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       # taz.de -- Debatte um Wehrpflicht: Wehret der Pflicht
       
       > Viele fordern lautstark die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht. Unser Autor
       > sagt, niemand darf gezwungen werden, auf andere Menschen zu schießen.
       
   IMG Bild: Abschlussprüfung der Grundausbildung beim Panzerbataillon 431 Torgelow im März 2011
       
       Da ist sie also wieder, die Diskussion über die Wehrpflicht. Dabei ist die
       Tinte unter dem Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD kaum trocken. „Wir
       schaffen einen neuen, attraktiven Wehrdienst, der zunächst auf
       Freiwilligkeit basiert“, hatten die drei Regierungsparteien erst im April
       vereinbart. Trotzdem werden auch – und gerade – aus den Reihen der
       Koalitionäre die Stimmen lauter, denen das nicht reicht. Verstärkt wird der
       Chor von einem Großaufgebot an Sofagenerälen, denen auch nichts Besseres
       einfällt, als wieder junge Männer zum „Dienst mit der Waffe“ zwingen zu
       wollen.
       
       Glaubt man den Meinungsforschungsinstituten, dann gibt es eine deutliche
       Mehrheit in der Bevölkerung für die Rückkehr zur Wehrpflicht. Laut einer in
       dieser Woche veröffentlichten [1][Forsa-Umfrage sprechen sich 59 Prozent
       dafür aus, 37 Prozent dagegen]. Die größte Zustimmung kommt von den
       Anhänger:innen der Union (78 Prozent) und der AfD (71 Prozent), nur bei
       den Linke-Wähler:innen spricht sich eine Mehrheit dagegen aus (62 Prozent).
       Allerdings gibt es einen kleinen Haken: Es sind vor allem diejenigen für
       die Wehrpflicht, die davon nicht betroffen wären – also die Älteren.
       
       In der Gruppe der 18- bis 29-Jährigen sind nur 29 Prozent dafür, 61 Prozent
       dagegen. Rechnet man hier noch die Frauen heraus, blieben nicht mehr viele
       Wehrpflichtfans übrig, die selbst in die Kaserne einrücken müssten. Das
       korrespondiert mit einer weiteren Forsa-Umfrage vom März, nach der
       lediglich 17 Prozent der Bevölkerung „auf jeden Fall“ bereit sind,
       Deutschland im Falle eines militärischen Angriffs mit der Waffe zu
       verteidigen. Eine Mehrheit von 60 Prozent will das jedoch „auf keinen Fall“
       oder „wahrscheinlich nicht“. Ist es wirklich akzeptabel, andere zu etwas
       zwingen zu wollen, wozu man selbst nicht bereit ist?
       
       Die heutige Größe der Bundeswehr verdankt sich der Wiedervereinigung und
       der Auflösung des Warschauer Pakts. Damals „von Freunden umzingelt“, wie es
       der damalige Bundesverteidigungsminister Volker Rühe (CDU) 1992
       formulierte, wurde keine Notwendigkeit einer große Armee zur Landes- und
       Bündnisverteidigung mehr gesehen.
       
       ## Der Zwei-plus-Vier-Vertrag
       
       Noch 1989 zählte die Bundeswehr rund 486.800 Soldaten, hinzu kamen rund
       155.300 Soldaten der Nationalen Volksarmee der DDR – wobei die damaligen
       Truppenstärken nicht der realen Bedrohungslage geschuldet, sondern vor
       allem ideologisches Produkt der Zeit des Kalten Kriegs waren. Mit dem im
       März 1991 in Kraft getretenen [2][Zwei-plus-Vier-Vertrag] verpflichtete
       sich die Bundesregierung zu einer Obergrenze der Streitkräfte des vereinten
       Deutschlands von 370.000 Mann.
       
       Bis zur Aussetzung der Wehrpflicht 2011 sank die Personalstärke schließlich
       auf 206.100 Soldat:innen. Zuvor war bereits die Dauer des Wehrdiensts von
       15 Monaten im Jahr 1990 immer weiter reduziert worden, zuletzt betrug sie
       nur noch sechs Monate. Im Sinne der Wehrgerechtigkeit war die von CDU, CSU,
       FDP und Grünen beschlossene Aussetzung nur konsequent, da nur noch ein
       Bruchteil eines Jahrgangs überhaupt „eingezogen“ wurde. Allerdings war sie
       umstritten: Die SPD stimmte dagegen, weil sie die Wehrpflicht beibehalten
       wollte, die Linke lehnte sie ab, weil sie für deren Abschaffung war.
       
       Dass die Verhältnisse angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine
       heute anders sind, lässt sich nicht bestreiten. Trotzdem bleibt die
       Aussetzung der Wehrpflicht eine zivilisatorische Errungenschaft. Noch
       besser wäre es gewesen, sie tatsächlich ganz abzuschaffen. Denn für den
       Spannungs- oder Verteidigungsfall gilt die Aussetzung nicht.
       
       Geradezu absurd ist es, dass für diesen Fall auch das [3][im vergangenen
       November in Kraft getretene Selbstbestimmungsgesetz] der Ampel eine
       Ausnahmebestimmung enthält: So sieht das Gesetz zwar eigentlich vor, dass
       Menschen frei ihren Geschlechtseintrag ändern lassen können – aber nur bis
       zwei Monate vor der Feststellung des Spannungs- oder Verteidigungsfalls.
       Danach hat eine trans Frau rechtlich ein Mann zu bleiben – um zum „Dienst
       mit der Waffe“ gezwungen werden zu können.
       
       So ernst haben es SPD, FDP und Grüne wohl mit der Selbstbestimmung dann
       doch nicht gemeint. Generell sollte jedoch gelten, dass niemand und unter
       keinen Umständen gezwungen werden darf, auf andere Menschen zu schießen.
       Vom 21. bis zum 22. Juni veranstaltet die Deutsche Friedensgesellschaft –
       Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen in Kassel einen
       „Kriegsdienstverweigerungskongress“. Das passt gut in die Zeit, auch wenn
       allzu viele die pazifistischen Organisationen wie die DFG-VK fälschlich für
       aus der Zeit gefallen halten.
       
       ## „Massenheer“ und „stärkste Armee Europas“?
       
       Aktuell tragen rund 182.500 Menschen die olivgrüne Uniform, davon rund
       112.800 Zeitsoldat:innen, 57.700 Berufssoldat:innen sowie rund
       12.000 freiwillige Wehrdienstleistende. Der Frauenanteil liegt bei knapp 14
       Prozent. Wie die Ampel plante auch Schwarz-Rot noch bis vor Kurzem, die
       Truppenstärke schrittweise bis zum Jahr 2031 auf 203.000 Soldat:innen
       anwachsen zu lassen. Hinzu kommen sollten bis dahin insgesamt 260.000
       Reservist:innen, die im Verteidigungsfall mobilisiert werden könnten.
       Derzeit nehmen etwa 34.000 Reservist:innen an regelmäßigen Übungen teil.
       
       Allerdings gelten diese Zielzahlen inzwischen als überholt. Am Rande des
       Treffens der Nato-Verteidigungsminister Anfang Juni in Brüssel bekundete
       Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), nunmehr würden
       perspektivisch 50.000 bis 60.000 Soldat:innen in den stehenden
       Streitkräften benötigt, wobei das „nur eine Daumengröße“ sei.
       
       Patrick Sensburg, der Präsident des Reservistenverbands, denkt bereits in
       anderen Dimensionen: Um Deutschland in der Fläche mit modernem
       Kriegsmaterial zu verteidigen, bräuchte man zwischen 300.000 und 350.000
       Soldat:innen, sagte der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete dem
       Nachrichtenportal t-online. Die Zahl der Reservist:innen müsse noch um
       das Dreifache höher sein, also bei rund einer Million liegen.
       
       „Wir brauchen ein Massenheer, um in einem möglichen Krieg zu bestehen“, so
       Sensburg. Dazu passt die Ankündigung von Bundeskanzler Friedrich Merz aus
       dem vorigen Monat in seiner ersten Regierungserklärung, die Bundeswehr
       solle „konventionell zur stärksten Armee Europas“ werden. Ein solches Ziel
       klingt schon verdammt geschichtsvergessen für ein Land, das in
       militaristischem Wahn zwei Weltkriege angezettelt hat und dessen Soldaten
       den größten Zivilisationsbruch der Menschheitsgeschichte möglich gemacht
       haben.
       
       Selbstverständlich plädiert Sensburg wie viele in der Union für eine
       Reaktivierung der Wehrpflicht. Aber selbst bei den personellen
       Größenordnungen, die ihm vorschweben, wäre das keineswegs eine
       erforderliche Konsequenz.
       
       ## Reden wir über Geld
       
       Im Auftrag des Bundesfinanzministeriums hat das Münchner [4][ifo Institut
       im Juni 2024 eine interessante Studie veröffentlicht.] Darin geht es um die
       volkswirtschaftlichen Kosten einer Wiedereinführung der Wehrpflicht. Falls
       25 Prozent einer Alterskohorte eingezogen würden, was einem ähnlichen
       Umfang wie bei der alten Wehrpflicht entspräche und 195.000 Personen
       betreffen würde, verursachte das Staatsausgaben von etwa 3,2 Milliarden
       Euro und volkswirtschaftliche Kosten von 17,1 Milliarden Euro pro Jahr.
       
       Damit wäre die Rückkehr zum Zwangsdienst teurer, als die Attraktivität der
       Bundeswehr zum Beispiel über höhere Gehälter so zu steigern, dass sich
       ausreichend Personal freiwillig meldete, haben die Wissenschaftler
       errechnet. Denn wenn freiwillige Wehrdienstleistende nicht nur 42 Prozent,
       sondern 100 Prozent des Gehalts, das auf dem zivilen Arbeitsmarkt gezahlt
       wird, angeboten bekämen, wären zwar die jährlichen Staatsausgaben um 7,7
       Milliarden Euro höher, die volkswirtschaftlichen Kosten aber mit 9,4
       Milliarden Euro deutlich niedriger.
       
       Eine solche „Marktlösung“ würde es „erlauben, die militärischen Fähigkeiten
       im gleichen Maße wie bei einer Wehrpflicht günstiger zu steigern“,
       konstatiert das ifo Institut. Auch mit Blick auf eine gerechte
       Lastenverteilung biete eine solche Lösung Vorteile gegenüber einer
       Wehrpflicht, bei der die ökonomische Ungerechtigkeit für die
       Wehrpflichtigen gegenüber nicht Wehrpflichtigen erheblich sei. Man muss
       also nicht einmal Pazifist oder Antimilitarist sein, um sich gegen die
       Wehrpflicht auszusprechen.
       
       ## Ü-50-Maulhelden
       
       Die gegenwärtige Debatte ist geprägt von einem bedenklichen Alarmismus.
       Auch wenn Putin ein übler autokratischer Herrscher mit imperialistischen
       Ambitionen ist, der für alle Länder, die aus der Sowjetunion hervorgegangen
       sind, eine ganz reale Bedrohung darstellt, ist es schon erstaunlich, wie
       die militärischen Fähigkeiten Russlands überhöht werden und das bestehende
       Abschreckungspotenzial der europäischen Nato-Staaten kleingeredet wird.
       
       Vielleicht sei dieser Sommer „der letzte Sommer, den wir noch im Frieden
       erleben“, fabuliert beispielsweise der Militärhistoriker Sönke Neitzel. Die
       SPD bezeichnete er als „Sicherheitsrisiko für Deutschland“, weil sie
       derzeit noch nicht für die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht ist. Aber
       wenigstens war der 56-jährige Professor einst mal selbst bei der Bundeswehr
       und hat [5][im taz-Interview] versprochen, er „wäre auch heute wieder
       bereit, einen Dienst an der Waffe zu leisten“. Das unterscheidet ihn von
       etlichen Maulhelden.
       
       Jedenfalls ist es gratismutig, wenn beispielsweise ein über 50-jähriger
       Spiegel-Redakteur mit viel Pathos öffentlich mitteilt, er habe seine
       Kriegsdienstverweigerung von anno dunnemals zurückgezogen. Denn es bleibt
       für ihn folgenlos. Das gilt ebenso, wenn der 55-jährige Robert Habeck
       verkündet, er würde sich heutzutage nicht mehr für den Zivildienst, sondern
       die Bundeswehr entscheiden.
       
       Absolut wohlfeil ist es, wenn sein grüner Parteifreund Joschka Fischer im
       Spiegel-Interview zu Protokoll gibt, die Aussetzung der Wehrpflicht sei ein
       Fehler gewesen und er sei dafür, sie jetzt wieder einzuführen. Der heute
       77-Jährige war selbst nie bei der Bundeswehr – wobei unklar ist, ob er
       verweigert hat oder wegen einer Sehschwäche ausgemustert wurde. Statt zum
       Bund zu gehen, machte seine militante „Putzgruppe“ seinerzeit übrigens
       lieber paramilitärische Übungen im Taunus. Wenn junge Leute auf beides
       heute keinen Bock mehr haben, geht das schon in Ordnung.
       
       15 Jun 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.n-tv.de/infografik/Forsa-Sonderauswertung-Wiedereinfuehrung-Wehrpflicht-05-06-2025-article25815455.html
   DIR [2] https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/zwei-plus-vier-vertrag/
   DIR [3] /Selbstbestimmungsgesetz-tritt-in-Kraft/!6046447
   DIR [4] https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Downloads/Oeffentliche-Finanzen/Studien-Kurzexpertisen/ifo-studie-kosten-wiedereinfuehrung-wehrpflicht.pdf?__blob=publicationFile&v=3
   DIR [5] /Militaerhistoriker-ueber-Kriegstuechtigkeit/!6087358
       
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   DIR Pascal Beucker
       
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