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       # taz.de -- Debatte um Spaniens Kolonialgeschichte: Dem alten Denken verhaftet
       
       > Über die Bedeutung der Kolonialzeit ist in Spanien ein Streit entbrannt.
       > Ausgelöst hat ihn ein Plan, die Museen des Landes zu „dekolonisieren“.
       
   IMG Bild: Ein Segelschiff vor dem Eingang des Museo De America in Madrid erinnert an Columbus
       
       Manchmal reicht eine Ankündigung, die wenig mehr als ein lautes Nachdenken
       ist, um eine hitzige nationale Debatte auszulösen. Er wolle die 16 Museen,
       die direkt seinem Ministerium unterstehen, „dekolonisieren“, erklärte der
       spanische Kulturminister Ernest Urtasun in einer Kommissionssitzung im
       spanischen Parlament. Es gehe darum, „Räume für den Dialog und Austausch zu
       schaffen, die es ermöglichen, den kolonialen Rahmen zu überwinden“. „Ein
       Prozess der Überarbeitung“ solle Perspektive und Erinnerungen der Völker
       sichtbar machen. Konkrete Pläne, wie genau das aussehen könnte, blieb der
       ehemalige Diplomat aus den Reihen des linksalternativen Wahlbündnisses
       Sumar allerdings schuldig.
       
       Doch die braucht es gar nicht, um die Rechte und Ultrarechte in Spanien auf
       die Barrikaden zu bringen. „Das Gerede über Kolonien hat uns ein wenig
       nervös gemacht. Ich denke, wir wissen beide, dass Spanien keine Kolonien
       hatte“, behauptete etwa die Abgeordnete der größten konservativen
       Oppositionspartei, der Partido Popular (PP), María Soledad Cruz-Guzmán.
       Spanien, das vom 15. bis zum 20. Jahrhundert große Teile von Süd-, Mittel-
       und Nordamerika sein eigen nannte, hat für die Rechte eine zivilisatorische
       Funktion übernommen. Das, was Urtasun Kolonien nennt, seien schließlich
       „Vizekönigreiche“ gewesen, dem Mutterland gleichgestellt.
       
       „Die Menschen, die dort lebten, hatten“ – so der Abgeordnete [1][Joaquín
       Robles López von der rechtsextremen Partei VOX] – „die gleichen Rechte“.
       Der angebliche Beweis: Spanien habe 27 Universitäten in Lateinamerika
       eröffnet und Kathedralen gebaut. Was Urtasun da vertrete, sei Teil der
       „schwarzen Legende“, die der Kulturminister verinnerlicht habe, einer
       Verleumdung Spaniens durch andere Kolonialmächte wie etwa Großbritannien.
       Es gelte, die spanische Kultur vor dem Kulturministerium zu schützen.
       Radiokommentatoren aus der rechten Ecke beschimpften den Minister gar als
       „hispanophob“ – als Spanienhasser – und erinnerten an seine katalanische
       Herkunft.
       
       Auch die Regierungschefin der Hauptstadtregion Madrid, I[2][sabel Díaz
       Ayuso (PP)], deutet die blutige Eroberung Amerikas gerne in einen
       zivilisatorischen Akt um. Sie sieht „eine Verschmelzung mit den Völkern,
       die wir dort vorfanden.“ Es sei eine „gesegnete Mischung aus Sprachen,
       Kultur, Blut, Leben und Träumen“ entstanden, erklärte sie vergangenen
       Herbst im Vorfeld des spanischen Nationalfeiertags, des 12. Oktobers.
       Dieser Feiertag [3][gilt als der Tag, an dem Christopher Columbus im Jahr
       1492 Amerika „entdeckte“].
       
       ## Verleugnung von Ausbeutung und Zerstörung
       
       „Es ist eine riesige Lüge zu behaupten, Spanien habe keine Kolonien
       gehabt“, empört sich Pepe Mejía, Redakteur der in Peru erscheinenden
       Zeitschrift Lucha Indígena, die sich seit nunmehr fast zwei Jahrzehnten
       monatlich mit dem Kampf der indigenen Völker Lateinamerikas beschäftigt.
       „Die Spanier gingen nach Amerika, um Ländereien auszubeuten, zu dominieren,
       um zu stehlen und zu morden. Sie zerstörten die Kulturen, die sie
       vorfanden. Auch wenn das in Spanien viele nicht einsehen wollen“, erklärt
       der peruanische Journalist, der in Madrid lebt.
       
       Für ihn zeigt diese Debatte, dass nur ein Teil der spanischen Gesellschaft
       bereit sei, die eigene Geschichte zu hinterfragen „und einzusehen, dass
       Spanien und seine Monarchien sowie die katholische Kirche die
       Kolonialisierung vorantrieben“.
       
       Für Mejía sind die Überlegungen des spanischen Kulturministers „ein
       Fortschritt“. Er hofft darauf, dass den Worten Taten folgen. „Denn bisher
       haben die Institutionen nichts getan. Sie sind fest dem alten Denken
       verhaftet, das der eigenen Geschichte völlig unkritisch gegenübersteht“,
       sagt Mejía.
       
       ## Selbstdarstellung modernisieren
       
       „Es könnte nicht schaden, wenn Spanien trotz des veralteten und müden
       imperialen Fanatismus einiger Menschen daran arbeiten würde, seine
       Selbstdarstellung zu modernisieren“, schließt sich Izaskun Álvarez
       Cuartero, Professorin für amerikanische Geschichte, auf den Seiten von El
       País, der wichtigsten spanischen Tageszeitung, dem Wunsch nach Umdenken an.
       „Ein Museum zu dekolonisieren, besteht nicht aus einer Debatte über
       ‚Eroberung ja, Eroberung nein‘, über ‚Opfer und Bösewichte‘. Bei der
       Dekolonisierung eines Museums geht es nicht darum, Narrative
       aufrechtzuerhalten, die dem Motto ‚Und du warst schlimmer‘ ähneln, darüber,
       ob wir freundlicher oder gerechter als die Briten mit der einheimischen
       Bevölkerung umgegangen sind“, schreibt Álvarez Cuartero.
       
       Es gehe auch nicht darum, die Vergangenheit umzudeuten, sondern darum, sie
       mehr und besser zu erklären. Álvarez Cuartero denkt etwa an die „Förderung
       von Aktionen, die darauf abzielen, das Paradigma bei der Präsentation der
       Sammlungen zu ändern“. Sie will ein Nachdenken, um „der Mumifizierung
       mancher Museen zu entfliehen und sie in Orte zu verwandeln, die mehr im
       Einklang mit der Gegenwart stehen“.
       
       Der koloniale Rahmen, der bis heute ganz oder teilweise Museen wie etwa das
       Amerika-Museum oder das Anthropologische Museum in Madrid bestimmt, ist
       längst Gegenstand wissenschaftlicher Debatten. Der 1946 gegründete
       [4][Internationale Rat für Museen (Icom)], der der Unesco angegliedert ist
       (Consejo Internacional de Museos/Unesco), veranstaltete bereits im Jahr
       2019 eine Tagung unter der Fragestellung, ob Museen mehr sein können als
       „Lager kolonialer Gegenstände“, die, so Icom-Präsident Luis Grau Lobo,
       „heute, mehrere Jahrhunderte später, technisch steril wie in einem coolen
       Apple Store“ ausgestellt würden.
       
       Für Grau Lobo ist „am aufschlussreichsten, was Museen nicht sichtbar
       machen, das, was sie in ihrem Unterbewusstsein, ihren Lagern aufbewahren“.
       Mehrere Teilnehmer der Tagung mahnten eine Öffnung der Museen für die
       Partizipation und den Dialog mit denen an, deren Wurzeln zur Schau gestellt
       werden. Getan hat sich seither allerdings wenig.
       
       „Es steht viel auf dem Spiel, entweder verteidigen wir einen
       Paradigmenwechsel, oder wir machen weiter mit einem Modell, das sich an
       identitäre und autoritäre Postulate klammert“, mahnt in der jetzigen
       Debatte Manuel Borja Villel in der Online-Zeitung El Confidencial, von 2008
       bis 2023 leitete er das [5][nationale Kunstmuseum Reina Sofia] in Madrid.
       Villel, für den „die Dekolonisierung der Museen nicht aufzuhalten ist“,
       kommt auf einen Aspekt zu sprechen, den bisher alle – auch Minister Urtasun
       – vermeiden: „Oftmals müssen auch Gegenstände zurückgegeben werden, die
       nicht illegal erstanden, sondern ganz legal gekauft wurden, aber deren
       Herkunft dennoch nicht ethisch ist“, sagt Villel.
       
       ## Beispiel Kolumbien
       
       Selbst auf geschenkte Ausstellungsstücke kann dies zutreffen, wie die
       Polemik um den Schatz der Quimbayas, eines indigenen Stamms aus dem
       heutigen Kolumbien, zeigt. Der aus 122 Grabbeigaben mit reinem Gold
       bestehende Schatz wird im Amerika-Museum in Madrid ausgestellt. Er war im
       Jahr 1893 ein Geschenk des kolumbianischen Präsidenten Carlos Holguín an
       die spanische Königin María Cristina.
       
       Seit 2017 fordert Kolumbien auf Initiative von Bürgern den Schatz zurück.
       Zuerst weigerte sich die Regierung in Bogotá, doch das Verfassungsgericht
       gab der Initiative recht und verpflichtete in einem Urteil vom Oktober 2017
       den kolumbianischen Staat, alles zu tun, um die Goldskulpturen
       zurückzuholen. Aber Spanien weigert sich bisher, über eine Rückgabe in
       Verhandlung zu treten.
       
       „Ganz ehrlich, wäre ich Spanierin und würde die Geschichte und die
       Bedingungen kennen, unter denen wir bis heute in Mexiko und anderen
       Regionen Lateinamerikas leben, und würde eines dieser Museen besuchen,
       würde ich mich schämen“, sagt Camila Tékpatl, Sprecherin des
       Zusammenschlusses indigener Völker, Pueblos Unidos, in der Vulkanregion
       Cholulteca, 100 Kilometer südöstlich von Mexiko-Stadt.
       
       ## Kultur und Sprache erhalten
       
       Mexiko war die wohl am weitesten entwickelte Gesellschaft jenes Amerikas,
       das die Spanier „entdeckten“. „Diese Exponate stehen dafür, was sie uns
       angetan haben – wie sie unsere Vorfahren unterdrückt, ausgeplündert und
       getötet haben“, fügt sie hin zu. Die Rückgabe der Ausstellungsstücke
       interessiert Tékpatl dennoch nicht wirklich. „Sie enden dann in den Händen
       der Institutionen eines Staates, der uns weiterhin unterdrückt und
       ausbeutet“, urteilt sie. Ihr Kampf gelte dem Erhalt ihrer Kultur, ihrer
       Sprache und des Landes, auf dem sie leben. Und das seit mehr als 500
       Jahren.
       
       „Dass sie uns die Zivilisation gebracht haben, wie viele in Spanien
       behaupten, war damals eine Begründung dafür, uns auszuplündern, unsere
       Kultur zu zerstören“, sagt die Aktivistin, deren Organisation gegen
       Großprojekte vor allem aus dem Energiesektor kämpft – riesige Solarparks,
       die ihr Land zerstören, Gaspipelines und Stromtrassen, hinter denen meist
       spanische Energieversorgungsunternehmen stehen.
       
       „Damals brachten sie uns angeblich die Zivilisation, heute reden sie von
       Wohlstand. In Wirklichkeit machen sie weiter wie gehabt“, sagt Tékpatl.
       „Wenn wir was zurückwollen, dann diejenigen, die im Kampf ihr Leben
       verloren haben, und das ist nicht möglich. Deshalb wollen wir nichts
       zurück, wir wollen, dass sie endlich gehen“, beendet die streitbare Frau
       das Gespräch.
       
       3 Mar 2024
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Reiner Wandler
       
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