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       # taz.de -- Debatte Leitkultur: Barbaren sind die anderen
       
       > Das Konzept von Leitkultur beruht auf Überlegenheitsfantasien. Es wäre
       > besser, von Plurikulturen zu sprechen.
       
   IMG Bild: Zur Anerkennung kultureller Differenzen in gemischten Gesellschaften gehören weder Nationalhymnen noch „christlich-abendländische Werte“. Gartenzwerge auch nicht
       
       Der Soziologe und Unternehmensberater Stefan Kühl hat jüngst in der taz das
       von der CSU und der sächsischen CDU lancierte Projekt einer „Leit- und
       Rahmenkultur“ kritisiert. [1][In dem Debattenbeitrag vom 13. 10.] wies er
       darauf hin, dass die Erstellung von Leitbildern zur Pflege einer Corporate
       Identity in Wirtschaftsunternehmen nutzlos sei, weil beide nicht
       funktionierten.
       
       Die wiederkehrenden Leitkulturdebatten in der Politik zeugen tatsächlich
       von solcher Sysiphosarbeit – aber sie haben doch einen politischen Kern,
       der über die eitle Selbststilisierung von „Führungskräften“ in der
       Wirtschaft hinausweist.
       
       In der Politik wird Leitkultur zum Instrument, um die Vielfalt der
       Bevölkerung auf national zu trimmen. Das CSU/CDU-Papier vertraut dabei auf
       verstaubte Ladenhüter, von der „schwarz-rot-goldenen Fahne“ über das
       „abendländische Wertefundament“ bis zur „lieb gewonnenen Heimat“; lauter
       partikulare historisch-kulturelle Phänomene. Mit diesen national
       angestrichenen Versatzstücken zimmerten jetzt die Bastler aus München und
       Dresden einen leitkulturellen Popanz, vor dem sich alle verbeugen sollen
       wie Wilhelm Tell in Schillers Drama vor Gesslers Hut.
       
       Die Bemühungen um eine jederzeit abrufbare „Leitkultur“ wären als
       dumpf-deutsche Marotte abzutun, wenn sie nicht massenhaft Resonanz fänden,
       von der AfD und Pegida bis zu FAZ und Welt.
       
       ## Das Kultivierbare im Menschen
       
       Sieht man auf die Geschichte des Begriffs „Kultur“, schlägt der Ruf nach
       einer Leitkultur jedwedem ernsthaften Nachdenken über Kultur ins Gesicht.
       Seit der Antike zählt die Kultivierbarkeit zu den Wesenszügen der Menschen.
       Für den römischen Dichter Horaz etwa war „niemand so roh, dass er nicht
       mild gestimmt werden könnte, wenn er nur die Hand nicht abwiese, die ihn
       pflegen („kultivieren“) möchte“. Keineswegs verstand man die Begriffe
       Kultur und Kultivierung in der Antike nur positiv, sondern kannte auch die
       Kultur des Verbrechens, des Lasters, des Luxus und so weiter.
       
       Damit handelte man sich allerdings eine Doppeldeutigkeit ein. Der Begriff
       meint immer zweierlei: den Prozess der Kultivierung beziehungsweise
       Zivilisierung und die Resultate dieses Prozesses. Damit entsteht und wächst
       die Gefahr, die, letztlich positiven, Resultate mit den nicht ganz seltenen
       negativen Zügen des Kultivierungsprozesses buchhalterisch zu verrechnen.
       Nach der Devise: Passiere, was da wolle, für die „abendländische Kultur“
       bleibt der Saldo positiv. Aber wie soll man Homer, Mozart und Einstein mit
       Kolonialismus, Antisemitismus, Faschismus verrechnen?
       
       Nur so lange, wie das Fortschrittsmodell unbestritten blieb, galt auch das
       Axiom der Vergleichbarkeit und der Messbarkeit von „Kultur“ an einem
       einzigen, von Europa aus definierten Maßstab. Mit der Anerkennung einer
       Vielzahl von Kulturen und Zivilisationen durch die wissenschaftliche
       Ethnologie, einsetzend mit Edward Burnett Tylor (1871), hat dieser Maßstab
       Plausibilität und Geltung verspielt. Claude Lévi-Strauß sprach ab 1951
       nicht mehr von „unkultivierten und unzivilisierten Völkern“, sondern von
       „Völkern ohne Schrift“ – auch diese sind und haben „Kultur“.
       
       ## Kultur im Singular ist ein Wahn von Fanatikern
       
       Das bedeutet aber nicht, dass alle Kulturen gleich sind. Kulturen
       transportieren Werte und Normen und erzeugen neue Werte und Normen, denn
       „Werte werden bewahrt, wenn man sie nicht bewahrt, sondern weitertreibt“
       (T. W. Adorno). Insofern ist jede auf Werte gegründete Kultur – erstens –
       ein sich selbst korrigierendes und erweiterndes sowie – zweitens – ein sich
       an anderen Kulturen orientierendes Phänomen, das sich genuin selbst
       relativiert und damit zwangsläufig auf andere Kulturen bezogen bleibt.
       Kultur im Singular ist ein Wahn von Fanatikern.
       
       Im Unterschied zu einer Ware sind kulturelle Differenzen nicht quantitativ
       messbar, weil Kulturen komplexe qualitative Ganzheiten bilden, die nicht
       hierarchisch einzuordnen sind wie Waren in eine Preis- oder Sportler in
       eine Rangliste. Kulturen bilden so wenig eine Hierarchie – mit einer
       Leitkultur an der Spitze und Subaltern-Kulturen darunter – wie Hochsprachen
       eine Rangordnung nach der Zahl ihrer Sprecher. Das Chinesische und das
       Englische können weder „Überlegenheit“ noch eine Leitfunktion beanspruchen,
       nur weil es weniger Italienisch- oder Lateinischsprechende gibt.
       
       Menschen, die an Selbstüberschätzung leiden, halten sich für Napoleon, und
       Sprecher national verblendeter Kollektive führen sich als Propheten der
       Leitkultur auf.
       
       ## Universelle Mindeststandards
       
       Kulturelle Relativierung, das heißt die Anerkennung von kulturellen
       Differenzen in gemischten Gesellschaften (diese bilden keine Multikultur im
       Singular aus, sondern Plurikulturen), ist zurückgebunden an die Anerkennung
       universeller Minimalstandards im Recht, in der Politik und im Alltag.
       Standards also, nach denen etwa das Rechtssystem ohne Folter auskommt,
       Religion ohne körperliche Züchtigungsrituale, der politische Diskurs ohne
       Gewalt und das Zusammenleben ohne Diskriminierung beim Zugang zu Bildung
       und sozialer Teilhabe.
       
       Zu diesen Minima gehören weder Nationalhymnen noch
       „christlich-abendländische Werte“, wohl aber die Anerkennung des
       Grundgesetzes und der Menschenrechte, die individuelle Freiheit und
       Gleichheit sowie der solidarische Zusammenhalt gegen soziale Ungleichheit
       und Exklusion aufgrund von Herkunft, Religion oder Sprache.
       
       Plurikulturen verzichten auf Ausgrenzung durch rigide Normen und hohe
       „Eintrittspreise“ ins national-kulturell abgesteckte Reservat. Sie setzen
       auf Selbstreflexion und aufklärende Kritik an Normen, Traditionen und
       Ritualen. „Der Westen hat die Tradition, ihn zu kritisieren, nie anderen
       überlassen“, stellt der französische Philosoph Pierre-Henri Tavoillot fest.
       
       Von der konservativen Mitte bis zu den Rechtsradikalen ist heute ein
       Gegenprogramm in Mode: „Entscheidend aber ist, ob die Deutschen wieder
       lernen, dass sie ‚ein‘ Volk sind“ (J. von Altenbockum in der FAZ vom 4. 10.
       2016). Als einer der Ersten rechnete übrigens Michel de Montaigne vor über
       400 Jahren mit dem Keim einer Sorte von perversen „Lernprogrammen“ ab, für
       die „Völker anderer Zivilisationen Barbaren“ sind.
       
       13 Nov 2016
       
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