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       # taz.de -- Debatte Menschenrechte vs. Wirtschaft: Im Geiste Carl Schmitts
       
       > Das Interesse an einer funktionierenden Weltwirtschaft dominiert die neue
       > Weltordnung. Und wo bleiben die Menschenrechte?
       
   IMG Bild: US-Gefangenenlager Guantanamo: Die Menschenrechte als säkularisiertes Heilsversprechen stehen heute unter Ideologieverdacht.
       
       Der große Liberale [1][Ralf Dahrendorf] warnte 1997 davor, dass wir uns „an
       der Schwelle zum autoritären Jahrhundert“ befinden. Gegenwärtig nimmt
       dieser neue Autoritarismus immer deutlichere Konturen an – und zwar bei
       weitem nicht nur in Russland, wo Präsident Putin soeben mit dem
       [2][Agentengesetz] Menschenrechtsgruppen einen schmerzhaften Maulkorb
       verpasste.
       
       Auch [3][in China] genießen Bürgerrechte, speziell Meinungs- und
       Pressefreiheit, keinen wirklichen Schutz. Und nur weil der Westen dem
       indischen Subkontinent stärker zugeneigt ist, kann im dortigen Kastensystem
       von allgemein gültigen Menschenrechten noch lange keine Rede sein.
       
       1989, in den Tagen der friedlichen Revolution, war schnell von einem „Ende
       der Geschichte“ in Frieden und Freiheit, Demokratie und Menschenrechten die
       Rede. Kriege zwischen Staaten sollten der Vergangenheit angehören,
       stattdessen eine Weltpolizei global für Recht und Ordnung sorgen. Heute
       sind wir von einer derartigen hegelianischen Endzeit meilenweit entfernt.
       
       Mehr und mehr begreifen wir, dass wir uns seit 1989 nur in einer Zwischen-
       und Übergangszeit befunden haben. Aus der angestrebten einen Welt mit
       universalistischem Anspruch ist eine multipolare Welt geworden – mit
       verschiedenen autoritären Machtzentren größerer und kleinerer Provenienz,
       von Peking über Moskau bis nach Ankara und Teheran.
       
       ## „Völkerrechtliche Großraumordnung“
       
       Vor einem Dreivierteljahrhundert entwickelte der konservative, mit dem
       Faschismus sympathisierende [4][Staatsrechtler Carl Schmitt] seine
       „Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde
       Mächte“, die der heutigen Welt erschreckend ähnelt. Aus einem Universum
       wird bei Schmitt das Pluriversum, anstelle der einen Weltordnungsinstanz
       des Völkerbundes beziehungsweise der UNO gibt es dort mehrere Großmächte,
       die im eigenen Herrschaftsbereich nach Gutdünken schalten und walten.
       
       Historisches Vorbild dafür ist die [5][Monroe-Doktrin] von 1823: Ihr
       ideologischer Kern, das US-amerikanische „Not in my backyard“ – Haltet euch
       raus aus meinem Hinterhof, nämlich aus Lateinamerika –, wird heute zum
       allgemeinen Credo der neuen Großmächte. Menschenrechte? Fehlanzeige. Im
       jeweiligen Hinterhof ist der Feindbekämpfung Tür und Tor geöffnet – ob
       unter dem Siegel des Kampfes gegen westliche Agenten oder gegen den
       Terrorismus.
       
       Allein die neu aufkommenden Großmächte für diese Entwicklung verantwortlich
       zu machen, wie es speziell gegenüber Russland nicht selten geschieht, geht
       jedoch an den wahren Ursachen vorbei. Denn für das Scheitern der einstigen
       Hoffnung ist der Westen selbst hochgradig verantwortlich. Soeben ist die
       Biografie [6][Kofi Annans] erschienen, von 1997 bis 2006
       UN-Generalsekretär. Keineswegs zufällig trägt sie im Englischen den Titel
       [7][„Interventions“].
       
       Dem Anspruch speziell Annans nach richteten sich diese Interventionen auf
       den Schutz der Menschenrechte, faktisch aber stand ab 1989 dahinter oft
       etwas völlig anderes – schlichte Machtpolitik. Spätestens mit dem auf Lügen
       basierenden Irakkrieg verspielte der Westen so einen Großteil seiner
       Glaubwürdigkeit.
       
       ## „Gefährlicher als der Terrorismus selbst“
       
       Der [8][Philosoph Richard Rorty] hatte frühzeitig prophezeit, „dass der
       Krieg gegen den Terrorismus gefährlicher als der Terrorismus selbst ist“.
       Er sollte Recht behalten. Mit seinem Krieg für „infinite justice“ untergrub
       Bush junior auf unabsehbare Zeit die von seinem Vater proklamierte neue,
       friedliche Weltordnung. Die Folterbilder von Abu Ghraib und Guantánamo
       haben den eigenen Anspruch, dem Nahen Osten Demokratie und Menschenrechte
       zu bescheren, in sein Gegenteil verkehrt. Heute heißt es daher, gegen den
       Westen gerichtet, mit den Worten Carl Schmitts: „Wer Menschheit sagt, will
       betrügen.“
       
       Die Menschenrechte als säkularisiertes Heilsversprechen stehen heute, auch
       dank des moralischen Versagens des Westens, unter massivem
       Ideologieverdacht. Dabei hatten gerade sie in den späten Jahren des Kalten
       Krieges den Dissidenten und Bürgerrechtlern des Ostblocks als
       Berufungsgrundlage für die am Ende erfolgreiche Demokratisierung gedient.
       Und vor exakt 20 Jahren wurde auf der Wiener [9][„Weltkonferenz über
       Menschenrechte“] deren globale Geltung noch einmal von 171 Staaten
       beglaubigt.
       
       Heute kann davon nicht nur in Russland, sondern in weiten Teilen der Welt
       keine Rede mehr sein. Denn auch die USA als vormals letzte verbliebene
       Supermacht gewöhnen sich zunehmend an den neuen Zustand der Rechtlosigkeit.
       In Zeiten der globalen Krise kommt es offenbar nur noch auf eines an: Im
       Zusammenspiel mit Russland und China die ohnehin hoch fragile
       Weltwirtschaft am Laufen zu halten.
       
       „It’s the economy, stupid.“ Deshalb richtet Obama seinen Blick vor allem zu
       den Wachstumsregionen im Pazifik. Zehn Jahre nach Beginn des Irakkriegs
       ziehen sich die Vereinigen Staaten, zieht sich der Westen insgesamt nun
       auch aus Afghanistan zurück – und macht damit den Weg frei für eine Welt im
       Geiste Carl Schmitts.
       
       ## Sich selbst stabilisierendes Pluriversum
       
       Denn auch diese neue Weltordnung eines sich selbst stabilisierenden
       Pluriversums der hegemonialen Regionalmächte ist höchst trügerisch, auch
       wenn sie nicht durch den Störfaktor der Menschenrechte belästigt, sondern
       scheinbar durch das gemeinsame Interesse an einer funktionierenden
       kapitalistischen Weltwirtschaft zusammengehalten wird.
       
       Denn der Kampf um die immer knapper werdenden Ressourcen wird in Zukunft
       zunehmend zu Konflikten führen, vor allem von den Rändern. Die Staaten der
       Peripherie geraten ihrerseits zunehmend unter Druck und betreiben mit
       größtmöglichem Einsatz ihre Interessenpolitik, siehe Nordkorea, aber auch
       Iran/Israel.
       
       Hier droht kriegerische Anarchie bzw. der Rückfall in den Hobbes’schen
       Naturzustand – im Kampf um das geopolitische survival of the fittest. Dann
       würde auch das letzte und wichtigste Axiom des Ideologen Carl Schmitt
       greifen: die Definition der Politik als Auseinandersetzung zwischen Freund
       und Feind, die zwingend und immer wieder in den Kriegszustand führt – und
       damit zum definitiven Ende der Einen Welt.
       
       18 Apr 2013
       
       ## LINKS
       
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   DIR [4] /1/archiv/archiv/
   DIR [5] http://de.wikipedia.org/wiki/Monroe-Doktrin
   DIR [6] /!98737/
   DIR [7] http://www.us.penguingroup.com/nf/Book/BookDisplay/0,,9781594204203,00.html
   DIR [8] /1/archiv/archiv/
   DIR [9] http://de.wikipedia.org/wiki/Weltmenschenrechtskonferenz
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Albrecht von Lucke
       
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