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       # taz.de -- Debütalbum von Lost Girls: Die Erotik eines Y
       
       > Auf ihrem Debütalbum frönt das norwegische Duo Lost Girls seine
       > Experimentierfreude. Die fünf Stücke sind kein klassischer Pop, eher
       > Soundskizzen.
       
   IMG Bild: Das norwegische Duo Lost Girls: Jenny Hval (rechts) und Håvard Volden (links)
       
       Die im Jahr 2006 erschienene Graphic Novel „Lost Girls“ spielt in einem
       Luxushotel in Österreich, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Der
       [1][Autor Alan Moore] und die Zeichnerin Melinda Gebbie lassen dort drei
       Heldinnen der Kinderliteratur aufeinandertreffen: Alice aus Lewis Carrolls
       „Wunderland“, Dorothy aus dem „Zauberer von Oz“ und Wendy Darling, die
       Freundin von „Peter Pan“. Was dann folgt, ist alles andere als jugendfrei.
       
       Die drei tauschen sich ausführlich über ihre sexuellen Erfahrungen aus und
       kommen sich näher – in jeglicher Hinsicht. Moore selbst bezeichnet sein
       Werk freimütig als pornografisch. Der Autor, der sich mit [2][Titeln wie
       „Watchmen“], „V wie Vendetta“ oder „The League of Extraordinary Gentlemen“
       einen Platz im Comic-Olymp sicherte, habe einen Plot verfassen wollen, der
       anstelle von Gewalt Sex in den Fokus rücke und der Menschen aller sexuellen
       Orientierungen gleichermaßen anregen sollte, so heißt es in einer
       Besprechung im Spiegel aus dem Erscheinungsjahr.
       
       Dass sich das norwegische Duo Lost Girls, das die Sängerin und Autorin
       Jenny Hval gemeinsam mit ihrem langjährigen Livemusiker, dem
       Multiinstrumentalisten Håvard Volden bildet und das kürzlich sein
       Debütalbum „Menneskekollektivet“ herausgebracht hat, nach ebendiesem Buch
       benannt hat, könnte einige Erwartungen wecken. Hval und Volden kommen
       diesen keineswegs nach und wahrscheinlich geht es genau darum: Erwartungen
       nicht zu erfüllen. Bei der Musik der Lost Girls wie im Comic über die Lost
       Girls.
       
       Im Vergleich zu ihrem literarischen Vorbild sind die Texte auf
       „Menneskekollektivet“ jedenfalls ziemlich unerotisch. Oder kommt es nur
       darauf an, was unter Erotik verstanden wird? Können Buchstaben erotisch
       sein? Vokale? Ein Y? „I cannot distinguish a ‚Y‘ from a thigh“ – so lautet
       einer der herrlich seltsamen Sätze, die Hval auf dem titelgebenden Stück
       über sphärische Synthesizerklänge spricht.
       
       ## Zum Dasein als Frau, zum Menstruieren, zum Gebären
       
       Von ihren Soloalben kennt man die Avantgardepopmusikerin eigentlich anders,
       konkreter, politischer. In ihren Texten bringt sie dort oft feministische
       Theorie, Kapitalismuskritik, persönliche Beobachtungen zum Dasein als Frau,
       zum Menstruieren, zum Altern, zum Gebären, zum Lieben, zum Verlangen so
       klug und humorvoll zusammen, dass es allein schon ein Vergnügen ist, diese
       zu lesen.
       
       Was jetzt keinesfalls heißen soll, die Musik anzuhören lohne sich nicht.
       [3][2019 erschien Hvals jüngstes Album „The Practice of Love“]. Auch Romane
       schreibt sie, „Girls against God“ kam im vergangenen Jahr auf Englisch
       heraus.
       
       Als Teil der Lost Girls gibt sich Hval offenbar eher surrealistischen
       Formen des Schreibens als einer Agenda hin – und zitiert in „Losing
       Something“, einem düsteren Glamrock-Synthie-Bedroompop-Hybrid, ausgerechnet
       aus dem von einem Computerprogramm geschriebenen Prosabuch „The Policeman’s
       Beard is Half Constructed“ (1984).
       
       Musikalisch sind Hval und Volden als Duo eingespielt, das ist dem Album
       anzuhören. 2012 haben sie als Nude on Sand eine Reihe bluesiger, folkiger,
       aber eigentlich jenseits aller Genregrenzen dahinmäandernder Songs
       veröffentlicht. 2018 folgte die EP „Feeling“, als Lost Girls, bestehend
       lediglich aus zwei sperrigen Songs, der eine 11, der andere 13 Minuten
       lang.
       
       ## Türen als Bild für die Musik der Lost Girls
       
       Mit klassischen Popsongs haben auch die fünf Stücke des neuen Albums nichts
       zu tun, eher mit Skizzen oder Studien – was durchaus positiv gemeint ist.
       Sie klingen so, als hätten Hval und Volden noch bei der Aufnahme an ihnen
       herumimprovisiert, sich gegenseitig immer neue Türen öffnend.
       
       Eine Tür öffnet Hval in „Menneskekollektivet“ auch den anklopfenden Zeugen
       Jehovas, um sich dann vor diesen stehend wieder ihren Gedanken hinzugeben:
       „What is human, is human, an 'I’? / A non-‚‘I’? A selfless action? / Can
       you ever really say you are knocking on a door as a selfless act?“ und „You
       knock on the door because you believe in the concept of a door, and of
       conviction, preaching, ‚spreading the good word‘.“
       
       Türen sind überhaupt ein gutes Bild für die Musik der Lost Girls, für ihr
       Album, das einem immer wieder entwischt, wenn man denkt, man hätte es
       erfasst. Sie klopfen an unzählige Türen, knallen sie hinter sich zu, laufen
       im Zickzack zwischen ihnen hin und her, fast könnte einem schwindelig auf
       diesem Trip werden, fast.
       
       13 Apr 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Beate Scheder
       
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