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       # taz.de -- Debatte Europa und die EU: Die Schlafwandler halten Kurs
       
       > Politkitsch als Narrativ der Jugendhoffnung, liegengelassene Reformen,
       > Länder ohne Perspektive: „Europa“ zerlegt sich selbst.
       
   IMG Bild: Hallo? EU? Hallo, EU? Hallo, wach auf, EU. Du musst was tun
       
       Was wäre geschehen, wenn das britische Referendum andersherum ausgegangen
       wäre: 52 Prozent für Remain, 48 Prozent für Leave? EU-Parlamentspräsident
       Schulz hätte die sofortige Vollendung der Währungsunion gefordert, und
       Kommissionspräsident Juncker hätte mitgeteilt, dass das Freihandelsabkommen
       Ceta nur „Europa“ etwas angeht, nicht die nationalen Parlamente.
       
       Die Außenminister von Deutschland und Frankreich hätten den nächsten
       Schritt zur ever closer union among the peoples of Europe angekündigt, und
       Schulz hätte gefordert, den Augenblick zu nutzen, um die Europäische
       Kommission in eine vom Europäischen Parlament gewählte Regierung
       umzuwandeln.
       
       Wem das bekannt vorkommt, der sollte sich daran erinnern, dass Referenden
       in Europa noch nie etwas bedeutet haben; egal wie sie ausgehen, die
       Schlafwandler halten Kurs.
       
       Hätte bei einem Sieg der Remain-Fraktion irgendjemand daran erinnert, dass
       Gegenstand des Referendums ein längst abgespeckter Mitgliedsstatus war, mit
       nationalen Sonderrechten bei der Einwanderung? Dass ein Remain für ein Land
       gegolten hätte, das weder der Währungsunion noch Schengen angehört und in
       dem niemand im Traum daran denkt, das zu ändern?
       
       Natürlich nicht – so wenig, wie nach dem Sieg der Leavers gefragt wurde, um
       wie viel größer deren Vorsprung wohl gewesen wäre, wenn das volle Paket zur
       Abstimmung gestanden hätte: mit ever closer union und Euro.
       
       ## Entzug des Wahlrechts für die Generation Rollator
       
       Stattdessen Träume von einer zweiten Abstimmung, wie jedes Mal, wenn ein
       Referendum über „Europa“ danebengeht – abstimmen, immer wieder, bis das
       Ergebnis stimmt, ist eine Brüsseler Tradition. Kein Gedanke, was wohl
       passieren würde, wenn man tatsächlich ein zweites Referendum abhielte.
       Dafür Forderungen, Referenden über „Europa“ ganz abzuschaffen, als
       illegitime, weil zu riskante Willensäußerungen einer unterinformierten
       Bevölkerung.
       
       Und wenn das nicht gehen sollte, hilfsweise der Entzug des Wahlrechts für
       die Generation Rollator. Dazu die Remain-Demonstrationen der Londoner
       jeunesse dorée zur Bebilderung eines Europas der jugendlichen Herzen. Die
       Regierung wählt sich ihr Volk selber.
       
       Ich stelle mir vor, wie berichtet worden wäre, wenn 20.000 Anhänger von
       Hofer auf dem Heldenplatz in Wien die Wiederholung einer Präsidentenwahl
       gefordert hätten, die bei anderer Auszählung möglicherweise anders
       ausgegangen wäre: Herrschaft der Straße! „Europa“ muss eingreifen!, wie
       schon früher so erfolgreich bei Waldheim und Haider.
       
       ## Zwei Vorstellungen vom Staat
       
       Jetzt also soll es die Jugend richten. Als die AfD in Sachsen-Anhalt bei
       den 18- bis 24-Jährigen stärkste Partei wurde, während sie bei Wählern über
       70 am schlechtesten abschnitt, hat niemand die deutsch-nationalen
       Jungwähler dafür bedauert, dass die uneinsichtigen Alten ihnen ihre
       deutsch-nationale Zukunft geraubt hätten.
       
       In „Europa“ ist das anders. Auch wenn sie an der Abstimmung gar nicht
       teilgenommen haben: im Binnenmarkt zählen einzig die jungen Besitzer von
       marktgängigem Humankapital, einschließlich ihrer kosmopolitischen
       Muttersprache, die erwarten können, dass ihnen die Welt als grenzenloser
       globaler Arbeitsmarkt von Singapur bis Vancouver zu Füßen liegt.
       
       Wie die Arbeitslosen und Unterbeschäftigten in den abgekoppelten
       Verliererstädten Großbritanniens interessieren sie sich nicht für Politik –
       wenn auch aus anderen Gründen: die einen haben die Hoffnung auf einen Staat
       aufgegeben, wie sie ihn brauchen würden, die anderen brauchen keinen Staat
       außer einem, der ihnen den Weg freimacht, wo immer sie hinwollen.
       
       ## Die Brüsseler Entdemokratisierungsmaschine
       
       Auch wer von Europa nicht genug bekommen kann, kann zusammenzucken, wenn
       Brüsseler Funktionäre nach „mehr Europa“ verlangen. In Deutschland wird,
       wer Europa als Heimat von Europa als Regime unterscheiden möchte, von den
       „Europäern“ in Politik und Medien als „Anti-Europäer“ oder „Europa-Hasser“
       denunziert – obwohl es doch eine ureuropäische Idee ist, dass man seine
       Heimat lieben kann, ohne deshalb auch den Staat und das Personal lieben zu
       müssen, die sie regieren.
       
       Man kann verstehen, warum die Betreiber der Brüsseler
       Entdemokratisierungsmaschine den Unterschied zwischen Land und Staat,
       zwischen Identität und Institution vergessen machen wollen: um den Gedanken
       undenkbar zu machen, dass es „europäische“ Institutionen geben könnte,
       allen voran die Währungsunion, die so schlecht konstruiert sind, dass sie
       Europa als friedliche Einheit gemeinsam produzierter Vielfalt ruinieren
       werden, wenn sie nicht radikal ab- oder umgebaut werden.
       
       Es sind, vielleicht nicht überraschend, gerade die Kulturschaffenden und
       besonders die deutschen, die sich als Verstärker der PR-Rhetorik der
       Brüsseler Technokratie einspannen lassen. Navid Kermani, ein
       Schriftsteller, den man mögen kann, zitiert in der FAZ beeindruckt seine
       17-jährige Tochter, die auf ihrer Facebook-Seite durch den britischen
       Austritt „unsere Zukunft“ gefährdet und „die jungen Europäer, … die morgen
       mit den Konsequenzen der Entscheidungen von heute leben müssen“,
       aufgefordert sieht, zu „kämpfen“, um „das zu bewahren, womit wir
       großgeworden sind“.
       
       Hätte der Vater seine Tochter nicht besser zu einem Ausflug nach Spanien,
       Griechenland oder Italien einladen und ihr eine kleine Auswahl der Orte
       zeigen sollen, denen die Währungsunion seit Jahren das Blut aussaugt, zum
       Wohle der deutschen Exportindustrie und des deutschen Arbeitsmarkts, in den
       die von dort stammenden „jungen Europäer“ auswandern müssen, weil ihnen
       „Europa“ in ihrem Land keine Perspektive lässt?
       
       ## An Politkitsch grenzende „Narrative“
       
       Kermani und andere ersparen es mit ihren oft an Politkitsch grenzenden
       „Narrativen“ den europäischen Bürokratien und Regierungen, sich über den
       nächsten Gipfel hinaus mit dem in Gang befindlichen Kollaps ihres
       Superstaatsprojekts befassen und den Widerstand der europäischen Völker
       gegen seine Fortsetzung ernstnehmen zu müssen.
       
       Die Hoffnung der Hauptstädte ist, die sich machtvoll stellenden Fragen nach
       dem Ziel der Integration verdrängen zu können, bis sie sich irgendwie von
       selber erledigen – nach der Staatlichkeit der Union, ihren Grenzen, der
       Autonomie ihrer Mitgliedstaaten nach innen und außen, dem Ausmaß der zu
       erstrebenden Zentralisierung und der genauen Bedeutung von „Subsidiarität“,
       der zunehmenden Ungleichheit in dem von Deutschland beherrschten
       europäischen Wirtschaftsraum, den Folgen des Binnenmarktes für die ihm
       angeschlossenen Gesellschaften, den Möglichkeiten und Grenzen europäischer
       Demokratie und europäischer Öffentlichkeit – und der möglichen und nötigen
       Anpassung, lokal, regional, national und europäisch, an die sogenannte
       Globalisierung.
       
       Die Agenda ist riesig und wird seit Jahrzehnten auch deshalb liegen
       gelassen, weil sich so die Marktkräfte ungehinderter durchsetzen können.
       Umso heftiger brechen sich die ihr unterliegenden Fragen heute Bahn, gegen
       den Widerstand der Regierungen, die lange darauf spekuliert haben, sie
       durch Abtretung an „populistische“ Parteien und Bewegungen zu
       diskreditieren. Diese Strategie ist spätestens mit dem Brexit gescheitert;
       statt dass die Fragen verschwinden, wachsen die Parteien, denen man sie
       überlassen hat.
       
       ## Raus ist raus, kurzer Prozess
       
       Der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union ist der bislang
       spektakulärste Ausbruch einer Krise des europäischen Institutionensystems,
       die wiederum nichts anderes ist als die lokale Manifestation der Krise des
       internationalen Staatensystems infolge der „Globalisierung“ der
       wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Zur „europäischen“
       Propaganda gehören Versuche, die Bedeutung des Austrittsvotums unter
       Verweis auf die Skurrilitäten und Verantwortungslosigkeiten der britischen
       Politik kleinzureden. Aber Skurrilitäten und Verantwortungslosigkeiten
       sowie die Krise, die sie ans Licht bringt, gibt es überall.
       
       Brüssel drängt darauf, die Briten exemplarisch abzustrafen, damit andere
       Länder nicht auf ähnliche Ideen kommen: Raus ist raus, kurzer Prozess, und
       Assoziierung nur unter Schmerzen und Kosten. Auf keinen Fall darf die nun
       auszuhandelnde Assoziierung des britischen Staates jenem (weiter)
       reduzierten Mitgliedstatus ähneln, der mit den Briten nach einem
       Remain-Votum ohnehin auszuhandeln gewesen wäre – und dann für andere
       (Noch-)Mitgliedstaaten attraktiv würde, die immer nur so getan haben, als
       sei der Traum von einer gesamteuropäischen Regierung von Norwegen bis
       Sizilien auch der ihre.
       
       Im Interesse einer europäischen Einheit, die flexibel genug wäre, um sich
       nicht durch von ihr erzeugte Konflikte selber in die Luft zu sprechen, wäre
       zu hoffen, dass wenigstens diesmal reformerische Vernunft die Oberhand
       gewinnt.
       
       21 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Wolfgang Streeck
       
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