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       # taz.de -- Demo mit Michel Friedman in Klütz: Ein geladener, ungebetener Gast
       
       > Nach seiner Ausladung kommt Michel Friedman erst recht ins
       > mecklenburgische Klütz. Der Besuch wird zu einer Übung in demokratischem
       > Diskurs.
       
   IMG Bild: Debattenforum auf Kopfsteinpflaster: der Klützer Markt
       
       Klütz taz | „Ich bin gern hier und ich freue mich, Sie alle und die Stadt
       Klütz kennenzulernen“, sagt Michel Friedman von einer mobilen Bühne herab
       in die Menge. Und nach einer Kunstpause: „Ich wollte ja im nächsten Jahr
       ohnehin herkommen.“ Nur eben nicht so, zu einer Protestkundgebung in
       eigener Sache, organisiert von der Autorenvereinigung PEN Berlin.
       
       Schließlich hatte er für 2026 eine Einladung, vom Literaturhaus Uwe
       Johnson, dessen heller Backstein im Hintergrund in der Abendsonne golden
       leuchtet. Das fand Friedman interessant; ihn erstaunte, dass ein Städtchen
       mit 3.000 Seelen überhaupt ein Literaturhaus hat. Und ihn reizte der
       Anlass: die Hannah Arendt Tage, im Geiste der jüdischen Philosophin, die
       mit dem Namensgeber Uwe Johnson befreundet war.
       
       [1][Doch dann hatte Friedman plötzlich auch eine Ausladung]. Die
       Stadtvertreter:innen hatten befunden, dass der bekannte jüdische
       Publizist eine Nummer zu groß für die Kleinststadt sei. Der Leiter des
       Literaturhauses wurde vom Bürgermeister zurückgepfiffen, musste die
       Einladung zurückziehen.
       
       Die Gründe dafür werden auch an diesem Abend nicht ganz klar, wie schon die
       vergangene Woche über. Ein Stadtvertreter beteuert einmal mehr, es seien
       allein die finanziellen Risiken eines derart prominenten Besuchs gewesen,
       vor denen die klamme Stadt zurückgeschreckt sei. Literaturhaus-Leiter
       Oliver Hintz, der gemeinsam mit Friedman auf der Bühne steht, hält dagegen,
       er habe in der Ratssitzung deutlich gemacht, dass Friedmans Auftritt
       komplett über Drittmittel finanziert würde.
       
       ## Es geht ums liebe Geld
       
       Aber was macht einen Auftritt von [2][Michel Friedman] eigentlich so teuer?
       Bei der Gage wäre Friedman der Stadt weit entgegengekommen, so Hintz. Doch
       die Stadtvertreter:innen trieb noch eine andere Sorge um: Was würde
       die Security kosten, wenn es Proteste gegen Friedmans Auftritt geben
       sollte, seien es nun Hamas-Sympathisanten oder Neonazis? Zumindest Letztere
       gibt es nicht weit von Klütz entfernt durchaus.
       
       Es ist dieser Gedankengang, der das Ganze zu einer Frage der Freiheit
       macht. [3][Der Meinungs- und Kunstfreiheit]. Aber auch ganz basal der
       Freiheit, sich in Deutschland zu bewegen. Wenn jüdische Menschen ausgeladen
       werden, weil es zu aufwändig scheint, sie vor Antisemiten zu schützen, ist
       die Demokratie in Gefahr. Das hat die [4][PEN-Leute] um Deniz Yücel
       bewogen, die Kundgebung abzuhalten. Und darüber gibt es an diesem
       Herbstabend auch keinen Dissens.
       
       Über die Frage, ob das wirklich so war, hingegen schon. Und der wird offen
       ausgetragen. Es gelingt etwas Erstaunliches: Der Markt, abgesperrt mit
       einen Trecker und einem Kipplader, wird zu etwas, das die Moderatorin, die
       Autorin Thea Dorn, später mit der altgriechischen Agora vergleichen wird.
       Ein Debattenforum auf Kopfsteinpflaster, bei dem jede:r die Chance hat, zu
       Wort zu kommen. Zwei Mikrofone wandern durch die Menge. Es werden zwei
       Stunden konzentrierter und fast immer zivilisierter Debatte.
       
       Ein paar hundert Menschen sind da. Viele sind, vor allem aus den
       umliegenden Gemeinden, gekommen, um Friedman zu unterstützen. Einige sind
       einfach Freunde des Literaturhauses, andere treibt ihr politisches
       Engagement her. Sie tragen Regenbogen- und IG-Metall-Fahnen oder Westen der
       Omas gegen Rechts.
       
       ## Klütz gibt sich weltoffen
       
       Eine Zeit lang sieht es aus wie eine gespaltene Stadt: Am anderen Ende des
       Marktes haben sich viele Klützer Bürger:innen aufgestellt, als würden
       sie den Schutz der herausgeputzten Hausfassaden suchen. Sie beobachten das
       Spektakel skeptisch. Schon am Vortag haben sie ihre Stadt mit Schildern
       gepflastert wie „Klütz weltoffen + tolerant“, „Für Demokratie“, „Wir stehen
       zu demokratischen Meinungsbildungsprozessen“ und „Für unseren Bürgermeister
       und unsere Stadtverordneten“. Dazu jede Menge Herzchen, manchmal auch
       einfach mit den Worten „unser Klütz“.
       
       Sie fühlen sich durch die republikweite Berichterstattung über Friedmans
       Ausladung in eine Ecke gedrängt. In die rechte Ecke. Dabei gebe es in Klütz
       nicht einen einzigen AfD-Stadtvertreter, heißt es immer wieder. Als jemand
       sagt, der Bürgermeister solle sich doch einfach für seinen „Fehler“
       entschuldigen, buhen sie ihn aus und skandieren „Jürgen, Jürgen!“
       
       Doch Bürgermeister Jürgen Mevius von der Unabhängigen Wählergemeinschaft
       hat am Freitag seinen Rücktritt angekündigt. Nach 30 Jahren ehrenamtlicher
       Kommunalpolitik hat der 71-Jährige genug. Als letzten Dienst an seiner
       Stadt hat er die Stadtvertreter bekniet, nicht kollektiv hinzuschmeißen.
       
       Allmählich wagen sich auch seine Unterstützer:innen ein paar Schritte
       nach vorn ans Mikrofon. Sie loben den Mann, der zum Wohle der Stadt auf
       seine Aufwandsentschädigung verzichtet habe und einst, als es um die
       Aufnahme von Geflüchteten ging, als einziger Bürgermeister in der Gegend,
       gesagt habe: Wir können das, wir haben Platz. Und nun? Was soll aus der
       Stadt werden, wenn keiner den Job mehr machen will? Und ist damit der
       Demokratie gedient?
       
       ## Symptome eines klammen Haushalts
       
       Was sich in Klütz abspielt, ist auch ein Symptom zerrütteter
       Kommunalfinanzen. Die winzige Stadt mache jedes Jahr Millionenschulden,
       brauche Sanierungshilfen vom Land, sagt einer. Zum jährlichen Fest der
       Vereine backe die Frau des Bürgermeisters den Kuchen, um Geld zu sparen.
       Dass die Stadt sich das Literaturhaus leisten könne, sei eigentlich ein
       Wunder, meint ein anderer.
       
       Da kommt nicht so gut an, was die eigens angereiste Kulturministerin
       Bettina Martin (SPD) zu sagen hat, die die Ausladung von Friedman umgehend
       per Pressemitteilung kritisiert hatte. Jetzt sagt sie: „Es geht nicht, das
       Politik sich einmischt, wenn eine Kulturinstitution jemanden einlädt.“ Dann
       müsse sie die Kultur eben auch auskömmlich finanzieren, entgegnet jemand.
       
       Am Ende ist kein Konsens gefunden. Viele bleiben unbefriedigt, weil die
       Gründe für Friedmans Ausladung immer noch nicht geklärt sind. „Hier sagt
       niemand die Wahrheit“, urteilt gar Michael Bouteiller, früher
       SPD-Bürgermeister im nahen Lübeck.
       
       Aber immerhin sind Standpunkte ausgetauscht. Vielleicht ist das schon mal
       ein Anfang, eine Übung in demokratischer Debattenkultur. Michel Friedman
       hat auch schon eine Idee, wie es damit weitergehen könnte: „Vielleicht
       werde ich ja wieder eingeladen.“ Es klingt, als würde er kommen.
       
       Transparenzhinweis: Im Text war von einem „Beschluss“ der Stadtverordneten
       vor Friedmans Ausladung die Rede. Tatsächlich hatte nur eine informelle
       Konsultation stattgefunden.
       
       30 Sep 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Abgesagter-Friedman-Auftritt-in-Kluetz/!6111570
   DIR [2] /Michel-Friedman-tritt-aus-der-CDU-aus/!6066454
   DIR [3] /Die-Probleme-der-Kunstfreiheit/!6104796
   DIR [4] /PEN-Berlin/!t6057735
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Kahlcke
       
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