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       # taz.de -- Der Ursprung des Detroit-Techno: „Clear your mind“
       
       > Ein Ex-GI, ein Synthesizer, die Detroit Riots und leere Fabrikhallen: Das
       > Duo Cybotron entwickelte Anfang der 1980er die Blaupause für Techno.
       
   IMG Bild: Hartes Pflaster: Detroit, die Heimatstadt der Cybotron, Rik Davis und Juan Atkins.
       
       Rik Davis hat den Nachmittag damit zugebracht, Bäume in die Luft zu jagen.
       Vom Hubschrauber ausgespuckt, hockt der Marine in einem Bombenkrater,
       nördlich von Dong Ha, nahe der entmilitarisierten Zone in Südvietnam. Es
       ist 1968. Und keiner weiß, wo Grenzen beginnen und Geheimoperationen enden.
       
       Davis trägt ein verchromtes M-16-Sturmgewehr. Er benutzt C4-Sprengstoff, um
       seinen Kakao zu erhitzen, und hat eine Broschüre mit grinsenden
       Cheerleaders und Softdrink-Logo dabei. Auf der Rückseite prangt das Foto
       eines B-52-Bombers. Dieses Instrument der psychologischen Kriegführung ist
       Teil der US-Army-Aktion „Offene Arme“ und soll die Vietcong dazu bringen,
       sich zu ergeben und aufseiten der Amerikaner zu kämpfen.
       
       Falls das Versprechen auf Mädchen und Cola nicht Anreiz genug ist, um die
       Kids aus dem Dschungel zu locken, helfen vielleicht gefälschte Tonaufnahmen
       von toten Vorfahren: sie heulten aus Lautsprechern, die an Rucksäcken
       angebracht waren.
       
       Davis’ Erinnerungen an seinen Kampfeinsatz sind ähnlich trügerisch. Beim
       Telefoninterview, das ich mit dem Gründer des Elektronikduos Cybotron
       führe, fasst der 63-Jährige seine Eindrücke mit einem Satz aus H. P.
       Lovecrafts fantastischen Roman „Das Grauen von Dunwich“ zusammen: „I wonder
       what I’ll look like when the planet is cleared off.“
       
       ## Invalidenrente für den Arp-Synthesizer
       
       Nach seiner Entlassung investierte Davis seine Invalidenrente in einen
       Arp-Synthesizer. Ein später Triumph von einem, der die eine Hälfte seiner
       Jugend bei Straßenkämpfen in Detroit zugebracht hatte und die andere Hälfte
       im vietnamesischen Dschungel unter Beschuss geriet, während er sich
       Blutegel vom Bein pflückte.
       
       Zur selben Zeit war ein Junge namens Juan Atkins im Detroiter Vorort
       Belleville völlig von den Socken, wenn er erlebte, was seine Großmutter
       alles aus einer Hammond-M3-Heimorgel herausholen konnte. Der Elfjährige
       wandelte mit dem Motorradhelm seines Vaters auf dem Kopf durchs Haus: ein
       Funkastronaut, der ein Starchild werden wollte.
       
       Atkins und Davis trafen sich erst 1980 bei einem Elektronikseminar in Ann
       Arbor. „Ich hatte das untrügliche Gefühl, ihn zu kennen, obwohl ich dem Typ
       nie zuvor begegnet war“, sagt Atkins. Ihre Musikgeschmäcker ergänzten sich
       gegenseitig. Atkins war der Teenager, der auf den Funk von Parliament
       abfuhr, und Davis ein schwarzer Vietnamveteran aus Detroit, der in den
       Plattenläden nach Alben von Tangerine Dream suchte.
       
       Nach seiner Rückkehr aus Vietnam vertiefte sich Davis in den Soul der Dells
       und ihre satten, von dem Chicagoer Produzenten Charles Stepney komponierten
       Arrangements, um Schmerz und Entfremdung zu kompensieren.
       
       Als er Davis das erste Mal zu Hause besuchte, glaubte Atkins, ein
       Raumschiff zu besteigen. „Es war helllichter Tag, aber die Wohnung war
       verdunkelt. Licht spendeten nur die Positionslampen von Keyboards. Sie
       hatten LED-Leuchten. Es sah aus wie in einem Cockpit.“
       
       Davis hatte bereits die Single „Methane Sea“ veröffentlicht. Benannt nach
       der Brennstoffquelle, die die Erderwärmung befeuert. Der Song war eine
       elektronische Tracht Prügel. Davis bezeichnet seinen Sound als
       „psychedelischen New-Age-Trip, inspiriert vom Ende der Welt, Jim Jones und
       einem Meer blutiger Körper.“ Kurz: den Abendnachrichten.
       
       Cybotron manövrierten ihre Synthesizer durch eine Stadt, deren Wohlstand
       von Fließbändern abhängig war. Sie waren ein Mittelding zwischen
       Teilchenbeschleuniger und Robotern, die Handarbeit überflüssig machen,
       vielleicht sogar den ganzen Menschen.
       
       ## Eher Kraftwerk als Discofunk
       
       Der erste Track, den Cybotron auf ihrem eigenen Label Deep Space
       veröffentlichten, hieß [1][„Alleys of Your Mind“]. Seine Musik erinnert
       eher an die frühen Kraftwerk als an Discofunk. Für Rik Davis war „Alleys of
       Your Mind“ eine Ode über den Bankrott Detroits. „Wo ich aufwuchs, steht
       kein Stein mehr auf dem anderen. Das Viertel gibt es nicht mehr, die
       Schulen sind geschlossen. Meine Kindheit ist ausgelöscht.“
       
       „Alleys of Your Mind“ war der Soundtrack für Samuel R. Delanys „Dhalgren“.
       Jenen Science-Fiction-Roman, angesiedelt in einer apokalyptischen
       Metropole, der oft als Beschreibung Detroits in den sechziger Jahren
       gelesen wird. „Wir bewohnten eine Stadt, in der Auswirkungen der
       Technologisierung unmittelbar im Leben der arbeitenden Bevölkerung spürbar
       wurden“, so Atkins.
       
       Die Textzeile „Tomorrow is a brand new day“ aus dem Cybotron-Song „Clear“
       klingt nach Bedrohung, aber die Detroiter Kids tanzten dazu wie entfesselt.
       „Clear“ war ein Flächenbombardement, eine Geheimgeschichte der Zerstörung,
       vergraben in einem Song, der naiv daran glaubte, dass es „unsere Aufgabe
       ist, die Erde zu retten“ („Earth is ours for us to save“).
       
       ## Das Konzept: Lösch das alte Programm
       
       Davis sagt: „Den, der die Welt zerstört, musst du umarmen. Nur so kann man
       überleben. Die Hippies dachten, so wie es war, würde es immer bleiben. Wenn
       du Vietnam durchgemacht hattest und zurückgekehrt bist, hast du
       festgestellt, dass alles, was es vorher gab, zerstört war: deine Jugend –
       futsch. Dein Platz im Leben – weg. Diese Erkenntnis war schockierend.“
       
       Das Finale von „Clear“ enthält eine positive Bemerkung, die übersehen
       wurde: „Out with the old / In with the new.“ Das Neue ersetzt das Alte. „Es
       war aus der Radioversion gelöscht. Das war im Grunde genommen das Konzept
       unseres Albums: Lösch das alte Programm. Technologische Revolution,“ sagt
       Atkins.
       
       „Was am Ende von ’Clear‘ passiert, bleibt bewusst unscharf“, sagt Davis.
       „Spiel es drei Leuten vor, und jeder wird etwas anderes wahrnehmen.“ Klar
       war aber, dass verlassene Fabrikgebäude in Detroit ideale Partylocations
       abgeben: Die Clubs, in denen der Song gespielt wurde, hießen Shari Vari
       oder Lipstick. „Clear“ passte perfekt zwischen Tracks von Kraftwerk und
       Debbie Deb, zwischen automatisierte teutonische Klarheit und die
       Konsumzügellosigkeiten einer Mall in Miami. Der Song markiert die Geburt
       des Detroit-Techno.
       
       Im Gespräch mit Davis wird klar, dass „Clear“ für ihn alles andere als
       „Clubsound“ bedeutete, die Musik sollte Platz in seinem Kopf schaffen. „
       ’To clear‘ hat auch eine militärische Bedeutung“, sagt er. Ein Gebiet zu
       sichern, kann bedeuten, ein Dorf auszulöschen.
       
       Davis’ Entscheidung, nach Vietnam zu gehen, hatte nichts zu tun mit
       gottlosem Groll gegen den Kommunismus. Durch die Army kam er raus aus
       Detroit, konnte die Unruhen von 1967 hinter sich lassen, während deren die
       Stadt in Schutt und Asche gelegt wurde.
       
       ## „Wie Sindbad auf den sieben Weltmeeren“
       
       Die Coverkunst von „Enter“ könnte Davis darstellen. Auf der Flucht vor dem
       Menschsein, im Übergang zu verpixeltem Krach, binär werdend, in seinen
       geringelten Socken. Tatsächlich suchte er vor den Riots Zuflucht in der
       Bibliothek, um nicht ausgeraubt zu werden.
       
       Davis fühlte sich mit dem Trickfilmer Ray Harryhausen verbunden, weil sie
       denselben Vornamen hatten. Harryhausen spielte in dem Film „7th Voyage of
       Sindbad“ die Titelrolle. „Du wirst es nicht glauben, aber ich bin zur Army
       gegangen, weil ich genau wie Sindbad auf den sieben Weltmeeren herumsegeln
       wollte.“
       
       Als der 18-jährige Davis an die Front nach Vietnam entsandt wurde, war
       seine Ausgabe des „Grauens von Dunwich“ nicht im Gepäck. Aber bei den
       Marines gab es eine Bibel. 1985 veröffentlichten Cybotron [2][die Single
       „R-9“], eine Single über das Gefangensein im Wort Gottes. Die Musik war
       noch düsterer als „Clear“. „Das Leben ist nicht vom Wort zu trennen“, sagt
       Davis. „Also musst du beides in Einklang bringen, ob du dran glaubst oder
       nicht.“
       
       Seit ihrer Trennung 1985 sind Atkins und Davis unterschiedliche Wege
       gegangen. Atkins reist um die Welt und performt Cybotron-Songs mit seiner
       Band Model 500, um Davis wurde es still.
       
       Für ihn blieb die Textzeile „Clear your mind“ Wunschdenken. „Ich glaube
       nicht, das Ricky Davis aus dem Dschungel zurückgekehrt ist“, sagt er. Am
       Schluss von „Enter“ ist Grillenzirpen zu hören. Es ist die einzige
       Außenaufnahme von Cybotron: einfach ein Mikro aus der Hintertür hängen, mal
       hören, was ein Abend in Detroit so zu bieten hat.
       
       Das Zirpen führte direkt in das, was draußen existiert. Aus
       Hubschraubergeknatter wurden Rufe nach der „lieben Mutter Gottes“ auf
       Spanisch. Du wirst die Geister deiner offiziell inexistenten
       Geheimoperationen nie los. In gewisser Weise ist das auch schön. Denn da
       draußen ist sonst niemand.
       
       A. d. Englischen von Sylvia Prahl
       
       8 Dec 2013
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.youtube.com/watch?v=tbieq_x7zuI
   DIR [2] http://www.youtube.com/watch?v=7xnUzqrlEb4
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dave Tompkins
       
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