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       # taz.de -- Debatte um ChatGPT: Die KI-Zukunft im Musikjournalismus
       
       > ChatGPT fehlt die sinnliche Konzerterfahrung des Musikjournalisten. Man
       > könnte auch Künstler und Journalisten im Interview durch Bots ersetzen.
       
   IMG Bild: Ein Konzert mit allen Sinnen erleben? Das kann die KI leider nicht
       
       Interviews zu machen habe ich immer gehasst. Außenstehende sehen darin gern
       den glamourösen Höhepunkt des Musikjournalismus, aber in Wahrheit ist es
       eher so, dass sich bislang geheiligte Großkünstler*innen als maulfaule
       Miesepeter entzaubern, dass sie nur über ihr aktuelles Produkt sprechen
       möchten und nicht über ihre Großtaten vor zwanzig Jahren und dass auch
       untadelige Menschenfreund*innen mitunter schlechte Laune haben.
       
       Am allerschwierigsten waren aber immer die Gespräche mit Newcomer*innen,
       die gerade mal zwanzig Jahre alt sind und nun ihr Debüt produziert haben.
       Über dieses Werk und die seine Entstehung begleitenden Ereignisse und
       Anekdötchen ist schnell alles gesagt – wie fülle ich die restlichen 25
       Minuten meines 30-minütigen Interviewslots?
       
       Aber der Beruf des Musik-„Journos“ ist ja ohnehin dem Untergang geweiht,
       und bald werden wir alle ersetzt durch künstliche Intelligenzen. Oder
       nicht? [1][Der Streaming-Service „Tidal“ beauftragte kürzlich den
       britischen Musikjournalisten Simon Reynolds], dieser Frage nachzugehen.
       Ergebnis: Entwarnung. Sein Auftrag an ChatGPT, den Text im Reynolds-Stil zu
       verfassen, zeigte ihm, dass die KI noch nicht mal überzeugend einen
       vorgegebenen Duktus imitieren kann!
       
       Weitere Versuche ergaben, dass KIs offensichtlich nicht korrekt
       recherchieren können (oder wollen?), keine emotional gefärbten Texte
       hinbekommen, daher weder verreißen noch abfeiern können,
       Konzertbesprechungen ohne die sinnliche Konzerterfahrung nicht
       funktionieren, Interviews ohne die Fähigkeit, auf die Mimik und allgemein
       das Gesprächsverhalten des Gegenübers eingehen zu können, ebenfalls nicht,
       und überhaupt habe eine KI weder ein Verhältnis zur Musik noch das
       Sendungsbewusstsein, dieses Verhältnis mit der Öffentlichkeit zu teilen.
       
       ## Technologie entwickelt sich schnell
       
       Noch mag das alles richtig sein, aber man sollte das Tempo nicht
       unterschätzen, in dem sich die Technologie weiterentwickelt. Speziell für
       den Interviewbereich sehe ich Einsatzmöglichkeiten – allerdings weniger als
       Ersatz für den/die Journalist*in, sondern für den/die Künstler*in (bzw.
       das Management/Agentur/Plattenfirma).
       
       Denen fallen die immer gleichen Fragen von mehr oder weniger gut
       vorbereiteten Journalist*innen natürlich genauso lästig – warum sich
       also nicht vertreten lassen durch eine gut trainierte KI, die immer im
       vorher eingeübten Sinn antwortet, und das vielleicht noch mit einer
       sprachlichen Spritzigkeit, die dem/der Interviewten eigentlich abgeht.
       
       Bedenkt man, dass Interviews heutzutage ohnehin nicht selten per Zoom,
       Skype oder gar Mail geführt werden, fällt auch das von Reynolds angeführte
       empathische Defizit von KIs kaum noch ins Gewicht. Man könnte den
       Künstler-Bot auch noch realistischer machen, indem man ihm verschiedene
       Launen antrainiert, die dann per Zufallsgenerator zum Einsatz kommen.
       
       ## Frage-Bot und Antwort-Bot
       
       Richtig spannend würde es, wenn dieser brillante, aber launische
       Antwort-Bot von einem ebenso gut und komplex programmierten Frage-Bot
       gegrillt würde. Sicherlich ein Gewinn für den Musikjournalismus.
       
       Wird nicht passieren? Wird passieren müssen. Denn die Künstler*innen der
       Zukunft sind Composer-Bots, die derzeit noch hinter den Kulissen der
       Streaming- und Videodienste an den Geschmäckern der Kund*innen trainiert
       werden.
       
       Schon bald werden diese Dienste nicht nur weitere Tracks vorschlagen, die
       einem nach der Datenlage auch gefallen müssten, sondern werden alle Titel
       im Sinne des Konsumenten mehr oder minder stark modifizieren, Titellängen,
       Tempi und Frequenzgänge anpassen, vielleicht den Beat verstärken, den
       Refrain häufiger wiederholen, irgendwann die Stücke komplett umbauen,
       schließlich und endlich gleich selbst komponieren und produzieren. Und das
       so individuell optimiert und geil, dass die Abonnent*innen vor Wonne
       kreischen.
       
       Ist doch klar, dass diese Genies dann auch interviewt werden müssen, oder?
       Also.
       
       28 Mar 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://tidal.com/magazine/article/critic-vs-ai/1-89051
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Detlef Diederichsen
       
       ## TAGS
       
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