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       # taz.de -- Deserteure in der Ukraine: Das Recht, Nein zu sagen
       
       > Männer im wehrpflichtigen Alter dürfen die Ukraine nicht verlassen. Doch
       > das Recht, nicht zu töten, muss auch und gerade im Krieg gelten.
       
   IMG Bild: Ukrainische Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land nicht verlassen. Was, wenn manche nicht kämpfen wollen?
       
       Es sind herzergreifende Szenen. Ein Mann drückt seine kleine Tochter und
       seine Frau, die in einen Bus steigen, um zu fliehen vor dem Angriff
       Russlands, um Kiew, um die Ukraine zu verlassen. Es fließen Tränen, in dem
       Video, das in den sozialen Medien die Runde machte. Der Mann wird bleiben.
       Er muss. Das Land verteidigen gegen den Aggressor. Muss das so sein? Nein.
       
       Allein das archaische Geschlechterbild dahinter sollte zeigen, wie
       rückständig die Idee ist, irgendein Ziel durch Krieg zu erreichen. Frauen
       und Kinder werden in Sicherheit gebracht, während – oder besser gesagt:
       weil – sich Männer die Köpfe einschlagen. Auf Leben und Tod.
       
       Selbstverständlich gibt es ein Recht auf Verteidigung. Das gilt für jede
       angegriffene Person. Und auch für einen Staat wie die Ukraine. Sie darf
       sich mit allem, was sie hat, dem russischen Überfall entgegenwerfen. Aber
       resultiert daraus eine Pflicht zur Verteidigung? Nein.
       
       In der Ukraine aber gibt es sie, wie in vielen anderen Staaten auch. Seit
       dem Angriff Russlands dürfen männliche Staatsbürger zwischen 18 und 60
       Jahren das Land nicht mehr verlassen, um für die Verteidigung herangezogen
       werden zu können. Wer es doch versucht, dem droht die Festnahme. Der
       ukrainische Grenzschutz meldete wiederholt, dass
       [1][Mobilisierungsverweigerer an der Grenze festgenommen] und [2][den
       Militärbehörden überstellt wurden]. Wer Nein sagt, ist illegal. Ein
       Deserteur. In Russland müssen junge Wehrpflichtige in den Krieg ziehen,
       teilweise ohne zuvor darüber informiert worden zu sein. Desertieren wird
       äußerst hart bestraft – russische Deserteure haben darum [3][Anspruch auf
       Asyl in der EU].
       
       ## Muss man da mittaumeln?
       
       Als Pazifist hatte man es in der Ukraine schon vor der Generalmobilmachung
       nicht leicht. Ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung [4][gab es allenfalls
       für Mitglieder kleinerer religiöser Gruppen]. Wer sich bei seiner
       Gewissensentscheidung nicht auf einen besonders rigiden Gott berufen
       konnte, dem blieben nur Tricksereien oder Korruption, um der Einberufung zu
       entgehen. Eine anti-atheistische Absurdität, wie man sie vor allem, aber
       nicht nur in religiös geprägten Staaten weltweit finden kann.
       
       Mit dem Einmarsch der russischen Truppen bleibt ukrainischen Kriegsgegnern
       per Gesetz der Ausweg ins Ausland verwehrt. Sie müssen sich zudem dem
       nationalen Verteidigungstaumel entgegenstellen. Hier geht es schließlich um
       Kiew, um Charkiw, um die Heimat, das Vaterland. Europa. Die Demokratie.
       Diesen heldenhaften Präsidenten im T-Shirt, der die Russen mit
       Selfievideos schlägt. Der mit bewundernswertem Pathos fast die gesamte
       Welt hinter sich versammelt. Aber muss man da mittaumeln? Nein.
       
       Selbst ein gerechter Krieg ist immer noch ein Krieg. [5][Und Soldaten sind
       Mörder]. Immer. Auch im Verteidigungsfall. Denn es gibt immer auch einen
       anderen Weg. Weggehen zum Beispiel. Nein sagen. Desertieren.
       
       Das ist alles andere als verantwortungslos. Jeder, der sich dem Töten
       verweigert, muss sich die Frage gefallen lassen, ob er nicht noch mehr Leid
       zugelassen hat. So wie sich jeder Soldat fragen lassen muss, ob er mit
       seinem Tun tatsächlich Gewalt verhindert hat. Auf dieses moralische Dilemma
       kann es keine allgemeingültige Antwort geben.
       
       ## Kriegsdienstverweigerung ist ein Menschenrecht
       
       Doch wenn niemand Nein sagt, dann werden die Straßenbahnen wie sinnlose
       glanzlose glasäugige Käfige blöde verbeult und abgeblättert neben den
       verwirrten Stahlskeletten der Drähte und Gleise liegen, hinter morschen
       dachdurchlöcherten Schuppen, in verlorenen kraterzerrissenen Straßen. Das
       schrieb [6][Wolfgang Borchert 1947 in seinem „Sag Nein“-Manifest]. Es liest
       sich, als beschriebe er die aktuelle Lage in Charkiw.
       
       Und deshalb ist Kriegsdienstverweigerung ein Menschenrecht. Keins, das in
       der 1948 verabschiedeten UN-Charta verankert wurde. So weit wollten die
       beteiligten Staaten selbst unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg nicht
       gehen. Die größte Sorge eines auf militärische Macht setzenden Regierenden
       lautet: Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin. Ein Deserteur
       allein wird die Welt nicht ändern. Aber Tausende? Millionen? Darin liegt
       die kleine, utopische Chance des Pazifismus – [7][auch wenn er aktuell
       Lichtjahre davon entfernt scheint, ein Comeback zu feiern].
       
       Ist eine solche Debatte in Deutschland überhaupt angemessen? Wenn es um die
       Gewissensentscheidung der Ukrainer geht, sicher nicht. Die kann und muss
       jeder für sich vor Ort treffen. Doch mit der Lieferung von Waffen an die
       Ukraine ist Deutschland längst Kriegspartei. Verteidigungsministerin
       Christine Lambrecht hat bereits über die Einberufung von Reservisten
       nachgedacht. Und mit der aktuell debattierten Wiedereinführung der
       Wehrpflicht würde auch die deutsche Jugend bald wieder vor der
       charakterbildenden Frage stehen: Kriegsdienst mit der Waffe – ja oder nein?
       
       ## Kein Staat darf Menschen zwingen zu töten
       
       In der Bundesrepublik hat Kriegsdienstverweigerung eine kleine Tradition.
       [8][Im Grundgesetz war sie von Beginn an verankert], gesellschaftlich
       akzeptiert wurde sie aber erst nach langen politischen Kämpfen in den
       1970ern und 80ern. [9][Bis Wehrmachtsdeserteure rehabilitiert wurden], hat
       es [10][weitere Jahrzehnte gedauert]. Immerhin hatten sie das Glück, als
       Soldaten im Zweiten Weltkrieg auf der falschen und somit mit ihrer
       Desertion auf der richtigen Seite gestanden zu haben. Andernfalls dürfte
       ihnen bis heute gesellschaftliche Anerkennung verwehrt geblieben sein.
       
       Das Ringen um den Umgang mit deutscher Kriegsgeschichte hat Parteien wie
       SPD und Grüne geprägt. Es war der entscheidende Grund der Bundesregierung,
       so lange wie möglich Nein zu sagen, zu Waffenlieferungen an die Ukraine.
       Auch wenn die Ampel am Ende zu einem anderen Ergebnis gekommen ist, sollte
       sie größtes Verständnis haben für alle, die standhaft bei ihrem Nein
       bleiben. Und das kann nur einen dringenden Appell bedeuten an die
       ukrainische Regierung, alle Kriegsdienstverweigerer umgehend ausreisen zu
       lassen.
       
       Denn kein Staat, nicht einmal der theoretisch perfekte, sollte Menschen
       zwingen dürfen, ihr Leben für ihn aufs Spiel zu setzen. Und erst recht
       nicht, für ihn zu töten.
       
       14 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://twitter.com/DPSU_ua/status/1499395795350523913
   DIR [2] https://twitter.com/DPSU_ua/status/1498926820653256704
   DIR [3] https://www.derstandard.at/story/2000133735902/jeder-russische-deserteur-hat-anspruch-auf-asyl
   DIR [4] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-kriegsdienstverweigerer-101.html
   DIR [5] https://www.textlog.de/tucholsky-kriegsschauplatz.html
   DIR [6] https://www.bo-alternativ.de/borchert.htm
   DIR [7] /Pazifismus-in-Zeiten-des-Krieges/!5837894
   DIR [8] https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_4.html
   DIR [9] /Bundestag-hebt-Urteile-auf/!5156627
   DIR [10] /Rehabilitation-post-mortem/!5168876
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gereon Asmuth
       
       ## TAGS
       
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