# taz.de -- Detlef Diederichsen Böse Musik: Die Zukunft ist mörderisch
> Pop-Chronist*innen müssen sich nicht nur jährlich aufs Neue für die
> aktuelle Musik begeistern, sondern auch die Weltpolitik dazu ins
> Verhältnis setzen.
IMG Bild: „So ist eben die Zeit, in der wir leben“: Weyes Blood
Oh, schon Februar. Dann darf man die Berichtssaison der Pop-Chronist*innen
ja als beendet betrachten. Wie war also 2022 in der Einschätzung der
Kolleg*innen? Kurz zusammengefasst: Musik – hui, Weltlage – pfui. Also
nichts Neues, denn zum selben Ergebnis kommt die Zunft seit … 1979?
Weiter kann ich mich nicht zurückerinnern, aber älter ist das Genre
Pop-&-Politik-Jahresrückblick zumindest in Deutschland auch nicht. Aber das
waren ja auch harte Zeiten: 1979: Thatcher! 1981: Reagan!! 1982: Kohl!!!
Und wie großartig war der Soundtrack dazu. …!
Hat sich diese Dualität all die Jahre behauptet? Neulich fiel mir beim
Aufräumen ein Stapel älterer Pop-Magazine in die Hände, und in der Tat
herrschte auch in – zumindest in meiner Wahrnehmung – politisch eher
weniger auffälligen Jahren wie 2007 oder 2013 Fassungs- bis Sprachlosigkeit
ob der globalen Entwicklung und Begeisterung über die geile neue Musik.
These: Das liegt im Wesen der Sache. Wir Popjournalist*innen müssen
uns politisch einlassen, sonst könnte der Eindruck entstehen, wir
verstünden nur etwas von Musik und also auch davon nichts. [1][Unsere
Haltung ist natürlich antikapitalistisch,] und da gab es schon lange kaum
noch gute Nachrichten.
## Langweilige alte Fürze
Dennoch [2][müssen wir uns begeistert über aktuelle Musik äußern], weil wir
sonst für kulturpessimistisch, retro, BOFs (boring old farts) gehalten
werden könnten. Dass aber nun fast jedes neue Jahr womöglich einen neuen
Scheußlichkeitsrekord aufstellt, ist schon ein bedrückender Gedanke. War
das schon immer so? Oder gibt es da einen Kipppunkt?
Dieser Frage widmete sich schon 1975 der niederländische Schriftsteller Bob
van Laerhoven in der SF-Geschichte „Wandelen rond Kennedy“ (dt.: „Wandel
unter Kennedy“): In einer gänzlich abgerockten Zukunft haben
Wissenschaftler*innen die Zeitenwende eindeutig in den USA der 1960er
Jahre lokalisiert.
Sie könnten diesen Moment aus der Historie auslöschen, aber sie wissen
nicht, ob es nun die Ermordung von John F. Kennedy war oder die von Martin
Luther King. Also schicken sie eine Art Seelenwanderer in die
Vergangenheit, der sich kurz in das Bewusstsein einzelner Menschen in der
Nähe dieser Ereignisse einloggen kann. Nach etlichen traumatischen
Erlebnissen ist sich der Protagonist immer noch nicht sicher, aber er
beendet seine Erzählung mit der Frage: „KENNEDY?“
Kann sein, dass er recht hat, schließlich war 1963 ein traumhaftes Popjahr
(Beatles!). 1968 aber auch … Den dazu passenden Ausblick nach vorne
lieferte jedenfalls [3][Leonard Cohen] 1992 mit dem Album „The Future“, das
er unter dem Eindruck der L.A.-Riots schrieb, während derer ein
protestierender, gleichzeitig feiernder, randalierender und plündernder Mob
bis kurz vor seine damalige Wohnung gekommen war.
## Leonard Cohen im Bett
Im Interview, bei dem er wegen einer Grippeerkrankung mit Pudelmütze im
Hotelbett lag, breitete er mir gutgelaunt seine Weltsicht aus: „Wir werden
uns noch nach Aids und nach Crack zurücksehnen! Die nächsten Seuchen und
Drogen werden viel schlimmer sein.“ Im Refrain des Titelsongs der Platte
fasst er zusammen: „I’ve seen the future/ It is murder“.
Dreißig Jahre sind seitdem vergangen, und allmählich kann man fragen: Hatte
er recht? Geht es nach [4][Weyes Blood], deren Album „And In The Darkness,
Hearts Aglow“ trotz ungünstig spätem Veröffentlichungstermin zu den
Gewinnern der 2022er-Pop-Rückblicke zählt: Ja. In dem Song „The Worst Is
Done“ singt sie: „They say the worst is done / But I think the worst has
yet to come“.
„Einige Leute sagen, oh, das ist so pessimistisch“, erklärt sie im The
Wire-Interview. „Aber ich denke, so ist eben die Zeit, in der wir leben.“
Vielleicht sollten wir uns schon mal ein paar neue pejorative Adjektive
ausdenken, um die Dinge, die da auf uns zukommen, angemessen beschreiben zu
können …
8 Feb 2023
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## AUTOREN
DIR Detlef Diederichsen
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