jungen Marx das passende Werkzeug der
       Kritik.
       
       Eine ganze Tradition kritischen Denkens dieser Zeit bezieht sich auf die
       „Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte“ und die Theorie der Entfremdung.
       Georg Lukács, Henri Lefèvre, Guy Debord, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse
       – sie alle gehen von einer Verallgemeinerung der Entfremdung in den
       gesellschaftlichen Verhältnissen aus.
       
       Die Entfremdungstheorie ist eine große Gleichmacherin. Ob Staat, Konsum,
       Sprache, wie ein Virus ergreift die Entfremdung alle Formen und
       Verhältnisse des gesellschaftlichen Lebens, alles gerät zum Ausdruck ein
       und desselben Prinzips. Ambivalenzen, Besonderheiten, Widerständigkeiten,
       Dissonanzen und Ungleichzeitigkeiten sind nicht ihre Sache.
       
       ## Renaissance des Begriffs „Entfremdung“
       
       Einiges deutet heute auf eine Renaissance des Begriffs im alltäglichen
       Sprachgebrauch hin. Man kann wieder häufiger Sätze lesen wie: „Steinmeier
       befürchtet gefährliche Entfremdung von Russland“ oder „Digitale Entfremdung
       – Wir bräuchten dringend mehr Dates mit uns selbst“.
       
       An welchem Punkt genau war eigentlich das deutsch-russische Verhältnis
       nicht entfremdet? Und wie trifft man sein Selbst am besten außerhalb des
       sogenannten digitalen Kapitalismus? Merkwürdig, beide Male kann einem der
       Luftschutzbunker als Antwort in den Sinn kommen. Obwohl es doch um völlig
       unterschiedliche Dinge geht.
       
       Selbstverwirklichungsesoteriker, Erlösungsprediger und
       Philosophendarsteller, die im Smartphone das Ende des Menschen ausmachen,
       sprechen noch immer gern von Entfremdung in einem allgemein moralischen
       Sinne. Und man kann sich nur wundern, wie die totale Entfremdung immer noch
       totalitärer werden kann – digitale Prothesen, Algorithmen und die
       künstliche Intelligenz bieten jedenfalls viele Gelegenheiten, sie
       auszurufen. Ob man sich eigentlich auch von der Entfremdung entfremden
       kann?
       
       Vermutlich würde Marx selbst, der sich bei jeder Gelegenheit über die
       Technikfeindlichkeit der romantischen Frühsozialisten lustig machte, heute
       das moralisierende Entfremdungsgequatsche den oben genannten Berufsgruppen
       überlassen. Oder, wer weiß, ob des gleichmachenden Fremdheitsexorzismus bei
       den Reinlichkeitsfanatikern gleich im atavistischen Heimatministerium
       ansiedeln. Womit wir in den tiefsten Untiefen der Entfremdungsidee
       angelangt sind, von der man Marx befreien muss.
       
       In diesem Sinne: Marx ist tot, es lebe Marx!
       
       12 May 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tania Martini
       
       ## TAGS
       
   DIR Karl Marx
   DIR Entfremdung
   DIR Arbeit
   DIR Theodor W. Adorno
   DIR Herbert Marcuse
   DIR Franz Kafka
   DIR Entfremdung
   DIR Politisches Buch
   DIR Kapitalismus
   DIR Kapitalismus
   DIR Der 200. Geburtstag von Marx
   DIR Trier
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Buch
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR 100. Todestag Franz Kafka: Wer hat Angst vor Kafka?
       
       Einspruch gegen die Welt erheben, ohne direkten Einspruch zu erheben, geht
       das denn? Über Franz Kafkas Werk wurde viel gestritten.
       
   DIR Entfremdung von der Heimat: Zorn war meine liebste Sünde
       
       Silvester 1969 begann unsere Autorin, mit ihrem Heimatdorf zu hadern. Sie
       hoffte noch, dass alles bliebe, wie es war. Doch es kam anders.
       
   DIR Jan Gerbers „Karl Marx in Paris“: Wie Marx zum Klassenkämpfer wurde
       
       Der Politikwissenschaftler Jan Gerber will Marx aus dem Trubel seiner Zeit
       heraus verstehen. Er hat ein Buch über die Jahre in Paris geschrieben.
       
   DIR Wandel der kapitalistischen Gesellschaft: „Kapitalismus schafft Differenzen“
       
       Das Erbe und die Reichen: Die Soziologen Luc Boltanski und Arnaud Esquerre
       analysieren eine neue Bereicherungsökonomie.
       
   DIR Doku über Kapitalismusfans: Das Prinzip Schwerkraft
       
       „System Error“ taucht ein in die Welt der Wachstumsbefürworter und
       Kapitalismusfans. Von Argumenten fehlt jede Spur.
       
   DIR Kolumne Leuchten der Menschheit: Gedichte des jungen Karl Marx
       
       Marx ist nicht Rimbaud. In den Gedichten vernehmen wir den Paukendonner und
       das Wellengebrause tiefster Romantik.
       
   DIR Karl-Marx-Ausstellung in Trier: Der Staatenlose
       
       Zum 200. Geburtstag würdigt die Stadt Trier Karl Marx in einer sehr
       gelungenen Ausstellung. Sie fächert die Epoche in ihrem sozialen Wandel
       auf.
       
   DIR Kleine Kapitalismus-Wortkunde: Schnell mal Marx verstehen
       
       Viele Begriffe von Marx gehören nun zur Alltagssprache. Wie waren sie
       gemeint? Eine Übersicht der wichtigsten Schlagworte.
       
   DIR Elf Bände von Wolfgang Pohrt: Wunderbar, dieses Kapital
       
       Er kritisierte den Antisemitismus der Linken und las zuletzt Marx gegen die
       Marxologen. Nun erscheinen die gesammelten Werke Wolfgang Pohrts.